1985 |
1986 |
1987 |
1988 |
1989 |
1990 |
1991* |
|
Bevölkerung |
1,1 |
1,0 |
0,9 |
0,8 |
0,7 |
0,3 |
– |
Beschäftigte (Arbeiter und Angestellte) |
0,8 |
0,6 |
0,1 |
–1,1 |
–1,5 |
–0,7 |
– |
Bruttosozialprodukt |
2,3 |
3,3 |
2,9 |
5,5 |
3,0 |
–2,0 |
–8,0 |
Nationaleinkommen, prod. |
1,6 |
2,3 |
1,6 |
4,4 |
2,4 |
–4,0 |
–10,0 |
produzierendes Anlagevermögen |
5,6 |
5,2 |
4,8 |
4,5 |
4,2 |
3,5 |
– |
Inbetriebnahme von Anlagevermögen |
1,4 |
5,9 |
6,8 |
–1,4 |
2,5 |
–4,0 |
–34,0 |
Industrieproduktion |
3,4 |
4,4 |
3,8 |
3,9 |
1,7 |
–1,2 |
–5,0 |
Gruppe A (Produktionsmittel) |
3,5 |
5,0 |
3,7 |
3,4 |
0,6 |
–3,2 |
– |
Gruppe B (Konsumgüter) |
3,0 |
2,6 |
4,1 |
5,4 |
4,9 |
4,4 |
– |
Agrarproduktion |
0,2 |
5,3 |
–0,6 |
1,7 |
1,3 |
–2,3 |
– |
Bruttoanlageinvestitionen |
3,0 |
8,4 |
5,6 |
6,2 |
4,7 |
–6,7 |
–16,0 |
Arbeitsproduktivität der Gesamtwirtschaft |
1,3 |
2,1 |
1,6 |
4,8 |
2,3 |
–1,0 |
– |
Geldeinkünfte der Bevölkerung |
3,7 |
3,6 |
3,9 |
9,2 |
13,1 |
11,0 |
24,0 |
Außenhandelsumsatz |
0,4 |
2,3 |
0,6 |
2,6 |
4,5 |
–6,9 |
– |
*1. Quartal
Quelle: Sowjetunion 1990/91, 136
Darüber hinaus zeitigte dieses schlimme und im Wortsinne fatale Versagen der Reform auch schwerwiegende soziale Folgen. Versorgungsprobleme vergrößerten die Armut. Wo die preiswerten Waren der staatlichen Läden fehlten, blieb nur der Ausweg, sie bei privaten Anbietern zu kaufen – oder trotz dringenden Bedarfs auf sie zu verzichten. In «Kiosken», auf Kolchosmärkten und an improvisierten Ständen vor den Metro-Eingängen gab es fast alles, aber zu Preisen, die sich mehr und mehr Menschen nicht mehr leisten konnten. Der Produktionseinbruch bei allmählicher, allzu zaghafter Privatisierung von Dienstleistungsbetrieben und Kleingewerbe drängte ganze Schichten der Bevölkerung, vor allem Rentner, Arbeitsunfähige und kleine Staatsangestellte, an den Rand des Elends. Ihre ohnehin knapp bemessenen Einkommen blieben hinter der allgemeinen Inflation und erst recht hinter den privaten Preisen zurück. Zugleich sammelten andere Vermögen an, für die sie keine Waren kaufen konnten, mit der bekannten Folge weiterer Preissteigerungen. Eine Spiralbewegung von rückläufigem Angebot, Geldüberhang, Inflation, wachsender Armut vieler bei steigendem Wohlstand weniger, hohen Budgetdefiziten und zunehmenden Schwierigkeiten des Staates, den größeren Teil der Betriebe und fast alle Preise (vom öffentlichen Verkehr über die Grundnahrungsmittel bis zu den Wohnungen) zu subventionieren, gewann an Fahrt, die Gorbačev nicht anhalten konnte. Zur Not gesellte sich Kriminalität. Das Leben in der Sowjetunion wurde freier, aber für die große Mehrheit auch unsicherer. Während die meisten Staatsunternehmen ihre Produktion verringerten oder gar einstellten, breitete sich in der halblegalen, typischerweise im Dienstleistungsbereich, Finanzwesen und der Güterverteilung (Börsen, Handel) konzentrierten Privatwirtschaft die bald vielzitierte «Mafia» aus. So konnte sich die politische Führung eigentlich nicht darüber wundern, dass die Perestrojka vor allem unter den Arbeitern stark an Popularität verlor.[24]
In mancher Hinsicht kumulierten diese Krisensymptome in der neuen Kraft und Sichtbarkeit von Streiks. Wohl hatte es in den vorangegangenen Jahrzehnten und selbst unter Stalin Arbeitsniederlegungen gegeben. Aber sie waren zumeist schnell beendet und totgeschwiegen worden. Die neue Freiheit änderte dies. Was eigentlich eine positive Entwicklung war, verwandelte sich angesichts seiner Massivität und der ohnehin prekären wirtschaftlichen Situation in die vielleicht gefährlichste Bedrohung, der sich die Perestrojka bis dahin ausgesetzt sah. Der Ausstand, den die Bergarbeiter im südsibirischen Kuznec- und im südostukrainischen Donec-Becken im Juli 1989 begannen, weitete sich zum größten Streik seit 1929 aus. Auf seinem Höhepunkt verweigerte eine halbe Million Bergleute die Einfahrt und stürzte das Land in eine schwere Energiekrise. Sicher waren es nicht die ärmsten, sondern typischerweise im Gegenteil die bestbezahlten Arbeiter, die sich zu dieser Aktion entschlossen. Aber ihr Motiv spiegelte eine allgemeine Empfindung: Protest gegen den rasanten Fall des materiellen Lebensniveaus, ablesbar an einem kaum glaublichen «Defizit» – die kohlegeschwärzten Bergleute hatten keine Seife.[25]
Angesichts der dramatischen Verschlechterung der Wirtschaftslage im Laufe des Jahres 1989 war die Einsicht unausweichlich, dass die bisherigen Rezepte versagt hatten. Es reichte offenbar nicht aus, die eigenständige «Rechnungsführung» wiederzubeleben und auf diese Weise das fundamentale Prinzip der sozialistischen Ordnung unberührt zu lassen: das Staatseigentum an Produktionsmitteln. Auch wenn erst Stalin die Planwirtschaft mit Zwang verwirklichte und ihr einen völlig anderen Charakter verlieh, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass auch Lenin sie anstrebte und seit dem GOĖLRO auf den Weg brachte. Insofern gehörte das öffentliche Besitzmonopol an Land und Kapital (monetär oder ‹vergegenständlicht›) zu den Bauprinzipien des Sowjetstaates und zum innersten Kern seiner ideologischen Grundannahmen. Dies hilft nicht nur, das lange Zögern Gorbačevs zu verstehen, sondern auch die Zähigkeit, mit der um die Art der wirtschaftlichen Zukunft gerungen wurde. Mehr noch, die Vermutung drängt sich nachgerade auf, dass die Perestrojka, wie weit sie auch immer über ihre Anfänge hinausgegangen sein mochte, hier an eine unüberwindbare Barriere stieß: Die Beseitigung zumindest der Dominanz des Staatseigentums und damit der zentralen Planbarkeit markierte die letzte und entscheidende Grenze der bestehenden Ordnung. Jenseits dieser Linie begann ein anderes System, das Gorbačev nicht wollte. So gesehen, stellte sich seiner «Umgestaltung» seit 1989 die grundsätzliche Frage, ob sie das Alte nur verändern oder Neues schaffen, ob sie eine Reform oder eine Revolution sein wollte.
