Auch die Arbeitsbedingungen verbesserten sich erheblich. Gleich den industriell Beschäftigten bescherte der Aufstieg Chruščevs den Bauern das Ende strafrechtlicher Ahndung von Verstößen gegen obrigkeitliche Anordnungen. An ihre Stelle traten seit 1956 Sozialkontrolle und disziplinarische Maßnahmen. Aber die sonstige ‹zivile› Regularisierung der Arbeitsbeziehungen kam den kolchozniki nicht zugute. Offenbar fürchtete man negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Das neue Kolchosstatut vom 20. März 1956 bestätigte daher den jeweiligen Leitungen die Befugnis, Arbeitszeit und freie Tage nach Maßgabe ihrer eigenen Präferenzen festzulegen. So groß waren die Bedenken gegen zentrale Vorgaben, dass man selbst dreizehn Jahre später, bei dessen letzter Novellierung vom 28. November 1969, vor einem solchen Schritt zurückschreckte. Trotz der Einführung des Festlohns drei Jahre zuvor wagte es die Regierung nicht, auch die übrigen Privilegien der Sowchosen auf die Kolchosen zu übertragen. Nach wie vor kamen die meisten Bauern ebenso wenig in den Genuss einer 41-Stunden-Woche mit einem Ruhetag (wobei die Arbeitszeit während der Hochsaison auf 10 Stunden erhöht und in Ruhezeiten auf 5 Stunden gesenkt werden konnte) wie der Garantie eines 15-tägigen Mindestjahresurlaubs. Ausnahmen galten lediglich für Frauen anderthalb Monate vor und nach einer Geburt sowie für Jugendliche, die allgemeine Schutzbestimmungen in Anspruch nehmen konnten.[22]

Deutlich gestärkt wurde schließlich auch die Absicherung der Kolchosmitglieder im Alter und gegen vorzeitige Arbeitsunfähigkeit. Allerdings mussten sie auch darauf einige Jahre länger warten als Arbeiter und Angestellte außerhalb der Landwirtschaft. Während für Letztere schon im Oktober 1956 ein grundlegendes, im Kern bis zum Untergang der Sowjetunion unverändertes Rentengesetz in Kraft trat, galt für die kolchozniki weiterhin die überkommene, schon im ersten Statut von 1930 niedergelegte Regelung, dass die Kolchosen selber im Alters- und Notfall für ihre Mitglieder sorgen und dafür eine Rücklage bilden sollten. Allerdings waren die Leistungen, wenn denn überhaupt derartige Fonds angelegt wurden, noch kläglicher als die Entlohnung nach Tagewerken, so dass alte und arbeitsunfähige Bauern wie in traditionalen Gesellschaften so gut wie ausschließlich auf die Hilfe ihrer Familien angewiesen waren. Es bedurfte erst einer Großtat Chruščevs, um dies wenige Monate vor seinem Sturz Mitte Juli 1964 zu ändern. Fortan galt eine Regelung, die vor allem bei den einfachen kolchozniki im Unterschied zu den besser versorgten qualifizierten Mitgliedern (Verwaltungspersonal und «Mechanisatoren») durchaus noch manche Lücken aufwies und wichtige Aufgaben weiterhin den Kolchosen überließ, dennoch aber große Fortschritte brachte: Erstmals übernahm der Staat die Zuständigkeit für die Sozialversicherung der kolchozniki und näherte sie auch in dieser Hinsicht an die nichtlandwirtschaftlich Beschäftigten und die Arbeiter und Angestellten der Sowchosen an.[23]

Einkommen setzt sich in aller Regel, weil dies sein Zweck ist, in materielle und materiell (mit)bestimmte Lebensbedingungen um. In Anlehnung an die empirische Sozialforschung bieten sich verschiedene Indikatoren an, um sie zu kennzeichnen und synchron wie diachron vergleichbar zu machen. Angaben über die Ernährung sind spärlich und wenig aktuell. Bis in die späten sechziger Jahre lassen sie deutliche Tendenzen zur Angleichung erkennen. In Kalorien gemessen, scheinen Stadt und Land einander recht nahe gekommen zu sein. Allerdings spricht auch manches dafür, dass Bauern nach wie vor weniger Eiweiß in Gestalt von Fleisch und Fisch, dafür deutlich mehr Brot, Gemüse und andere stärkehaltige Lebensmittel zu sich nahmen. Ernährungsphysiologisch gesehen, konsumierten sie im Durchschnitt mehr minderwertige Lebensmittel als städtische Arbeiter und Angestellte. Das schloss nicht aus, dass sich der Verbrauch über die Jahre beständig und deutlich erhöhte. Beiden Gruppen ging es in dieser Hinsicht gegen Ende der Brežnev-Ära deutlich besser als in den fünfziger Jahren.[24]

