Da Durchschnittswerte große Unterschiede verbergen können, bedarf der Befund weiterer Differenzierung. Unter dem Gesichtspunkt der programmatischen Fürsorge des Sowjetstaates für die Minderprivilegierten, zu denen die Arbeiterschaft üblicherweise gerechnet wurde, verdient dabei die Einkommensspanne besondere Aufmerksamkeit und unter deren Bestimmungsfaktoren – neben Branche und Region – die Position in der Betriebshierarchie. Zumindest in der letztgenannten Hinsicht deuten alle Angaben darauf hin, dass sich der Abstand zwischen den niedrigsten und den höchsten Verdiensten erheblich verringerte. Ursache dafür waren zwei Lohn- und Gehaltsreformen, die zwar hauptsächlich andere Ziele verfolgten, aber diesen Nebeneffekt ebenfalls im Auge hatten. Das erste Maßnahmenbündel wurde im Wesentlichen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre durchgesetzt, in einigen Bereichen aber auch erst 1964. Es stand im Zeichen der Entstalinisierung und vollzog die erste völlige Neugliederung des Arbeitsentgelts seit den dreißiger Jahren. Leitende Absicht war es dabei, die Vielfalt von Löhnen, Zulagen und Vergünstigungen zu verringern, um dem Grundsatz gleicher Entlohnung für gleiche Arbeit mehr Geltung zu verschaffen. Im Zuge der Umgestaltung wurde der Minimallohn zunächst auf 27–35 Rubel und 1959 auf 40 Rubel angehoben. Brežnev und Kosygin knüpften durch die erwähnte Wirtschaftsreform von 1965 an diese Initiative an. Allerdings wurde davon im Januar 1968 nur eine als Abfederung gedachte weitere Erhöhung des Minimallohns auf 60 Rubel Wirklichkeit, der 1978 eine letzte auf 70 Rubel folgte. Die leistungsbezogene Prämierung aus neu zugelassenen betrieblichen Gewinnrücklagen, die zu größerer Differenzierung hätte führen müssen, setzte sich dagegen nicht durch. Auch eine bis 1970 geplante allgemeine Anhebung der Entgelte für die mittleren Lohn- und Gehaltsgruppen blieb, wohl aus Inflationsfurcht, ein toter Buchstabe. Zugleich hielt man an der seit Chruščev geübten Praxis fest, die oberen Gehälter ‹nachgerade einzufrieren›. Mithin verringerte sich der Abstand zwischen dem Handlanger (als Repräsentanten der untersten Lohnkategorie) und seinem Chef erheblich: Das unveränderte höchste Direktorengehalt in der Industrie von 450 Rubel monatlich entsprach 1960 dem 11-fachen des Mindestlohns, 1975 nur noch  dem 6,5-fachen. Obwohl die Egalisierungspolitik zu dieser Zeit ihren Zenit schon überschritten hatte, fand eine Umkehr nicht mehr statt. Die Spannweite industrieller Löhne und Gehälter blieb deutlich unter der Differenzierung amerikanischer (und anderer westlicher) vergleichbarer Einkommen.[14]

Freilich darf daraus nicht vorschnell auf eine tatsächliche Gleichheit der Lebenslagen und -chancen geschlossen werden. Zum einen blieb das Gefälle zwischen den Branchen erheblich. Die höchsten Löhne und Gehälter wurden sowohl 1955 als auch zwanzig Jahre später im Bergbau, gefolgt von der Metallverarbeitung gezahlt. Das Schlusslicht bildeten die Nahrungsmittel- und die Bekleidungsindustrie. Mitte der siebziger Jahre betrug der Abstand zwischen diesen Extremwerten immerhin 98 Prozentpunkte (Durchschnitt = 100). Die Angehörigen der unteren Lohngruppen der schlecht zahlenden Branchen befanden sich mithin schon im Normalfall, ohne Krankheit oder sonstige außergewöhnliche Belastungen, am Rande der Armut. Am offiziellen Kriterium eines monatlichen Pro-Kopf-Einkommens von 50 Rubel gemessen, überschritten 1967 37,7 % der Individuen und 32,5 % der Familien diese Grenze. Einfache Büroangestellte erhielten 45–60, Kassierer 50, Schuhmacher 46–55, Näherinnen 