Die Suche nach neuen, radikaleren Sanierungskonzepten begann im Herbst 1989. Ihnen war nicht nur die Absicht gemein, für baldige Heilung zu sorgen, sondern auch der Grundgedanke, dass sie nur durch die Erweiterung ökonomischer Eigenständigkeit und den Übergang zur Marktwirtschaft zu erreichen sei. Allerdings unterschieden sich die Programme erheblich im vorgesehenen Ausmaß und Tempo der Veränderung. Dabei gingen alle Autoren und Verantwortlichen zu Recht davon aus, dass die Schwere der Lasten, die der Wandel unvermeidlich mit sich bringen musste, maßgeblich von diesen beiden Faktoren bestimmt werden würde. Man muss allerdings die Motive unterscheiden: Die Rücksicht, die aus den absehbaren ökonomischen Folgen resultieren konnte, lieferte auch jenen plausibel erscheinende Argumente, die im Kern am alten System festhalten wollten.
Eben diese Absicht darf man wohl dem Premierminister Ryžkov unterstellen, der dem Volksdeputiertenkongress im Dezember 1989 ein erstes marktwirtschaftliches Reformkonzept vorlegte. Es entstammte den Überlegungen einer vom Ministerrat eingesetzten Reformkommission unter Leitung des prominenten Ökonomen L. I. Abalkin und visierte das Jahr 1993 als Endpunkt der Transformation an. Abgesehen von nachträglichen inkonsistenten Korrekturen stieß es auch deshalb auf Ablehnung, weil es schon in den ersten Monaten des neuen Jahres von der Wirklichkeit überholt wurde. Im Mai 1990 kam Ryžkov der Aufforderung des Obersten Sowjets zur Überarbeitung nach. Vor dem Hintergrund öffentlich annoncierter drastischer Preiserhöhungen erntete aber auch der neue Plan mehr Kritik als Zustimmung, darunter den ebenso hämischen wie suggestiven Kommentar, «einen Schock ohne Therapie» vorzusehen. Den Reformern auf der anderen Seite ging der Maßnahmenkatalog nicht weit genug. Während an Ryžkovs Entwurf weiter gefeilt wurde, arbeitete eine andere Gruppe unter Leitung des nicht minder renommierten Ökonomen S. S. Šatalin ein Konzept für den schnellstmöglichen Übergang zur Marktwirtschaft bei vertretbaren ‹sozialen Kosten› aus: den sog. «500-Tage-Plan». Zwischen beiden Extremen war schließlich eine dritte Variante angesiedelt, für die Aganbegjan verantwortlich zeichnete. Angesichts des Streits der Experten tat der Oberste Sowjet das Naheliegende und bat Gorbačev, die ‹besten Elemente› aller drei Modelle in einem gleichsam synthetischen Plan zusammenführen zu lassen. Diese sog. «Richtlinien für die Stabilisierung der Volkswirtschaft und den Übergang zur Marktwirtschaft» wurden denn auch am 19. Oktober 1990 mit großer Mehrheit angenommen.
Angesichts der unverminderten wirtschaftlichen Talfahrt und der starken Polarisierung der Gesellschaft samt ihrer geistig-politischen Elite hätte es an ein Wunder gegrenzt, wenn dieser Vorschlag auf breite Zustimmung gestoßen wäre. Statt dessen ereilte ihn das Schicksal vieler Kompromisse: Er machte es weder den einen noch den anderen recht. Die Anhänger einer wie immer auch modifizierten sozialistischen Ordnung lehnten den konsequenten Übergang zur Marktwirtschaft prinzipiell ab. Die Befürworter eines solchen ‹harten Schnitts› dagegen wiesen mit guten Gründen darauf hin, dass der ursprüngliche Plan verwässert und ohnehin viel zu viel Zeit verloren worden sei. Die Regierung habe sich um eine Entscheidung gedrückt – und damit alles verloren. Im Rückblick enthielt dieser Vorwurf Šatalins und anderer Autoren des 500-Tage-Plans mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Denn die Ablösung des langjährigen Premierministers Ryžkov, der seit 1985 an der Seite Gorbačevs gestanden hatte, durch den nachmaligen Putschisten und damaligen Finanzminister V. S. Pavlov im Januar 1991 signalisierte nicht nur die endgültige Ablehnung einer raschen Einführung der Marktwirtschaft, sondern dieser überhaupt. Zwar beteuerte der neue Regierungschef, dass er am Endziel freier ökonomischer Tätigkeit festhalte, aber der Akzent verschob sich deutlich auf die staatliche Marktregulierung. In der Praxis ging fortan jede längerfristige Perspektive verloren; die Wirtschaftspolitik erschöpfte sich in improvisierten Maßnahmen von zweifelhaftem Erfolg (wie z.B. dem Zwangsumtausch ‹großer› Rubelscheine). Gewiss war dieser Kurswechsel nicht ohne Billigung des Präsidenten möglich. Mit der Bestellung Pavlovs begann eine konservative Wende, von der weiterhin offenbleibt, ob Gorbačev sie wollte oder ob sie ihm aufgezwungen wurde. Dabei dürfte ihm die Konzilianz in der wirtschaftlichen Grundsatzfrage jener Monate leichtgefallen sein. Denn trotz des vorübergehenden Anscheins von Sympathie für den 500-Tage-Plan hat er zumindest in seinen öffentlichen Äußerungen keinen Zweifel daran gelassen, dass er am Sozialismus festhalten wollte. Die reine Marktwirtschaft war auch für Gorbačev Kapitalismus und letztlich vom Teufel.[26]
Der Streit um den richtigen Weg zur Marktwirtschaft drängte ein Problem in den Hintergrund der Diskussion, dem keine geringere Bedeutung zukam: die Frage des Eigentums an Grund und Boden als Voraussetzung für entsprechende Reformen in der Landwirtschaft. Die Verstaatlichung von Industrie und Gewerbe besaß ihr Pendant im Staatsmonopol auf Land, Gewässer und Bodenschätze. Auch hier hatte der Oktoberumsturz den Grundstein gelegt, als die neuen Machthaber noch in der Nacht ihres Coups die Enteignung des Landes verfügten. Gerade in dieser Hinsicht hatte Stalin den Kompromiss der NĖP mit äußerster Gewaltsamkeit liquidiert und jene Struktur geschaffen, die Gorbačev vorfand. Mithin lag auch hier auf der Hand, dass die chronische Agrarkrise untrennbar mit der Agrarverfassung verbunden war und die Perestrojka eine ideologische Grundsatzentscheidung zu fällen hatte: ob man wieder Privateigentum an Land zulassen sollte oder nicht. Hinzu kam, dass die Implikationen einer solchen Entscheidung für jedermann auf der Hand lagen. Wer neue Wege ging, gab zu, dass die alten in eine Sackgasse geführt hatten und Stalins Zwangskollektivierung ebenso falsch war wie die offizielle Beteuerung, der kollektive Landbau sei dem individuellen überlegen.
