1937 |
1939 |
1959 |
1970 |
1982 |
1979* |
1989* |
|
Gesamt |
60 |
108 |
361 |
483 |
670 |
699 |
812 |
davon |
7 |
8 |
23 |
42 |
76 |
75 |
108 |
abgeschlossene höhere |
|||||||
nicht abgeschlossene höhere |
11 |
13 |
15 |
16 |
17 |
||
mittlere Fachbildung |
53 |
100 |
48 |
68 |
116 |
119 |
182 |
mittlere Allgemeinbildung |
61 |
119 |
244 |
229 |
305 |
||
unvollständige mittlere |
218 |
241 |
219 |
260 |
200 |
* bezogen auf Gesamtbevölkerung über 15 Jahren
Quelle: Narodnoe Chozjajstvo 1922–1982, 42; Perepis’ 1937, 100
Sehr viel schwerer fällt es, Leistungsfähigkeit und Erfolg dieses Systems zu beurteilen. Tabelle 60 zeigt, dass der Anteil der Personen über 10 Jahren, die über eine «vollständige oder unvollständige mittlere oder höhere Bildung» verfügten, kontinuierlich wuchs. Besonders groß war dabei der Sprung zwischen 1939 und 1959. Aber auch unter Brežnev lagen offenbar noch viele Qualifikationsressourcen brach; immerhin verdoppelte sich die entsprechende Messgröße zwischen 1959 und 1982 beinahe. Laut Ausweis der letzten analogen Statistik stieg sie sogar in den Turbulenzen der letzten sowjetischen Dekade unvermindert an. Dasselbe Bild ergibt sich mit Blick auf die einzelnen Stufen dieses Kenntnisniveaus. So vergrößerten sich besonders die Gruppen der Inhaber eines Hochschul- und eines Diploms der «vollständigen mittleren Bildung» auch zwischen 1970 und 1990 deutlich. Die Absolventen berufsspezifischer Ausbildungsgänge hielten mit. Umso eher fällt die einzige rückläufige Ziffer auf: Offenbar reichte der bloß achtjährige Schulbesuch immer weniger aus, um die Chance auf einen annähernd attraktiven Arbeitsplatz zu wahren.
Weitere Aufschlüsselungen unter vorrangiger Berücksichtigung der Faktoren, die (nicht nur) in der russisch-sowjetischen Bildungsgeschichte besondere Nachteile mit sich brachten, bestätigen die Grundtendenz der Gesamtdaten. Zugleich geben sie interessante Unterschiede zu erkennen. Es dürfte mit der frühzeitigen Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozess, aber wohl auch mit dem grundsätzlichen Bekenntnis zur Gleichberechtigung zusammenhängen, dass sich der Qualifikationsunterschied zwischen den Geschlechtern weitgehend einebnete. Zwar blieb er sichtbar, da auch 1979 noch mehr Männer über ein Hochschulzeugnis oder einen unvollständigen bzw. vollständigen Mittelschulabschluss verfügten als Frauen (75/1000 zu 62/1000 bzw. 610/1000 zu 535/1000). Aber angesichts der Vervielfachung dieses Anteils seit der Vorkriegszeit (1939: 11/1000 zu 5/1000 bzw. 116/1000 zu 85/1000) hatte sich der Abstand stark verringert. Dabei half, dass er schon in der frühen Stalinzeit vergleichsweise klein war: Von Anfang an brauchte man die Frauen für den sozialistischen Aufbau. Dagegen schloss sich der andere traditionelle Riss im Bildungsgefüge nicht: Während 1979.630 von 1000 Stadtbewohnern, die über zehn Jahre alt waren, acht oder zehn Klassen der «Mittelschule» durchlaufen hatten, galt dies nur für 467 Dorfbewohner; bei den Hochschulabsolventen betrug die Kluft sogar 93/1000 zu 25/1000. Auch die entsprechenden Anteile unter den Beschäftigten (ausschließlich also vor allem der Pensionäre, Schüler und Studenten sowie der Familienangehörigen) lassen dieses Verhältnis erkennen: dass fast viermal mehr Städter als Dörfler das Studium an einer Universität oder gleichartigen Einrichtung abschlossen. Wenn man dies nicht auf eine geringere Begabung zurückführen will, bleibt nur der Schluss, dass auch die sozialistische Industrialisierung die vielzitierte Bildungsferne des Dorfes nicht zu überwinden vermochte. Allerdings sind gerade in dieser Hinsicht starke regionale Differenzen zu bedenken. Wo die Urbanisierung (wie in den baltischen Republiken oder in Zentralrussland) weit fortgeschritten war, kam das Gefälle weniger, wo sie (wie in den meisten peripheren Gebieten des Riesenreiches) gering war, umso stärker zur Geltung.[3]