Da die Ernährungsgewohnheiten unabhängig vom Angebot gerade auf dem Dorf in hohem Maße von Traditionen bestimmt werden, können Angaben über die Verbreitung sog. langlebiger Konsumgüter und Dienstleistungen aller Art größere Aussagekraft beanspruchen. Sie zeigen in starker Vereinfachung etwa folgendes Bild. Der Einzelhandelsumsatz pro Kopf der Bevölkerung nahm auf dem Lande zwar rasant zu (von 80 Rubel 1950 auf 568 Rubel 1980), reichte aber bis zuletzt bei weitem nicht an den städtischen heran (1283 Rubel 1980). Desgleichen blieb die Versorgung der Dörfer mit Restaurants und persönlichen Dienstleistungen hinter der städtischen zurück. Allerdings wird man darin nicht unbedingt einen Mangel, sondern in ähnlicher Weise eine Folge geringeren Bedarfs sehen müssen wie bei der durchschnittlichen Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften, die geringer war als in den Städten, während die absolute Anzahl der Läden über der städtischen lag. Gleiche Nachfrage wird man dagegen bei höherwertigen Gebrauchsgegenständen unterstellen dürfen. Davon gab es, soweit man sie als Luxus im Sinne des nicht Lebensnotwendigen bezeichnen kann, z.B. an Fernseh- und Radiogeräten, Uhren, Fotoapparaten, Waschmaschinen und Staubsaugern, in ländlichen Familien auch 1980 noch erheblich weniger. Was beide wiederum vereinte, verdeutlichen die Angaben über eines der Fundamente der materiellen Lebensbedingungen: das Wohnen. Auch wenn bloße Quadratmeterzahlen wenig besagen, weil qualitative Aspekte ausgeklammert bleiben, belegen sie das bekannte Faktum außerordentlicher Beengtheit. Wenn Dorfbewohner dabei leicht im Vorteil zu sein schienen, weil ihnen seit 1960 mit 6,3 m2 pro Kopf gegenüber 5,8 m2 der Städter etwas mehr Wohnraum zur Verfügung stand, besagte dieser auch 1980 noch vorhandene Unterschied (8,9 m2 im Vergleich zu 8,6 m2) wenig. Die Qualität der Wohnungen dürfte hinsichtlich der Versorgung mit Wasser und Energie sowie der Entsorgung, von der baulichen Substanz nicht zu reden, trotz aller Mängel deutlich höher gewesen sein als auf dem Lande, wo ein eigener Wasserhahn noch in den sechziger Jahren eine Rarität war. Andererseits befanden sich die kleinen, einzeln stehenden dörflichen Holzhäuser alter Art (izba) überwiegend in Privatbesitz. Angesichts niedriger Mieten dürfte darin kein nennenswerter Vorteil gelegen haben, zumal die Katen ebenfalls meist eng und klein waren. Kaum Unterschiede wies auch die Ausgabenstruktur der bäuerlichen und städtischen Haushalte auf. Die prägende, langfristige Veränderung galt für beide: die deutliche Abnahme des Anteils von Nahrungsmitteln zugunsten vor allem der Industriewaren. Dabei kauften die Bauern mehr Baumaterialien, Brennstoffe und Kraftfahrzeuge als die Stadtbewohner, die ihrerseits mehr in Möbel investierten. Wenig fanden beide vor.[25]