Dies alles mag gemeinsam mit der Zuständigkeit des konservativen Ligačev (seit Herbst 1988) erklären helfen, warum die Perestrojka auf diesem Gebiet besonders wenig bewirkte. Erst nach einer vergeblichen bürokratischen Reform, unter anderem in Gestalt der Schaffung einer neuen Zentralagentur (Gosagroprom, 1985 begründet, 1989 wieder aufgelöst), besann man sich auf neue Ideen, die im Wesentlichen auf eines zielten: das Interesse der Bearbeitenden für das von ihnen bestellte Land zu wecken. Als Mittel zu diesem Zweck führte man zunächst die individuelle Pacht wieder ein und erlaubte Mitte 1988 längerfristige Laufzeiten bis zu fünfzig Jahren. Im Zuge der Radikalisierung der Reform ging man erst im März 1990 mit einem Gesetz, das individuelles Eigentum gleichberechtigt neben Kollektiv- und Staatseigentum anerkannte, darüber hinaus. Damit wurde das Landdekret vom Oktober 1917 in der Tat aufgehoben, aber wesentliche Beschränkungen blieben. Für privaten Grund und Boden waren nicht nur hohe Steuern zu entrichten, er durfte auch nicht weiterverkauft und vor allem nicht von Lohnarbeitern bestellt werden. In der Idee, dass nur Familienmitglieder Hand anlegen sollten und erst die spekulativ-profitable Veräußerung des Landes kapitalistische Verhältnisse auf dem Dorfe schufen, bewahrten alte, eher sozialrevolutionäre als sozialdemokratische Vorbehalte ihre Kraft. Auch die Perestrojka konnte es allerdings nur bedauern, dass sich solche Befürchtungen als überflüssig erwiesen. Einige Bauern wagten es zwar, sich selbständig zu machen. Aber ihre Zahl fiel nicht ins Gewicht. Zum einen gab es fünfzig Jahre nach der Kollektivierung kaum noch ‹Agrararbeiter›, die über genügend Initiative und betriebswirtschaftliche Kenntnisse einschließlich der Vermarktung verfügten. Zum anderen fehlte ein analoges Umfeld an Zulieferern, Aufkäufern und landwirtschaftsorientierter Industrie. Traktoren wurden nicht geliefert, Ersatzteile nicht beschafft, Tiere nicht abgenommen, Futtermittel nicht bereitgestellt und anderes mehr. Im Ergebnis blieb auch nach fünf Jahren aus, was die Agrarreform zügig hätte leisten müssen: die zunehmende Versorgungsnot zu lindern.[27]
Unabhängig von der Frage der Priorität herrscht Einvernehmen darüber, dass die zweite Hauptursache für den Untergang der Perestrojka in der Entstehung nationaler und regionaler Bewegungen mit dem Ziel der Loslösung vom Gesamtstaat zu sehen ist. Diese Entwicklung unterschied sich von der ökonomischen Krise unter anderem dadurch, dass sie unerwartet und gleichsam von außen kam. Während die niedrige Wirtschaftsleistung zu den bekannten Übeln des Sowjetsystems gehörte und eine der stärksten Triebkräfte für die Perestrojka bildete, brachen sich die sezessionistischen Energien erst nach deren Beginn Bahn. Dabei mag man es nachgerade als tragische Ironie bezeichnen, dass die entscheidende Voraussetzung für die Möglichkeit massenhafter Artikulation sezessionistischer Forderungen zweifellos in der Glasnost’ und der beginnenden Demokratisierung bestand. Als das gedruckte Wort freigegeben wurde, musste die politische Handlungsfreiheit folgen. Dabei hielt Gorbačev die Gefahr zentrifugaler Tendenzen offenbar für gering, in jedem Fall für weniger schwerwiegend als die Folgen eines generellen Verzichts auf den Versuch, den ‹Faktor Mensch› auf diesem Wege zu aktivieren. Indes zeigte sich, dass die Aufhebung der Zensur nicht nur solche Gegner der Perestrojka auf den Plan rief, die in Gestalt einer konsequenten marktwirtschaftlichen Demokratisierung über sie hinausgehen wollten, sondern auch solche, die dem Ziel nationaler Unabhängigkeit Vorrang einräumten. Dem entsprach die zeitliche Abfolge: Wenn das Jahr 1987 als Geburtsstunde von Glasnost’ gelten darf, so begann 1988 die Bewegung, die wirksame Reformen nur außerhalb des Gesamtstaates für möglich hielt.
Weil die Vorkämpfer der Abspaltung das Alte gar nicht mehr erneuern wollten, trafen sie die Perestrojka noch fundamentaler als andere Gegner. Sie verwarfen sozusagen die Voraussetzung für das gesamte Unternehmen. Damit mag zusammenhängen, dass Gorbačev lange kein Rezept für den Umgang mit ihnen fand. Kaum zufällig fehlte in der Darlegung seiner Absichten, im Sommer 1987 vor Beginn der Krise des Einheitsstaates zu Papier gebracht, ein entsprechender Abschnitt. Gorbačev dachte an vieles, aber er war zu sehr Großrusse und ein Mann des Apparates, als dass er die tatsächliche Sprengkraft der nationalen und regionalen Identifikation erkannt hätte. Auch wenn er in seinen «Erinnerungen» das Gegenteil versichert, scheint er jenem Wunschbild vom ‹supranationalen› Sowjetmenschen in erheblichem Maße vertraut zu haben, das vor allem unter Brežnev beschworen worden war und Eingang in die Verfassung von 1977 gefunden hatte. Die neue ‹Öffentlichkeit› brachte jedoch an den Tag, dass die Wirklichkeit auch in dieser Hinsicht anders aussah. Unter der Oberfläche hatten sich Bindungen an die eigene, nicht großrussische Sprache, den nicht großrussisch orthodoxen Glauben und vielfach eine autochthone Kultur erhalten. Was verdeckt war, erwies sich als durchaus vorhanden. Offen bleibt aber die Frage, ob solche Energien schon kraftvoll entwickelt waren – wie manche retrospektiv gewusst zu haben behaupten – und sozusagen nach «Rissen» suchten, um das «Imperium» zur Explosion zu bringen, oder ob ein schmales ‹Rinnsal› erst aufgrund von Glasnost’ und wachsenden ökonomischen Probleme zu einem mächtigen ‹Strom› anschwoll. Fest steht – und deshalb mag man sie in mancher Hinsicht auch für müßig erklären – die Existenz eines erheblichen Potentials, das seine Kraft nicht zuletzt aus der einheitsstiftenden Außenabgrenzung bezog und innere Differenzen bis zur Herstellung der angestrebten Souveränität überwölbte oder gar unterdrückte.[28]
Auch hinter dem chronologischen Tatbestand, dass nationale Manifestationen zuerst – im Frühjahr und Sommer 1988 – in den baltischen und den christlich-kaukasischen Republiken auftraten, darf man eine sachliche Ursache vermuten. Diejenigen Nationalitäten machten den Anfang, die der hegemonialen großrussischen Kultur am fernsten standen und zugleich über eine lange, gefestigte und bewusste eigene Geschichte verfügten. In Armenien kamen Irredenta-Probleme in der (von Armeniern bewohnten, aber zu Azerbajdžan gehörenden) Exklave Nagornyj Karabach hinzu. Die baltischen Republiken ihrerseits konnten auf die längste Epoche staatlicher Souveränität zurückblicken. Sie hatten außerdem das überzeugende Argument auf ihrer Seite, durch den räuberischen Pakt zweier Diktatoren (vom 23. August 1939) und nackte militärische Gewalt dieser Selbständigkeit beraubt worden zu sein. Was eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung in Litauen, Estland und Lettland forderte, war mithin nichts weniger als die Korrektur offensichtlichen Unrechts. Auf eine eigene, wenngleich in dieser Hinsicht überwiegend ‹erfolglose› Geschichte konnten auch entsprechende Bestrebungen in der Ukraine zurückblicken. «Kleinrussland» war nie «Großrussland», sondern verfügte über eine eigene Sprache, in den Westgebieten auch über eine eigene Kirche, fühlte sich historisch älter und hatte die Zugehörigkeit zur polnisch-litauischen Adelsrepublik im 15. und 16. Jahrhundert sowie die faktische Eigenständigkeit als Grenzland nicht vergessen. Stärker aber wirkte sicher die Unterdrückung seit Mitte der zwanziger Jahre und insbesondere seit Stalins Aufstieg zur alleinigen Macht nach. Ohne genuine nationalstaatliche Tendenzen in Abrede zu stellen, wird man den Faktor jahrhundertelanger Unterwerfung unter das großrussische Zentrum und sozusagen die Aversion gegen den übermächtigen Nachbarn als Katalysator der Nationalbewegungen mitbedenken müssen. Das gilt in noch höherem Maße für die anderen Regionen des Sowjetreiches, von den mittelasiatischen Republiken bis Weißrussland, die überwiegend eher nachzogen, als dass sie eigene starke separatistische Antriebe entwickelt hätten.