46–50, Wäscherinnen 46–55 und Ladenangestellte (Verkäufer) 55 Rubel im Monat. Es ist offensichtlich, dass viele dieser Tätigkeiten von Frauen ausgeübt wurden, die im Durchschnitt um ca. 40 % schlechter bezahlt wurden. Angesichts der überaus hohen weiblichen Erwerbsquote dürften diese Entgelte daher oft Zweitverdienste gewesen sein. Doch blieben genug Sowjetbürger außerhalb der Landwirtschaft übrig, die von einem solchen Lohn oder Gehalt allein leben mussten. Nimmt man die Gruppen ohne Arbeitseinkommen im engeren Sinne (vor allem Pensionäre und Studenten) hinzu, so verwundert die Feststellung nicht, dass selbst auf dem Höhepunkt der Nivellierungsmaßnahmen 1967/68 eine «erhebliche städtische Armut» erhalten blieb. Da der Sowjetstaat – nicht zuletzt infolge finanzieller Zwänge – die Hilfe für die Unterschichten mit Beginn der nächsten Dekade verringerte, nahmen sowohl die materielle Bedürftigkeit als auch die Spanne zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommen wieder zu. Der ‹tendenzielle Fall der Profitrate›, der spätestens gegen Ende des zehnten Fünfjahresplans ironischerweise die Sowjetwirtschaft und nicht den Kapitalismus traf, tat ein Übriges. So stieg zwar nicht die absolute Armut im Sinne der Entbehrung des Nötigsten zu, aber die Ungleichheit. Und der erste und größte sozialistische Staat der Welt entfernte sich immer weiter von einem seiner ideologischen Kernziele, der Harmonisierung der Gesellschaft als Antithese zur ‹kapitalistischen Klassenspaltung›.[15]

Angesichts ihrer Zählebigkeit spiegelten sich die Lohn- und Gehaltsunterschiede in vielen Aspekten der Lebensführung. Auch dazu hat die sowjetische Soziologie trotz ihrer späten Entwicklung Daten erhoben. Kaum überraschend zeigen sie bei den materiellen Grundlagen dieselbe Korrelation zwischen Einkommen und Alltagsumständen wie in den westlichen Gesellschaften. So ergaben Umfragen über das Konsumverhalten in Moskau, dass der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und Wohnung mit steigender Verfügungsmasse abnahm; zugleich wuchs der Anteil für Kleidung, Möbel und «andere Ausgaben» einschließlich der Ersparnisse. Andererseits war Wohnraum so knapp, dass auch Besserverdienende zu jenen 77,2 % aller in Moskau, Leningrad, Tbilisi und Pavlovo-Posad (einer Kleinstadt nahe Moskau) befragten Familien gehört haben müssen, die sich auf 7 m2 pro Person bewegen mussten; je 11,4 % standen 7–9 bzw. mehr als 9 m2 zur Verfügung. Arme Familien besaßen weniger Telefone, Bücher, Autos und Badezimmerutensilien als bessergestellte. Dabei entsprach die auffallende einkommensabhängige Staffelung im Vergleich etwa zu parallel erhobenen amerikanischen Daten dem Knappheitsgrad und hohen Preis der Güter. Erst der Massenkonsum löste diese Korrelation auf. Alle Erhebungen belegten im Übrigen die Vermutung, dass der sowjetische Arbeiter auch nach zwanzig Jahren friedlicher Entfaltung des Sozialismus und einem – nach Maßstäben des Landes – beispiellosen materiellen Aufstieg noch «in fast jeder Hinsicht … ein großes Stück» hinter seinem «amerikanischen Pendant» zurücklag. Weder die letzten Jahre der Brežnev-Ära noch die Perestrojka änderten Wesentliches daran. Im Gegenteil, der fortschreitende wirtschaftliche Niedergang spricht eher für die Annahme, dass sich der Abstand noch vergrößerte.[16]