Tabelle 57 

Besondere Bedeutung kommt mit Blick auf die soziale und regionale Mobilität der Versorgung von Stadt und Land mit staatlich-kommunalen Einrichtungen und Dienstleistungen zu. Zweifellos tat sich in dieser Hinsicht eine besonders tiefe Kluft auf. Dies galt zum einen für Schulen und Bildungschancen. Zwar erhöhte sich das durchschnittliche Qualifikationsniveau auch der Dorfbewohner im Laufe von zwei Jahrzehnten (1959–79) so erheblich, dass zuletzt fast jeder Zweite eine «Mittelschule» (im sowjetischen Sinn) und immerhin 25 von 1000 eine Universität oder höhere Fachschule absolviert hatten. Dennoch blieb der Abstand zur Stadt erheblich: Die Zahl der Inhaber von Universitäts- und gleichwertigen Diplomen lag hier viermal höher, während sich der Anteil der Absolventen «mittlerer» Bildungseinrichtungen auf fast zwei Drittel belief. Noch größere Unterschiede gab es in der medizinischen Versorgung. Anfang der siebziger Jahre waren nur 11 % aller Ärzte und ca. 20 % des mittleren medizinischen Personals auf dem Lande tätig. Wenig später entfielen nur 15 % aller Ausgaben für Krankenhäuser und Hospitäler auf ländliche Regionen. Wenn man das weitgehende, von den sog. Klubs nicht kompensierte Defizit an kulturellen Angeboten, vom Kino über Konzerte bis zum Theater, hinzunimmt, vermag die gängige Meinung zu überzeugen, dass die Lebensqualität auf dem Dorf deutlich niedriger war als in den Städten. Auch im ‹real existierenden Sozialismus› blieb die Landflucht ein Problem.[26]

Bei alledem versteht es sich von selbst, dass nicht nur die dörfliche, sondern auch die bäuerliche Gesellschaft (im beruflichen Sinne) in sich nicht homogen war. Unter den ‹Achsen› der Binnendifferenzierung treten (in sozialgeschichtlicher Betrachtung) vor allem zwei hervor: die natürliche nach Geschlecht, Alter und Familienzugehörigkeit sowie die tätigkeitsbezogene, an Qualifikation und Funktion orientierte. Dass die Familie auch und gerade im verstaatlichten Dorf die soziale Kerneinheit blieb, ergibt sich schon aus dem Umstand, dass sie innerhalb des Kolchos weiterhin Maßstab der Zumessung von Haus, Hof und Land sowie in Gestalt der privaten Nebenerwerbswirtschaft auch eine Betriebseinheit war. So tief die Zwangskollektivierung das überkommene soziale, wirtschaftliche und politische Gefüge auch umgewälzt hatte, musste sie ihm doch in der Beibehaltung der Höfe und des Privatlandes Konzessionen machen. Beide wurden durch die Familie zusammengehalten, die neben ihrer Funktion als soziale Keimzelle weiterhin auch als elementare Besteuerungseinheit diente. Erst die Aufhebung der Abgabepflicht und die Ersetzung der Tagewerke durch einen Festlohn änderten dies. Vermutlich näherte sich die dörfliche Familie durch diese Entwicklung und den parallelen Rückgang der Bedeutung der Nebenerwerbswirtschaft der städtischen an. Die Besonderheit aber dauerte an, dass sie in viel stärkerem Maße Wirtschaftseinheit und unentbehrliche Sicherung für Krankheit und Alter war.[27]

Die geschlechtliche Differenzierung fiel in vieler Hinsicht mit der beruflich-qualifikatorischen zusammen. Dabei lassen sich vor allem vier Funktionsgruppen der mit Landwirtschaft befassten Bevölkerung unterscheiden. An der Spitze der Hierarchie standen (1) das administrative Personal und die agrarischen, technischen und ökonomischen Spezialisten, angeführt von den Kolchosvorsitzenden; statistische Angaben aus den letzten Jahren der Brežnev-Ära weisen aus, dass diese ‹Kader› in aller Regel über eine abgeschlossene Hochschulausbildung verfügten. Es folgten (2) die sogenannten «Mechanisatoren», zu denen im Kern alle Fachkräfte gehörten, die landwirtschaftliche Maschinen, vom Traktor bis zum Mähdrescher, bedienen und reparieren konnten. Eine dritte Gruppe (3) bildeten die mit der (nichtprivaten) Viehzucht und -pflege betrauten Kolchosmitglieder. Als vierte (4) schließlich konnte der große Rest der einfachen Feldarbeiter gelten, in deren Händen die Kärrnerarbeit der Ackerpflege, Aussaatvorbereitung, Ernteeinbringung und anderes mehr lag; hier fand sich auch die Masse der außerhalb der eigenen Wirtschaft tätigen Frauen. Einer Erhebung aus der ‹mittleren› Chruščev-Zeit zufolge waren 2,1 % aller einschlägig Beschäftigten zur ersten, 5,5 % zur zweiten, 15,2 % zur dritten und 76,6 % zur letzten Gruppe zu rechnen. Die Prozentsätze würden sich bei Berücksichtigung der Rentner und mancher aus verschiedenen Gründen (Ausbildung, Armee, saisonale Arbeit) Abwesenden verändern, die Proportionen der tatsächlich in der Landwirtschaft Tätigen aber nicht.