Das Hochschulwesen zieht in der Regel besondere Aufmerksamkeit auf sich, da sich an ihm wesentliche Merkmale der Elite ablesen lassen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Sowjetunion in dieser Hinsicht eine ähnliche Entwicklung durchlief wie die westlichen Industriestaaten. Der allgemeine wirtschaftliche Fortschritt, die Ausdehnung der Verwaltung, der Aufbau einer (bei allen qualitativen Mängeln) umfassenden Gesundheitsfürsorge, der (gleichfalls trotz vieler Defizite) unzweifelhafte technologische Sprung der Produktion und Produkte, die ‹Verwissenschaftlichung› der Kultur und viele andere Aspekte der Modernisierung verlangten auch vom «entfalteten Sozialismus» eine deutliche Verbreiterung der entsprechend qualifizierten Schicht samt dem Ausbau der dazu nötigen Institutionen. Eine solche Expansion fand von Anfang an, mit größerer Beschleunigung seit den dreißiger und besonders seit den fünfziger Jahren, ohne nennenswerte Unterbrechung statt. So stieg die Zahl der Studenten an allen Hochschulen (VUZy) von 0,17 Mio. 1927/28 über 0,81 Mio. 1940/41 und 1,25 Mio. 1950/51 auf 2,4 Mio. 1960/61, 4,58 Mio. 1970/71 und 5,23 Mio. 1980/81; erst im letzten schwierigen Jahrzehnt setzte ein leichter Rückgang auf 5,16 Mio. 1990/91 ein (vgl. Tabelle A5/2 im Anhang). Dieses Wachstum übertraf die demographische Zunahme erheblich, so dass sich die Quote der Inhaber höchster Bildungszertifikate in der skizzierten Weise ebenfalls erhöhte (vgl. Tabelle 60). Auch im internationalen Vergleich rückte die Sowjetunion damit gegen Ende der siebziger Jahre, rein quantitativ gesehen, auf einen der obersten Ränge vor. Desgleichen enthüllt die berufliche Aufgliederung eine erhebliche Kontinuität. Die mit Abstand stärkste Dynamik war nach wie vor im Industrie- und Bausektor zu verzeichnen. Die Zahl der einschlägigen Studenten stieg selbst zwischen 1960 und 1980 auf das Zweieinhalbfache (um in der letzten sowjetischen Dekade bis 1990 bezeichnenderweise auf den Stand von 1970 zurückzufallen). Auch die Tätigkeitsfelder Bildung und Landwirtschaft verzeichneten weiterhin einen überdurchschnittlichen Zulauf. Dagegen fiel die Zunahme in den übrigen Bereichen nicht aus dem Rahmen. Sie hatten, wie das Gesundheitswesen, die Phase des forcierten Ausbaus bereits hinter sich.[4]
Schwankungen innerhalb der gleichbleibenden Grundtendenz zeigten sich auch in der Hochschulpolitik. Chruščev bemühte sich nicht zuletzt auf diesem Feld um die Erweiterung des Zugangs von außen und von unten. Allerdings ging er vorsichtiger vor als gegenüber den «Mittelschulen». Angesichts ihrer Spezialisierung und wissenschaftlichen Ansprüche sperrten sich die VUZy besonders hartnäckig gegen die ‹Polytechnisierung› und sonstige Eingriffe in die Lehrinhalte. Das neue Regime brauchte deshalb wenig zu ändern. Seine Maßnahmen lassen sich in zwei Tendenzen und Ergebnissen zusammenfassen. Zum einen verringerte die neue Führung äußere politische Interventionen und setzte in höherem Maße auf die Autorität des hauptamtlichen Personals. Zum anderen festigte sie den Zugriff der Partei und übergeordneter Instanzen. Zwischen beiden Absichten bestand insofern kein prinzipieller Gegensatz, als die obrigkeitliche Kontrolle nach Möglichkeit durch ‹professionelles› Personal, mit welcher tatsächlichen Kompetenz auch immer, ausgeübt werden sollte. Brežnev und Kosygin unterstützten ein deutlich höheres Niveau an Spezialisierung. Allerdings blieben die Geistes- und Sozialwissenschaften davon weitgehend ausgespart. Nach wie vor standen Wirtschaft und Technik im Vordergrund, während das kulturelle Leben im weiteren Sinne enger als zuvor an der ideologischen Leine geführt wurde.[5]