Tiefgreifende Neuerungen brachte die Chruščev-Ära auch am Arbeitsplatz. Allem voran musste die von Stalin verfügte Militarisierung der Arbeit wieder zivilen Verfahrensweisen weichen. Wenn die Einsicht praktisch werden sollte, dass produktives Engagement nur durch Überzeugung zu begründen sei, musste der äußere Druck in Gestalt der Kriminalisierung von Disziplinarvergehen und der Zwangsrekrutierung (orgnabor) weichen. Im April 1956 hob der Oberste Sowjet die drakonischen Strafbestimmungen vom Oktober 1940 (die aber schon zuvor nur noch in Ausnahmefällen angewandt worden waren) förmlich auf. Arbeiter konnten wieder kündigen und ihren Arbeitsplatz wechseln. Im Januar 1957 folgte eine allgemeine Neuregelung, die auch die gründliche Novellierung des Arbeitsstatuts vom Juli 1970 überdauerte. Verspätungen, unerlaubtes Fehlen, Trunkenheit und sonstige, verbreitete Formen der Arbeitsverweigerung wurden zwar weiterhin geahndet, bei illegalem Arbeitsplatzwechsel bis 1960 sogar durch den Verlust von Ansprüchen auf nichtmonetäre Vergünstigungen wie Betriebswohnungen, besonderen Zugang zu Nahrungsmitteln und anderem mehr. Aber sie galten nicht mehr als strafrechtliche Delikte, sondern als bloße disziplinarische Vergehen. Statt der berüchtigten Viertelstunde konnte ein Arbeiter nun einen ganzen Tag fehlen, ehe die Unternehmensleitung einschritt. Entlassungen waren nur in schweren Fällen bei systematischer Regelverletzung möglich. Auch eine Berufungsinstanz wurde in Gestalt von Schlichtungskommissionen (nach Art ähnlicher Einrichtungen während der NEP) wiederhergestellt.[17]

Hinzu kam ein neues Gewicht der Gewerkschaften. Schon seit Stalins Tod waren aus dem Munde der alten Funktionäre – namentlich von Švernik als Vorsitzendem des Zentralen Exekutivkomitees – lange Zeit verpönte Worte zu hören. Von ‹Lohnpolitik› war ebenso wieder die Rede wie von den ‹Interessen der Werktätigen› in einem anderen Sinne als obrigkeitlicher Verordnung. Eine förmliche Neuregelung aber konnte ebenfalls erst nach dem 20. Parteitag vorgenommen werden. Ende Dezember 1957 verabschiedete das ZK einen Grundsatzbeschluss, der den Gewerkschaften im Wesentlichen wieder die vorstalinistischen Funktionen zuwies. In der bekannten Leninschen Formulierung sollten sie wieder zum ‹Transmissionsriemen› zwischen Partei bzw. Staat und Arbeiterschaft werden, sich als ‹Schule des Kommunismus› verstehen und ihre Klientel nicht zuletzt das richtige Arbeitsverhalten lehren. Eine solche Rolle war gewiss nicht als unabhängige Interessenvertretung der Werktätigen gedacht. Selbstverständlich ging Chruščev wie alle seine Vorgänger davon aus, dass die Arbeiter keine eigene Organisation bräuchten, weil sich der ‹proletarische Staat› aller Sorgen annahm. Dennoch setzte schon die neue Form der Mitwirkung ein Maß an Kompetenzen voraus, das in der stalinistischen Autokratie kaum denkbar war. In den Betrieben sollten Gewerkschaftsvertreter gemeinsam mit der Leitung an den «Ständigen Produktionsberatungen» (ab Juli 1958) teilnehmen; auf höchster Ebene wurden sie Partner des Staatskomitees für Arbeit und Löhne beim Ministerrat, das die einschlägigen Eckwerte zentral festlegte. Dem entsprachen konkrete, für jedermann fühlbare Veränderungen, die an die späten zwanziger Jahre erinnerten. Offiziellen Angaben zufolge sank die Arbeitszeit von durchschnittlich 7,96 Stunden an sechs Arbeitstagen in der Woche (die 40-Stunden-Woche war von Stalin offiziell 1940 wieder eingeführt worden) im Jahre 1956 auf 6,93 Stunden 1962. Bei einem verkürzten Samstag addierten sie sich zu ca. 41 Wochenstunden.[18]