Man darf davon ausgehen, dass sich vor allem die Zahl des Verwaltungspersonals in den folgenden Jahrzehnten vermehrt hat. Dies entsprach einer ausgeprägten Tendenz, der ‹Schmutzarbeit› zu entfliehen und leichtere, dabei höher bewertete, teilweise auch mit Einfluss verbundene Bürotätigkeiten zu übernehmen. Desgleichen brachte die Zunahme der Mechanisierung zumindest eine Erhöhung der generellen Qualifikation, eventuell auch des Anteils der entsprechenden Fachkräfte mit sich. Auch dieser Entwicklung einschließlich ihrer Folge andauernder Abwanderung in die Stadt versuchten die zentralen Lenkungsbehörden durch Veränderungen der Lohnstruktur entgegenzuwirken. Der langfristige Trend zwischen 1950 und 1980 zeigt eine deutliche Anhebung der Bezahlung der Arbeiter zu Lasten sowohl der Agronomen, Veterinäre, Ingenieure und Techniker als auch der «Angestellten». Zugleich bewahrten die Spezialisten ihre Vorrangstellung in der Einkommensskala, so dass sie 1980 als einzige der drei Gruppen etwa gleich viel erhielten wie Industriearbeiter (vgl. Tabelle A–6). Außer- und oberhalb standen die Kolchosvorsitzenden, deren Gehälter von den örtlichen Sowjets bestimmt wurden. Je nach Größe und Bedeutung des Kolchos konnten diese Bezüge auch die Spezialistengehälter erheblich überschreiten. So wie Kolchosvorsitzende zur lokalen nomenklatura zählten (und vom zuständigen Sowjet ernannt wurden), so reichte auch ihre mit nichtmonetären Privilegien verbundene Bezahlung an die Einkommen der lokal-regionalen Funktionselite heran.[28]

Nicht zuletzt dieser Umstand verdeutlicht den Gesamtbefund: dass die ‹bäuerliche Gesellschaft› nicht minder differenziert war als die städtische. Da den Einkommensgruppen auch auf dem Dorfe ungefähre Lebensstile entsprachen, tat sich zwischen der Elite aus Administratoren und Spezialisten und den ‹handarbeitenden› Bauern im eigentlichen Wortsinn, darunter unverhältnismäßig vielen Frauen, gleichfalls eine erhebliche Kluft auf. Dies vertrug sich durchaus mit der parallelen Beobachtung eines andauernden Gefälles zwischen Stadt und Land. Dabei spricht alles dafür, dass sich beide eher ergänzten als überlappten, bezogen sich die negativen Wertungen doch nicht nur auf den Inhalt agrarischer Tätigkeit, sondern auch auf die ländlichen Lebensbedingungen allgemein. Die Lage der Arbeiter war im «Arbeiter- und Bauernstaat» angesichts niedriger Löhne, überfüllter Wohnungen und ubiquitärer Versorgungsdefizite schon prekär genug. Erst recht aber gelang es ihm bis zu seinem Ende nicht, die soziale Position der zweiten, im Namen geführten Klientel zu verbessern. Die Masse der Bauern verharrte am untersten Ende der Prestige- und Einkommenspyramide. Mehr noch, ihr war es untersagt, diesen Zustand etwa durch Abwanderung zu ändern. Gleich schwer wie die materielle Diskriminierung wog die zivilrechtliche: Der 1933 einführte Passzwang wurde erst 1980 aufgehoben. Da aus diesen und anderen Gründen selbst die dörfliche Elite nicht eben beneidet wurde, liegt der pointierende Rückgriff auf eine bekannte Formulierung von Marx nahe: dass die «Idiotie des Landlebens» im reifen Sozialismus merklich länger Bestand hatte als im Kapitalismus.[29]