Insofern spricht vieles dafür, auch die nationalen Bewegungen als Amalgam unterschiedlicher Motive und Interessen zu betrachten. In allgemeiner Perspektive rächte sich zum einen die Wiederherstellung des zarischen Imperiums im Bürgerkrieg, verbunden mit der nicht wirklich praktizierten Föderalisierung in den zwanziger Jahren und deren faktischem Widerruf durch Stalin. Die Reconquista der alten Grenzen (von wenigen, oben genannten Gebieten abgesehen) machte die Sowjetunion zum letzten Vielvölkerreich in Europa. Sie bereitete damit auch den Boden für jenen nationalen Widerstand, der in globalem Maßstab zum Zerfall der Kolonialreiche führte. So gesehen ermöglichten es Perestrojka und Glasnost’ nachzuholen, was als innere Entkolonialisierung bezeichnet werden könnte. Sie setzten den Protest gegen die großrussische Hegemonie frei, die unzweifelhaft und spürbar durch alle drei Säulen der ‹real-sozialistischen› Ordnung ausgeübt wurde: Sowohl die Partei als auch Armee und KGB befanden sich fest unter Moskauer Kontrolle. Politischer Zentralismus und ethnisch-nationale sowie sprachlich-kulturelle Dominanz gingen Hand in Hand. Sie erzeugten Unzufriedenheit und latente Opposition, die zwar gegen eine intakte Herrschaft nichts ausrichten, aber in einer staatlichen Autoritätskrise eine erhebliche Dynamik entfalten konnten.
Dies war umso eher der Fall, als sich nationale Orientierungen mit Hoffnungen auf ökonomische Sanierung verbanden. In der politischen Führung fast aller Republiken verfestigte sich die Meinung, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch nur im überschaubaren Rahmen des eigenen Territoriums zu beheben war. Dabei gingen diejenigen Republiken voran, die auf überdurchschnittliche Leistungen verweisen und der Meinung sein konnten, dass sie mehr an den Gesamtstaat abgaben, als sie zurückerhielten. Für die industriell bzw. im Falle Litauens agrarisch vergleichsweise weit entwickelten baltischen Republiken lohnte es sich auch materiell nicht, im Bund zu bleiben. Bislang dürfte es unmöglich sein, das relative Gewicht beider Motive näher zu bestimmen. Desgleichen wird man es vom jeweiligen Problem abhängig machen, ob eine solche Frage überhaupt sinnvoll ist. Dennoch sollte man den Wunsch nach regionaler Autonomie analytisch von nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen trennen. Nicht alles, was national aussah und sich national artikulierte, entsprang der primären Loyalität gegenüber der eigenen Nation im kulturellen, durch die bekannten Kriterien vor allem der sprachlichen, historischen und eventuell religiösen Gemeinsamkeit definierten Sinn. Schon der bemerkenswerte Umstand, dass sich die ‹nationalen› Bewegungen entlang der bestehenden, in der Regel nicht mit nationalen Siedlungsräumen identischen Republiksgrenzen artikulierten, sollte zu einer solchen Differenzierung Anlass geben. Auch der Umstand, dass ihre Forderungen von den kommunistischen Parteien in den Obersten Sowjets fast aller Republiken und nicht selten von hohen Repräsentanten der alten Kader aufgegriffen wurden, weist in diese Richtung. Gemeinsam war dem echten Nationalismus und dem eher pragmatisch-taktischen Regionalismus allerdings das Nahziel, das die Perestrojka in Verbindung mit der Wirtschaftskrise letztlich zu Fall brachte: die Sezession vom Gesamtstaat.[29]
Angetrieben von den baltischen und christlich-kaukasischen Republiken gelangte Gorbačev Ende 1989 zu der Einsicht, dass nur ein neuer Vertrag die Union retten könne. Allerdings deutet vieles – entgegen seinen «Erinnerungen» – darauf hin, dass er das nicht wirklich gewähren wollte, was der einzige Sinn einer solchen Vereinbarung sein konnte: weitgehende Selbstbestimmung der Republiken. Noch im September hatte er sich vor dem ZK, das nach langer Vorbereitung «entschieden zu spät» eigens zur Debatte über diese brisante Frage zusammenkam, in diesem Sinn geäußert. Der Eindruck drängt sich auf, als habe der Generalsekretär auf Zeit spielen wollen oder nicht mehr weitergewusst. So konnte es nicht verwundern, dass der erste, im November 1990 vorgelegte Entwurf einer neuen Vereinbarung die Adressaten in keiner Weise befriedigte. Erwartungsgemäß reservierte er alle wichtigen Kompetenzen, vom Besitzmonopol am Grund und Boden einschließlich der Bodenschätze, über das Militär und die Wirtschaftspolitik bis hin zu den Außenbeziehungen, für die Zentralgewalt; lediglich zweitrangige Befugnisse sollten den Unionsrepubliken übertragen werden. Selbst unionsfreundliche Republikführer lehnten diesen Entwurf ebenso ab wie der Volksdeputiertenkongress, der ihn zur Überarbeitung an den Präsidenten zurückgab. Anfang März 1991 kam Gorbačev dem Auftrag mit einem neuen Entwurf nach, den er durch eine Volksbefragung vom 17. desselben Monats legitimieren lassen wollte. Allerdings war das Ergebnis dieses Referendums zwiespältig. Die Bevölkerung sprach sich zwar mit 76,4 % der Stimmen für den Erhalt der Union aus, aber sechs Republiken (die baltischen, Armenien, Georgien und Moldawien) nahmen gar nicht erst teil. Der zweite Entwurf eines Unionsvertrags entsprach diesem Resultat insofern, als er einerseits ebenfalls an den Prärogativen der Zentralgewalt festhielt, andererseits aber so viele Konzessionen machte, dass er von der Mehrheit der Republiksführer als Diskussionsgrundlage akzeptiert wurde. Auch wenn die genannten Republiken weiterhin fernblieben und sich nur die Repräsentanten von neun Republiken in der Präsidenten-Datscha von Novo-Ogarevo einfanden, konnten im April 1991 konkrete Gespräche («9+1») beginnen. In welchem Maße ihr Ergebnis die Sowjetunion verändert hätte, muss offen bleiben. Die Unterzeichnung des neuen Vertrages war für den 20. August 1991 geplant. Sie sollte nicht mehr stattfinden.[30]
Allerdings kann man mit gutem Grund annehmen, dass dem Präsidenten zu diesem Zeitpunkt längst die Hände gebunden waren. Was immer die Archive über die Hintergründe und Absichten des Komplotts freigeben werden, die Einheit des Staates dürfte bereits verspielt gewesen sein. Denn viele und vor allem die wichtigsten Unionsrepubliken wollten den Gesamtstaat nicht mehr. Die entscheidende Wende auch in dieser Hinsicht fand – kaum zufällig parallel zur Erosion der KPdSU und dem Versuch Gorbačevs, seine Macht auf den Staat zu verlagern – im Laufe des Jahres 1990 statt. Besondere Bedeutung kam dabei den Neuwahlen zu den lokalen und regionalen Sowjets im März 1990 zu, an deren Spitze in den Republiken ebenfalls Volksdeputiertenkongresse installiert wurden. Diese Urnengänge begründeten im ganzen Land reformfreundliche und zumeist regional- bzw. nationalorientierte Exekutivgremien. Vor allem aber leiteten sie auch im Kernland der Sowjetunion, der RSFSR, eine Radikalisierung der Reformen ein, die sich schnell mit eigenem, russischem Nationalbewusstsein füllte und sezessionistische Bestrebungen freisetzte. Wie bedeutend die baltischen und kaukasischen Republiken wirtschaftlich und politisch auch sein und wie sehr ihre Unabhängigkeitsbestrebungen ausstrahlen mochten – erst der Ausbruch der RSFSR traf die Sowjetunion ins Herz. So wie die UdSSR 1924 aus der RSFSR (die selbst eine Föderation zahlreicher Nationalitäten und ‹autonomer› nationaler Gebiete war) hervorgegangen war, so konnte sie ohne diese nicht bestehen. Da außerdem die Ukraine aus dem sowjetischen Zwangsverband auszubrechen suchte, bestand der Sowjetkörper letztlich nur noch aus so nicht lebensfähigen ‹Extremitäten›.