Dennoch blieb auch diese Reform unvollständig und zaghaft. Chruščev beseitigte zwar den äußeren Zwang, konnte ihn aber nicht durch innere Anreize ersetzen. Die stützenden Aufgaben, die den Gewerkschaften im Übergang zum nachstalinistischen «entwickelten Sozialismus» zugeschrieben wurden, überwogen bei weitem. Neben der Partei und den Zwangsorganen (Armee, KGB) wuchsen sie zu einer tragenden Säule des Gesamtsystems heran. Dies wirkte sich schon mittelfristig zu Lasten der Arbeiterschaft aus. Die Arbeitszeitverkürzung erstreckte sich angesichts kurzer Urlaubszeiten nicht auf das ganze Jahr; das Lebensniveau stieg nur langsam, und die Arbeitsbedingungen (Sicherheit, Hygiene) verbesserten sich kaum. Dazu trug der Umstand maßgeblich bei, dass die zu Beginn der neuen Ära unternommenen Versuche, materielle Anreize in der überkommenen Planwirtschaft zu verankern, fehlschlugen. Der Teufelskreis von schlechter Bezahlung und schlechter Arbeit konnte nicht durchbrochen werden. Die dürftige Ausstattung der Werkbänke, mangelnder Schutz und veraltete Technik hemmten die Produktivität und förderten die Fluktuation; diese und andere Faktoren drückten die Gewinne und verhinderten in Verbindung mit Funktionsmängeln des Gesamtsystems die Verbesserung der technisch-organisatorischen Voraussetzungen für effizientere Arbeit. Wo sich aber Anstrengung nicht lohnte, wurde sie gar nicht erst investiert, zumal der Alltag angesichts des allgegenwärtigen Mangels schwer war und ebenso viel Zeit wie Kraft kostete. Bemerkenswerte 73 % der Arbeiter(innen) von fast 800 Betrieben der Moskauer Region fanden laut einer Umfrage aus den letzten Jahren der Brežnev-Ära Zeit, ihren Arbeitsplatz vorübergehend zu verlassen, um private Besorgungen zu erledigen. Man braucht gar nicht die bekannt häufigen Ausfälle wegen übermäßigen Alkoholgenusses zu bemühen, um den ironischen Kommentar bestätigt zu finden: ‹Wir gaben vor zu arbeiten, und sie gaben vor, uns zu bezahlen.› Dabei trifft der Aphorismus auch darin ins Schwarze, dass er das Wissen um den gegenseitigen Betrug und seine Hinnahme voraussetzt. Die «Kultur des Hintergehens» pflegten beide Seiten, aber nicht nur zum Nachteil des Staates, wie gewollt oder stillschweigend hingenommen, sondern auch zum Nachteil der Arbeiter als Gesamtheit, was jeder Einzelne von ihnen kaum sah.[19]

Bauern  Deutliche materielle Fortschritte hielt der nachstalinistische Sozialismus auch für die Bauern bereit. Zwar galt hier ebenfalls, dass das Ausgangsniveau nach einem Krieg der verbrannten Erde und einem Vierteljahrhundert gewaltsamer Ausbeutung zugunsten der Industrie äußerst niedrig war. Aber Verbesserungen ergaben sich dennoch nicht von selbst, erst recht nicht im bald spürbaren Ausmaß. Antrieb der neuen Sorge um die Bauern war zum einen (wie bei den Arbeitern) die Sympathie Chruščevs für die einfachen Leute, verbunden mit dem Versuch, die Masse für die sozialistische Sache zu gewinnen, zum anderen das chronische Defizit an Nahrungsmitteln. Es lag auf der Hand, dass man zur Hebung der landwirtschaftlichen Produktivität nicht nur Technik, Maschinen und eine effizientere Organisation benötigte, sondern zuallererst sorgfältigere Arbeit. Auch Brežnev trug dieser Einsicht Rechnung. Freilich stießen alle Reformversuche auf unüberwindliche Grenzen. Gerade in diesem Bereich verhinderte das stalinistische Erbe in Gestalt der kollektivierten Landwirtschaft und ihrer Dienstbarkeit gegenüber dem Staat jeden ernsthaften Fortschritt. Darunter hatten nicht zuletzt die Bauern zu leiden. Auch wenn es ihnen besser ging als je zuvor, blieb genug Ursache zur Klage. Weder erreichte die Landwirtschaft eine Ertragskraft, die ausgereicht hätte, um den Bedarf zu decken, noch führten die massiven Investitionen des Staates zum erklärten Ziel, das Leben auf dem Dorf attraktiv zu machen.