Zu dieser Politik zentraler, apparategestützter Aufsicht passten die Veränderungen in der sozialen Struktur der Studentenschaft. Öffnung oder Schließung der Hochschulen haben einander in der jüngeren Geschichte Russlands (wie der anderer Länder auch) abgewechselt und waren wichtige Indikatoren der jeweiligen Gesellschaftspolitik. Die Sowjetunion verpflichtete sich dabei durch ihren Charakter explizit darauf, größtmögliche Chancengleichheit für alle herzustellen. Im Maße ihrer Konsolidierung geriet sie jedoch in einen Zielkonflikt, insofern sie wie jeder Staat zugleich auf Leistung bedacht sein und den Interessen der neuen, eigenen Elite Rechnung tragen musste. Stalin gab der Effizienz und der neuen Oberschicht eindeutig Vorrang. Umgekehrt bemühte sich Chruščev um eine Kurskorrektur, indem er Talent und Eifer vor allem in der Masse suchte. Nachgerade als Symbol dafür konnte gelten, dass er die von Stalin 1940 eingeführten Studiengebühren 1956 wieder abschaffte. Auch die polytechnische Orientierung der allgemeinen «Mittelschule» und das neue Recht der Betriebe und Kolchosen (1959), besonders fähige Mitglieder für ein Studium vorzuschlagen, wirkten in diesem Sinne: Sie erschwerten den direkten Übergang zur Universität ohne Umweg über die ‹Produktion›.
Es lag in der Natur der Sache, dass die Abkehr von diesem ‹Werkbankmythos› den sozialen Charakter der studierenden Elite nicht unberührt ließ. Schon im März 1965 wurde den Hochschulleitungen erlaubt, die für ‹Produktionskandidaten› reservierten Plätze zwischen direkten Schulabgängern und ‹Arbeitern› zu teilen. Im Ergebnis fiel die Zahl solcher Studenten «dramatisch», bis 1973 auf 23 % der Neuzugänge. Zugleich verbesserte die Erhebung des zehnjährigen Unterrichts zur Norm nicht nur die Kenntnisse der Absolventen, sondern erleichterte auch den Wechsel in die Hochschulen erheblich. Der Weg von der «vollendeten mittleren Bildung» zur universitären bzw. einer analogen wurde zum erwünschten Regelfall. Da man auch den ‹Seiteneinstieg› durch Abend-, Fern- und Teilzeitfortbildung erschwerte, profitierte vor allem die nomenklatura. Sie erreichte, was sie wollte: die Privilegierung der eigenen Kinder. Statt der Arbeiter und Bauern rückten die «Angestellten» nach vorn. Da die verfügbaren Gesamtdaten an Genauigkeit zu wünschen übrig lassen (vgl. Tabelle 61), erscheint der Rückgriff auf verstreute Einzelergebnisse zwingend. Diese bestätigen indes die Gesamttendenz ebenso wie die Laienbeobachtung: dass sich die sowjetische Elite in wachsendem Maße aus sich selber rekrutierte. Dabei zeigte sich die soziale Auslese schon beim Übergang von der achten zur neunten Klasse. Einer Studie über Leningrad zufolge stieg der Anteil der Akademikerkinder mit dem Beginn dieser universitätsvorbereitenden ‹Oberstufe› um 46 %, während derjenige von Kindern manuell tätiger Eltern(teile) um 10 % sank. In mancher Hinsicht ergab sich diese Tendenz aus dem eigentümlichen Charakter der herrschenden Elite im Sozialismus. Denn anders als in westlich-kapitalistischen Gesellschaften besaß diese weder Eigentum noch sonstige vererbbare Anwartschaften. Um ihre Errungenschaften weiterzugeben, stand ihr nur die Nutzung persönlicher Beziehungen in den verschiedenen Apparaten zur Verfügung, die aber in der Regel eine ungefähr entsprechende Qualifikation voraussetzte. Gerade für sie galt, dass die beste – und in ihren unteren Rängen wohl einzige – Mitgift in einer Hochschulbildung bestand.[6]