Die Sezessionisten artikulierten ihre Wünsche in aller Deutlichkeit. Seit dem 11. März 1990, als Litauen seine Selbständigkeit verkündete, folgte eine Souveränitätserklärung – förmlich von den (überwiegend ‹kommunistisch› beherrschten) Obersten Sowjets beschlossen – nach der anderen. Am 30. 3. sagte sich Estland (in Erweiterung der Suspendierung der Unionsverfassung vom November 1988) vom Gesamtstaat los, am 4. 5. Lettland, am 23. 8. Armenien und am 14. 11. Georgien. Dazwischen lag die wichtigste Proklamation: die der RSFSR am 12. 6. Kurz vor diesem demonstrativen Akt war Jelzin zum Vorsitzenden des Volksdeputiertenkongresses gewählt worden. Indem er durch diesen Sieg triumphal ins Zentrum der politischen Macht zurückkehrte, aus dem ihn Gorbačev Ende 1987 hinausgeworfen hatte, lud sich die Auseinandersetzung zwischen der Union und ihren Gliedstaaten an entscheidender Stelle zusätzlich mit der erbitterten Feindschaft zwischen den beiden fähigsten und populärsten Politikern auf. Jelzin nutzte dabei das Zaudern Gorbačevs und das nach wie vor – zumindest in der aktiven Elite – verbreitete Vertrauen in die Grundabsichten der Perestrojka. Er rief zu radikalen demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen auf und tat mit durchaus demagogischem Gestus das, was Gorbačev zum wachsenden Verdruss vieler Sympathisanten immer wieder hinausschob. In diesem Geiste erkannte Jelzin im Sommer und Herbst 1990 auch die Unabhängigkeit der baltischen Staaten und der Ukraine an. Obwohl die genannten Souveränitätserklärungen teils nur eine Absicht verkündeten, teils Übergangsfristen enthielten und überwiegend keinen sofortigen Austritt aus der Union nach sich zogen, wurde dieser durch die ‹horizontale› Verständigung zwischen den sezessionswilligen Republiken doch der Boden entzogen. So war Gorbačev genau besehen schon seit dem Herbst 1990 ein General ohne Truppen. Macht und Initiative gingen für alle sichtbar unter der faktischen, wenn auch unausgesprochenen neuen Führung der Russischen Föderation auf die Republiken über.[31]
Mit der Erosion der Zentralgewalt seit dem Sommer 1990 begann die vierte Phase der Perestrojka. Sie war zugleich die letzte, die im Putsch vom 19.–21. August 1991 einen dramatischen Höhepunkt erreichte und deren Ende in Gestalt der Auflösung der Sowjetunion am 31. Dezember desselben Jahres einen Einschnitt von wahrhaft säkularem Format markierte: Dieser Tag enthüllte nicht allein Gorbačevs Reform endgültig als vergebliches Aufbäumen, sondern besiegelte zugleich das Schicksal des ersten sozialistischen Staates der Erde. Dabei gilt auch für diese Zäsur, dass sie in vieler Hinsicht nur Entwicklungen gebündelt ans Licht brachte, die sich unter der Oberfläche schon länger vollzogen. Im gegebenen Fall bietet es sich an, mindestens zwischen einer kürzeren und einer längeren zeitlichen Perspektive zu unterscheiden. Erstere gehört zur Geschichte der Perestrojka, Letztere zur Geschichte der gesamten Sowjetunion.
Wann das definitive Ende beider begann, lässt sich nicht genau festlegen. Mehrere Vorgänge summierten sich zu einer weiteren ‹qualitativen› Veränderung, die einige Anhänger des Ancien Régime endgültig zu der Überzeugung brachte, dass die Zeit zu handeln gekommen sei. Die Grenze, deren Überschreitung sie als nicht mehr hinnehmbar betrachteten, markierte dabei die Auflösung des Gesamtstaates. Fraglos wirft diese Gewichtung abermals ein bezeichnendes Licht auf den ‹real existierenden Föderalismus›. Die Anhänger der alten Ordnung nahmen die Glasnost’, die Verdrängung des alten Obersten Sowjets durch den halbdemokratischen Volksdeputiertenkongress und sogar die Abschaffung des Parteimonopols mit der Folge der Verlagerung der Macht auf den Staat hin – aber sie waren nicht bereit, den Untergang des Imperiums zu akzeptieren. Sowjetherrschaft und Zentralgewalt ließen sich in ihrem Verständnis nicht trennen; das Reich mit seiner atomwaffengestützten Weltgeltung erschien ihnen als Kern der Hinterlassenschaft der Revolution, der nicht aufgegeben werden durfte. Es mag offenbleiben, ob auch darin ein spezifisches Vermächtnis Stalinscher ‹Staatsräson› zutage trat oder eine Identifikation, die in gleicher Weise schon auf Lenin und den Bürgerkrieg zurückging. Verbürgt ist in jedem Fall, dass der konservative Schulterschluss spätestens im Frühjahr vollzogen wurde. Dies war kaum zufällig die Zeit, als die Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag auf einen erfolgversprechenden Weg gebracht wurden.