Mehrere Indikatoren bieten sich an, um das Ausmaß des Erfolges auf diesem Wege zu bestimmen. Alle haben den Nachteil, recht grob und in ihrer Erhebungsweise kaum nachvollziehbar zu sein. Dennoch gilt auch hier, dass die Übereinstimmung von Tendenzen auf unterschiedlichen Prüffeldern ungefähre Gesamtaussagen hinreichend plausibel begründet. Der erste Blick galt und gilt üblicherweise den Löhnen und sonstigen Einkommen. Dabei ist vorab zu beachten, dass sich die Identität von Landbevölkerung und Bauern im Sinne beruflicher Haupttätigkeit immer weiter auflöste. Die Industrialisierung in ihrer primären Bedeutung als Verlagerung der wirtschaftlichen Produktion von Ackerbau und Viehzucht auf die gewerbliche Verarbeitung von Rohstoffen verbreitete sich auch auf den Dörfern. Vor allem in den sechziger Jahren schmolz das Übergewicht der kolchozniki (von 57,3 Mio. 1959 auf 43,6 Mio. 1970) so weit, dass sie nicht einmal mehr die größte Gruppe der nichtstädtischen Erwerbstätigen stellten. Mit 44,9 Mio. wurden sie von den «Arbeitern und Angestellten» bereits überflügelt. Allem Anschein nach dauerte dieser Vorgang an: Von 97,7 Mio. Dorfbewohnern, die 1981 gezählt wurden, waren nur 11,8 Mio. in der Landwirtschaft beschäftigt. Selbst wenn man Familienangehörige, Rentner und andere Nichtselbständige berücksichtigt, spricht alles dafür, dass die Ansässigkeit außerhalb der Städte immer weniger mit agrarischem Erwerbseinkommen gleichzusetzen war. Auf einem anderen Blatt steht, ob sich deshalb auch das allgemeine Lebensniveau änderte. Nach allem, was man weiß, war dies kaum der Fall.[20]

Bei Schlussfolgerungen aus der Lohnentwicklung ist wie immer die Geldentwertung zu berücksichtigen. Die verfügbaren Angaben erlauben dies nicht immer. Dabei können sie für sich in Anspruch nehmen, dass die zentral festgesetzten und subventionierten sowjetischen Preise relativ stabil blieben. Dennoch sind inflationsbereinigte Daten vorzuziehen. Bei den kolchozniki ist außerdem die überaus schwierige Aufgabe zu lösen, naturale Zuwendungen in Geld umzurechnen und den Erlös aus dem Verkauf privater Produkte abzuschätzen. Mit allen daraus entstehenden Unwägbarkeiten weisen die Zahlen unter Einschluss der Neben- und Naturaleinkünfte und unter Berücksichtigung der Preisentwicklung für die zweieinhalb Jahrzehnte der Chruščev- und des größeren Teils der Brežnev-Ära einen Anstieg der landwirtschaftlichen Löhne von 100.1950 auf 329.1976 aus (vgl. Tab. 56). Im selben Zeitraum erhöhten sich die industriellen Löhne nur auf den Indexwert von 208. Zu ähnlichen Ergebnissen führen Aufstellungen, die den Kaufkraftverlust nicht explizit berücksichtigen oder sich darauf beschränken, jeweils für Stichjahre die Relationen zwischen den Löhnen der verschiedenen Gruppen unselbständig Beschäftigter zu errechnen. Auch sie zeigen (vgl. Tab. A–6 im Anhang), dass sich das Verhältnis zwischen Arbeiter- und Bauerneinkommen vom Tiefstand im Jahre 1950 (100:25) in jedem Jahrzehnt verbesserte. Nachgerade ein Sprung war dabei in den sechziger Jahren zu beobachten (bei einfachen Kolchosmitgliedern von 31 % des Industrielohns 1960 auf auf 57 % 1970). Man darf darin vor allem ein Resultat der Einführung des Festlohns im Mai 1966 sehen. Auch diese Entwicklung belegt, dass Brežnev und Kosygin das Werk ihres Mentors, wenn auch mit anderen Mitteln, fortsetzten. Im Endergebnis, darin stimmen alle Studien überein, schrumpfte die Kluft zwischen agrarischen und industriellen Einkommen erheblich. Gegen Ende des «entwickelten Sozialismus» alter Prägung (1980) betrug er nur noch 35 Prozentpunkte, vielleicht sogar nur 13. Nach dieser Berechnung wäre schon 1977 der Abstand unterschritten worden, der dem vorletzten Bericht der statistischen Zentralverwaltung zufolge 1990 erreicht war (19 %). Manches deutet darauf hin, dass sich im Zuge dieser Entwicklung auch die Struktur der bäuerlichen Einkommen veränderte. Offenbar hatte die Abschaffung der Tagewerke eine Vergrößerung des Anteils aus öffentlicher Entlohnung zur Folge. Noch 1969 stammten nur 37,8 % der bäuerlichen Geldmittel aus der Kolchosarbeit, aber 34,3 % vom privaten Gartenland. Bis 1977 sanken Letztere auf ca. 23 %, während die Tätigkeit auf den Kolchosfeldern nun 56 % einbrachte. Die Zuverlässigkeit der entsprechenden Angaben vorausgesetzt, hielt diese Tendenz bis zum Zerfall der Sowjetunion an; 1990 trug das Privatland nur noch ein Viertel zu den Gesamteinkünften der kolchozniki bei.[21]