Die technisch-wissenschaftliche und administrative Elite Es gehörte zum ehernen Bestand der selbstzugeschriebenen Errungenschaften, dass der Sozialismus die stete Steigerung der ökonomischen Leistungsfähigkeit und der Qualifikation der Produzenten mit sich brachte. Keine einschlägige Darstellung vergaß, die neue Schicht zu erwähnen, die aus diesem Prozess hervorging: die «Ingenieure und technischen Arbeitskräfte» (ITR) mit fließenden Übergängen zu den «wissenschaftlich-technischen Arbeitskräften» (NTR) in den neuen, personalintensiven Bereichen der Wissenschaft, der medizinischen Versorgung und der Kultur. In der Tat folgte die Sowjetunion auch in dieser Hinsicht dem kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Vorbild. Obwohl der Rückstand erheblich blieb, nahm ein soziales Phänomen immer deutlicher Konturen an, ohne das keine Gesellschaft funktionieren kann, das aber im Sozialismus eigentlich verpönt war: eine Elite. Aufgrund der Verstaatlichung der Wirtschaft und der faktischen parteilich-staatlichen Kontrolle über das kulturelle und soziale Leben lassen sich keine scharfen Trennlinien zwischen den Tätigkeitsfeldern oder den erlernten Fähigkeiten der sie bildenden Gruppen ziehen. Gerade die Verbindung zwischen Wirtschaft und Administration bzw. Politik war eng. Manager wechselten häufiger in hohe Staats- und Parteiämter als in westlichen Gesellschaften (auch wenn die höchsten Amtsinhaber vorrangig aus der KPdSU selbst kamen). Dies schloss eine vielfältige Differenzierung innerhalb der Elite nicht aus. ‹Horizontal› verlief sie zwischen den jeweiligen fachlichen Zuständigkeiten und Berufen, ‹vertikal› bietet sich die Teilhabe an politischer, im Sinne des Systems regulärer Macht als Kriterium an. Auch hier waren sektorale Herrschaftsfunktionen von übergreifenden kaum zu trennen. Ihre analytisch-heuristische Unterscheidung erscheint dennoch sinnvoll.

Leider bleiben die statistischen Daten grob. Die offiziellen Übersichten enthalten nur summarische Angaben über «Spezialisten» mit mittlerer Fach- und Hochschulausbildung. Da die Sowjetordnung seit Stalins ‹Revolution von oben› aber Selbständige nicht mehr kannte, dürfte diese Rubrik aber so gut wie alle einschlägig qualifizierten Beschäftigten der Industrie und Landwirtschaft umfassen. Damit kennzeichnet sie die Funktionselite in einem sehr breiten Sinne, aber wohl ausschließlich des Herrschaftsapparates und der sozial-kulturellen Organisationen.

Selbst wenn man eine Tendenz zur Bekräftigung sozialistischer Fortschrittlichkeit unterstellt, bleibt die Dynamik des Wandels eindrucksvoll. Seit 1928, dem Beginn der Industrialisierung, wuchs die Zahl der Spezialisten in einem Tempo, das im ersten Jahrzehnt fast 400 % betrug, vom Krieg nicht entscheidend verlangsamt wurde, in den fünfziger Jahren ebenfalls fast eine Verdreifachung, in den sechziger und siebziger Jahren immer noch eine knappe Verdopplung brachte und erst in den achtziger Jahren nachließ (vgl. Tabelle 58). Im Gesamtergebnis erzeugte die fortschreitende Industrialisierung und Modernisierung der Nachkriegsjahrzehnte eine Schicht von Fachleuten, die 1980 schon ein Viertel aller Angestellten und Arbeiter des produzierenden Sektors umfasste. Neben der Urbanisierung und der deutlichen Abnahme nichtagrarisch Beschäftigter gehört diese Entwicklung zu den fundamentalen langfristigen sozialen Transformationsprozessen des ‹friedlichen› Sozialismus. Dabei sollte man vielleicht schärfer als bisher auch ihre politischen Begleiterscheinungen ins Auge fassen: Sie bezeugt die Entstehung einer relativ breiten Schicht, die mit ihrer ökonomisch-fachlichen Qualifikation zugleich das Rüstzeug für ein höheres Maß an Urteilsfähigkeit erwarb. Vor dem Hintergrund eines parallelen Generationswechsels und zunehmender Verflechtung mit der westlichen Welt drängt sich der Gedanke auf, dass auch dieser Wandel eine – im Systemsinn – ‹tragische› Ambivalenz enthielt: So notwendig er gesamtwirtschaftlich und -gesellschaftlich war, so riskant war er politisch. In Verbindung mit den anderen genannten Vorgängen erhöhte er nicht nur die Maßstäbe für ‹Lebensqualität›, sondern vergrößerte auch die Zahl derer, die den wachsenden Abstand zwischen Versprechen und Realität, zwischen Möglichem und Tatsächlichem, zu erkennen vermochten.