Im Rückblick liegt es nahe, den Personalwechsel an der Spitze mehrerer wichtiger Behörden Ende 1990 zum Vorboten des kommenden Unheils zu erklären. Gorbačev beging seinen (nach dem Verzicht auf die Direktwahl zum Präsidenten) zweiten schweren Fehler, als er nicht nur den erwähnten Pavlov zum Premierminister ernannte, sondern um dieselbe Zeit auch den liberalen Innenminister V. V. Bakatin durch den Reformgegner B. K. Pugo ersetzte und den farblosen Funktionär G. I. Janaev zu seinem Stellvertreter beförderte. Gemeinsam bildeten sie einen konservativen Brückenkopf im Zentrum der Macht, der auch anderen Schutz bieten und als Schaltstelle für restaurative Aktivitäten dienen konnte. Vor allem aber erregte der überraschende Rücktritt Ševardnadzes Aufsehen und Betroffenheit. Der Außenminister erfreute sich im Ausland einer ähnlichen Beliebtheit wie Gorbačev selbst. Im Inland galt er als besonders aufrechter Verfechter des neuen Kurses. Als er sein Amt am 20. Dezember 1990 – nach der ‹samtenen Revolution› im ehemaligen Ostblock und der deutschen Wiedervereinigung – mit der dunklen Andeutung zur Verfügung stellte, dass ein reformfeindlicher Staatsstreich bevorstehe, horchte die ganze Welt auf. Aber kaum jemand wollte die Warnung glauben, solange Gorbačev noch im Amt war. Erst im Nachhinein zeigte sich, dass Ševardnadze gute Gründe für seine Äußerung hatte. Offenbar durchschaute er die (bald als ‹Winterkrieg› bezeichnete) konservative Offensive oder wusste von ihr. Umso rätselhafter bleibt, warum er kapitulierte statt zu kämpfen. Der Verdacht muss erst noch widerlegt werden, dass Gorbačev um diese Zeit nach der Ablehnung des ‹500-Tage-Plans› ein wie auch immer geartetes Bündnis mit seinen Gegnern einging.[32]
Im Besitz dieser Schlüsselpositionen glaubten die Gegner der Perestrojka, ein Exempel statuieren zu können. Es galt der besonders aufsässigen Unionsrepublik Litauen, deren Nationalbewegung «Sajudis» sich (in einem Lande, wo es anders als in Estland und Lettland keine nennenswerte russische Minderheit gab) ungewöhnlicher Popularität erfreute. Unter ihrem Eindruck hatte sich selbst die Kommunistische Partei – als erste überhaupt – von der KPdSU losgesagt (19. Dezember 1989) und die Unabhängigkeitserklärung vom 11. März 1991 mitgetragen. Dieselbe, demokratisch neugewählte Versammlung hatte die Adjektive «sozialistisch» und «sowjetisch» aus dem Staatsnamen getilgt und eine neue, die erste nichtkommunistische Regierung in der Sowjetunion eingesetzt. Danach waren heftige Spannungen zwischen Gesamtstaat und Republik ausgebrochen, die mehrfach hart an den Rand militärischer Gewaltanwendung führten, aber nicht beigelegt werden konnten. Als sich im Januar 1991 eine abermalige Konfrontation anbahnte, weil Litauen seinen Beitrag zum neuen Unionsbudget verweigerte, griff die sowjetische Armee ein und umzingelte das Parlament sowie den Fernseh- und Rundfunksender von Wilna. Zwei Tage später, am 13. 1., starben vierzehn Litauer, und über Hundert wurden verwundet, als die ‹Schwarzen Barette› das Nachrichtengebäude stürmten. Hunderttausende strömten daraufhin auf die Straße und verteidigten das Parlament. Die internationalen Protestwellen schlugen hoch. Jelzin bekundete demonstrative Solidarität, als er zur Beerdigung der Opfer anreiste. Gorbačev beteuerte mehrfach, keinen Sturmbefehl gegeben zu haben. Bis heute bleibt unklar, wo die Entscheidung genau fiel. Die Spuren verlieren sich zwischen den Führungsstäben des KGB und des Verteidigungsministeriums sowie den jeweils örtlichen Einsatzzentralen. Ihre ungefähre Richtung erscheint aber eindeutig. Kaum zufällig waren mehrere Kommandierende beteiligt, die später zu den Putschisten gehörten; und nicht ohne Grund gaben deren Aussagen der Attacke im Rückblick den Stellenwert einer Generalprobe.[33]
Auch Gorbačev scheint dies so gesehen zu haben und zog seine Lehren. Zum einen bemühte er sich verstärkt um eine demokratische Legitimation für den Erhalt des Gesamtstaates; diesem Zweck diente das Referendum vom 17. März 1991. Zum anderen kam er den Wünschen der Republiken im Entwurf zu einem neuen Unionsvertrag so weit entgegen, dass Ende April der «Prozess von Novo-Ogarevo» beginnen konnte. Mit beiden Schritten entfernte er sich wieder von den Konservativen, die sie auch so werteten. Ohne dass es bislang eindeutige Belege für eine solche Rezeption gibt, liegt es nahe, einige Marksteine der weiteren Entwicklung bis zum August als Bestätigung der Befürchtungen der Frondeure zu deuten. Anfang März traten die Bergleute in einen landesweiten Streik, dem sich im April weißrussische Industriearbeiter aus Protest gegen Preiserhöhungen anschlossen. Nach wirkungslosen Verboten bedurfte es des Einsatzes von Jelzin, um ihn zu beenden. Am 12. Juni feierte dieser seinen größten Triumph, als er mit großer Mehrheit (57,3 %) vor seinem nächsten Rivalen Ryžkov (16,8 %) zum ersten aus einer direkten (sowie allgemeinen, freien und gleichen) Abstimmung hervorgegangenen Präsidenten Russlands und der gesamten russischen Geschichte gewählt wurde. Nachdem er Anfang April, von Massendemonstrationen unterstützt, den Versuch seiner Gegner im russischen Volksdeputiertenkongress abgewehrt hatte, ihn zu stürzen, verschaffte ihm dieses Ergebnis ein solides, ohne Gewaltanwendung nahezu unerschütterliches Fundament in der mit Abstand wichtigsten Sowjetrepublik. Sein Sieg musste die Gegner der Perestrojka umso heftiger aufschrecken, als das klare Votum für ihn zugleich die Billigung radikal-demokratischer und marktwirtschaftlicher Reform und den Auftrag bedeutete, eine derartige ‹Beschleunigung› des Umbruchs auch gegen die Union voranzutreiben. Jelzin machte umgehend klar, dass er das Ergebnis in gleicher Weise verstand, und verbot am 20. Juli alle kommunistischen Parteizellen in russischen Staatseinrichtungen (einschließlich der Unternehmen). Eine größere Demütigung der wenige Jahre zuvor noch allmächtigen Monopolpartei war kaum denkbar; die neue (und alte zarische) weiß-blau-rote Nationalflagge verdrängte nicht nur symbolisch das rote Hammer-und-Sichel-Banner. Um das Maß voll zu machen (in dieser Perspektive), verlor auch Gorbačev die Geduld und beraumte Ende Juli einen außerordentlichen Parteitag für Dezember (1991) an, der die widerspenstige Partei endgültig zur Selbstreform zwingen sollte.[34]
Was sich rein äußerlich-faktisch in den Putschtagen vom 18. bis zum 22. August 1991 ereignete, lässt sich recht zuverlässig rekonstruieren. Die Hauptverschwörer: KGB-Chef Krjučkov, Verteidigungsminister D. T. Jazov, Ministerpräsident Pavlov und Vizepräsident Janaev, kamen am Samstag, dem 17. August – drei Tage vor der geplanten Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags – zusammen, um das genaue Vorgehen abzustimmen. In ihrem Auftrag suchte eine Delegation am Sonntagnachmittag, dem 18., Gorbačev in seinem Feriendomizil in Foros auf der Krim auf, um entweder seine Zustimmung zur Verhängung des Notstandes oder die Übertragung seiner Vollmachten an den Vizepräsidenten zu erzwingen. Gorbačev verweigerte beides und warnte die ungebetenen Gäste nach eigener Darstellung eindringlich davor, das Land ins Unglück zu stürzen. Vorsichtshalber hatten die Konspirateure sämtliche Telefonleitungen des Präsidenten unterbrochen, so dass dieser von der Außenwelt abgeschnitten war. Am Montag, dem 19. August, um 6.00 in der Frühe wandte sich ein «Staatskomitee für den Ausnahmezustand in der Sowjetunion» mit der Erklärung an die Sowjetbürger, dass der Präsident unfähig sei, seine Amtsgeschäfte auszuüben, und Vizepräsident Janaev alle Vollmachten übernommen habe. Es verhängte ein Demonstrationsverbot und unterstellte die Medien seiner Kontrolle. Die Perestrojka, so hieß es erläuternd, sei in eine «Sackgasse» geraten und das Land «unregierbar» geworden. Extremisten träten das Referendum über die «Einheit des Vaterlandes» mit Füßen, «Egoisten» nützten die Marktwirtschaft zur schamlosen Bereicherung auf Kosten der verarmenden Mehrheit aus. «Stolz und Ehre» seien den Sowjetmenschen genommen worden und müssten durch «wahrhafte demokratische Prozesse» und eine «Erneuerung» des «Vaterlandes» wiederhergestellt werden. Zur Unterstützung des Appells rollten Panzer in das Zentrum der Hauptstadt, die vor allem das «Weiße Haus an der Moskwa», Sitz des russischen Präsidenten und Tagungsort des russischen Volksdeputiertenkongresses, umstellten. Ohne weitere Befehle bezogen sie dort Position und warteten ab.
Im Rückblick muss es schon als Ursache für den Fehlschlag des gesamten Staatsstreiches gelten, dass es dem absehbar entscheidenden Gegner der Putschisten und nach (vielleicht sogar schon vor) Gorbačev mächtigsten Politiker der Sowjetunion, dem russischen Präsidenten, nicht nur gelang, der Verhaftung zu entgehen, sondern samt Limousinenkonvoi mit Stander gleichsam offiziell sein Dienstgebäude an der Moskva zu erreichen. Hier konnte Jelzin eine Pressekonferenz geben und sich vom Turm eines ‹übergelaufenen› Panzers aus an die Menschenmenge wenden, die sich inzwischen zur Verteidigung des Parlaments eingefunden hatte. In seiner vorbereiteten Rede verurteilte er die Entmachtung Gorbačevs als «reaktionären, antikonstitutionellen Staatsstreich», bekräftigte Russlands Wunsch, die Reformen im Rahmen einer erneuerten Union fortzusetzen, erklärte alle Anordnungen des Notstandskomitees für gesetzeswidrig und rief «die Bürger Russlands» dazu auf, den Putschisten würdig zu antworten und das Land auf den verfassungskonformen Weg zurückzuführen. Zugleich forderte er die Offiziere und Soldaten auf, den «Hochstaplern» nicht auf den Leim zu gehen und sich an ihren «Treueeid auf das Volk» zu erinnern. Es folgten zwei dramatische Tage der Konfrontation zwischen den Verteidigern des Weißen Hauses und den wenigen Truppenteilen, die den Befehlen der Putschisten gehorchten. Hinter diesen äußeren (wie keine analogen je zuvor in der Geschichte direkt in alle Welt übertragenen) Ereignissen verbarg sich letztlich eines: ein zähes Ringen um die Loyalität der schlagkräftigsten und interventionsfähigen (d.h. nahe genug stationierten) bewaffneten Einheiten, dessen Ausgang nicht nur von der politischen Überzeugungskraft, sondern auch vom psychologischen Geschick der Kontrahenten abhing. Die Entscheidung fiel, als der Ansturm stärkerer Panzereinheiten auf das Weiße Haus während der ersten Stunden des 21. August in den Barrikaden und der Menschenmenge steckenblieb. Drei junge Männer, die den Panzerfahrern die Sicht zu nehmen oder die Luke zu öffnen versuchten, wurden dabei getötet. Am Vormittag forderte das russische Parlament die Verschwörer auf, sich zu ergeben. Am frühen Abend telefonierte Jelzin mit Gorbačev, der um Mitternacht, von vier Tagen Haft und Ungewissheit gezeichnet, auf dem Moskauer Binnenflughafen eintraf. Gegen Mittag des 22. konnten die Verteidiger ihren endgültigen Triumph auf dem Vorplatz des Weißen Hauses mit einer Großdemonstration feiern: Über dem Gebäude wehte die weiß-blau-rote, nunmehr zum offiziellen Staatsemblem erhobene Flagge.[35]
Schon dieser Wechsel der Symbole deutete an, dass nichts mehr so war wie vorher. Der Präsident der UdSSR kehrte – so seine vielzitierten Worte – in «eine andere Welt» zurück. Fortan amtierte Gorbačev von Jelzins Gnaden. Die eigene Partei hatte in einer denkwürdigen Sitzung am ersten Putschtag keinen Finger für ihn gerührt, seine Regierung ihn verraten, und der misslungene Coup tat ein Übriges, um seine Macht weiter zu untergraben. Bilder zeigen manchmal mehr als Worte und Taten. Als der heimgeholte Staatspräsident am 23. August im russischen Parlament sprach, führte ihn Jelzin wie einen Tanzbären vor: Es war eine gezielte Demütigung, als er in Anwesenheit Gorbačevs ein Dekret unterschrieb, das die Tätigkeit der KPdSU auf dem Territorium der RSFSR verbot. Die Pravda wurde geschlossen, das ZK-Gebäude (samt anderer Parteistellen) versiegelt. Am 24. August zog Gorbačev die unvermeidliche Konsequenz und trat als Generalsekretär zurück. Am 29. erweiterte der Oberste Sowjet der UdSSR Jelzins Erlass auf das gesamte Staatsgebiet. Anfang September löste sich dieses Gremium selbst auf. Am 24. Oktober wurde der KGB abgeschafft. Am 6. November untersagte Jelzin der im Vorjahr gegründeten russischen KP jegliche Aktivität. Es war nicht viel, was Gorbačev blieb. Dennoch hielt er an der Idee des Gesamtstaats fest. Schon um eines Gegengewichts gegen die russischen Organe willen rief er neue sowjetische ins Leben. Den Platz des alten Obersten Sowjets übernahm ein Gremium gleichen Namens, das sich aus Repräsentanten der (kooperationswilligen) Unionsrepubliken zusammensetzte, und sich selbst stellte er unter seinem Vorsitz einen Staatsrat aus den Präsidenten von elf Republiken (die drei baltischen und Georgien blieben fern) zur Seite. Es ist deutlich, wo Gorbačev seine letzte Bastion sah – in den Provinzen des Reiches, die endgültig zu selbständigen politischen Einheiten geworden waren und die eigentliche Herrschaft im Sinne der anerkannten und durchsetzungsfähigen Zwangsgewalt ausübten. Dabei mochte Gorbačev auch auf die keimende Furcht der Schwachen gegenüber dem Riesen Russland rechnen und sich neue Akzeptanz als Vermittler erhoffen.
Eine solche Rettung der Union und seines Amtes setzte freilich die Bereitschaft der Republiken zur Mitwirkung voraus. Gorbačev sah dies und drängte auf der Grundlage eines neuerlichen Vertragsentwurfs zur Fortsetzung des ‹Prozesses von Novo-Ogarevo›. Doch unter dem Eindruck des Putsches schwand der Kooperationswille endgültig. Schon vor dem Putsch hatte Georgien den litauischen Schritt wiederholt und seinen förmlichen Austritt aus der Union erklärt (9. April 1991). Erst recht gab es nach der Bedrohung der Perestrojka durch ihre Gegner – sei es aus Furcht vor einer siegreichen Wiederholung oder angesichts der Scherben, in die der Gesamtstaat zerfallen war – kein Halten mehr: Am 20. August folgte Estland, am 21. Lettland, am 24. die Ukraine, am 25. Weißrussland, am 27. Moldawien, am 30. Azerbajdžan, am 31. Kirgistan, am selben Tag Uzbekistan, am 9. September Tadžikistan, am 23. Armenien und am 27. Turkmenistan. Übrig blieben allein Russland und Kazachstan, die auch am deutlichsten um die Rückkehr der Ausgeschiedenen in eine erneuerte Union warben. Einige kleinere (und ärmere) Republiken (nicht die baltischen) wären dazu wohl bereit gewesen. Aber der wichtigste Staat, ohne den ein Gesamtstaat zu Recht sinnlos erschien, verweigerte sich. Die Ukrainer bekräftigten ihre Unabhängigkeitserklärung am 1. Dezember 1991 in einem Volksentscheid und wählten zugleich den ehemaligen Ersten Sekretär ihrer KP, L. M. Kravčuk, zum neuen, eigenen Präsidenten. Damit waren die Würfel gefallen. Was folgte, kam – wenn man nicht schon die gesamten Ereignisse seit dem Augustputsch so bezeichnen will – einer Abwicklung gleich. Erneut ergriff Jelzin die Initiative und regte in Erweiterung der letzten Überlegungen zu einer neuen Struktur der Union (die als Staatenbund und nicht als Bundesstaat wiedererstehen sollte) die Gründung eines losen Verbandes souveräner Staaten an, der sich am Völkerrecht (UN-Charta, KSZE-Abkommen) orientieren, ausdrücklich die Unverletzlichkeit der Grenzen anerkennen und die gemeinsame Ausübung von Kompetenzen auf die strategischen Atomwaffen beschränken sollte. Einschlägige Gespräche wurden offenbar hinter Gorbačevs Rücken und nur mit den beiden slavischen Nachbarrepubliken Ukraine und Weißrussland geführt. Am 7. Dezember 1991 kamen die Präsidenten dieser drei Republiken bei Minsk zusammen und hoben unter bewusster Vermeidung des Wortes «Bund» (sojuz) die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) aus der Taufe. Wenig später trafen sich die Führer von acht nichtslavischen Republiken in Aschchabad (12. Dezember) und beschlossen trotz Kränkung ihren Beitritt. Am 21. Dezember unterzeichneten alle elf angehenden Partner in der kazachischen Hauptstadt Alma Ata ein entsprechendes Dokument. Als der Gastgeber N. A. Nazarbaev – kein sezessionistischer Heißsporn, sondern seit April Gorbačevs treuester Gehilfe bei der Rettung der Union – danach vor die Presse trat, hatte er ein Ereignis von wahrhaft weltgeschichtlicher Bedeutung zu verkünden: Die Sowjetunion war nicht mehr. Nach dem Rücktritt Gorbačevs (am 25.), nun Präsident ohne Staat, hörte sie am Ende des 31. Dezember 1991, 69 Jahre nach ihrer Gründung (im Dezember 1922), 74 Jahre nach ihrer politischen Entstehung in der Oktoberrevolution von 1917, gleichsam durch einen Federstrich ihrer Mitglieder auf zu bestehen.[36]
Pointiert hat man deshalb gesagt, das Beste an der Perestrojka sei ihr Ende gewesen. Daran ist so viel richtig, dass es in moderner Zeit wohl niemals einen Staat von vergleichbarer Größe und Bedeutung gegeben hat, der so geräuschlos und friedlich von der historischen Bühne abgetreten ist. Auch wenn man den Umsturzversuch sinnvollerweise einbezieht, bleibt dieses Fazit bestehen. Im August waren drei Tote zu beklagen, sicher drei zu viel, aber überaus wenig, wenn man den Untergang der Sowjetunion mit ihrer Entstehung in Revolution und Bürgerkrieg oder ihren Opfern in der Zwischenzeit vergleicht. Wer eine Erklärung sucht (und den Rückblick auf die Gesamtgeschichte des Staates zunächst ausklammert), wird auf den Zusammenhang zwischen Putschabwehr und Perestrojka stoßen. Zum einen liegt auf der Hand, dass der Staatsstreich schlecht vorbereitet und dilettantisch war. Sarkastische Zungen kommentierten, er habe sich auf eben dem Niveau abgespielt, auf dem das Land seit 1917 regiert worden sei. Wie einige Verschwörer nach ihrer Verhaftung aussagten, gab es keinen genauen Plan. Die Junta war uneins und nervös, eine Schlüsselfigur (Pavlov) betrunken. So konnte es geschehen, dass sich Jelzin nicht einmal verkleiden musste, um ins Weiße Haus zu kommen, von hier aus ins Ausland telefonieren konnte (er sprach mit mehreren westlichen Regierungschefs), weder Elektrizität noch Wasser abgestellt wurden und die gefürchtete Eliteeinheit «Alpha» des KGB in den Kasernen blieb. Zum anderen hatte man nicht mit offenem Massenwiderstand gerechnet. Ševardnadze traf ins Schwarze, als er post festum meinte, die Putschisten hätten das Wichtigste nicht bedacht: dass die verhasste Perestrojka das Volk verändert habe. Aus fügsam-verängstigten Untertanen waren, jedenfalls in der gegebenen Situation und in größerem Maße als zuvor, mitdenkende, aktive Bürger geworden. Dies meinte auch Gorbačev, als er den Erpressern in Foros voraussagte, sie würden scheitern, weil sich das Volk nicht wie Bataillone kommandieren lasse.
Allerdings kam ein entscheidender Faktor hinzu – die Person Jelzins und das, wofür er stand. Die Behauptung erscheint nicht aus der Luft gegriffen, dass in den schicksalhaften Augusttagen zwei Umstürze zugleich stattfanden: ein vergeblicher der Junta und ein erfolgreicher der Radikalreformer. Denn der russische Präsident nutzte seine Popularität und überlegene Legitimität für eine Anordnung von hoher Symbolkraft und grundlegender Bedeutung, die aber seine Kompetenzen überschritt (wie auch das Verfassungsgericht später rügte): das Verbot der KPdSU samt der Konfiszierung ihres Vermögens. Zwar mag man über die Unterstellung streiten, er habe die Gefahr bewusst übertrieben, um seinen Handlungsspielraum zu vergrößern. Aber nicht zu leugnen ist, dass er die Gelegenheit ergriff, um reinen Tisch zu machen. Wenn sich historische Alternativen auch durchsetzen, weil sich Prädispositionen verschiedener Art, struktureller und personeller ebenso wie politischer und geistiger, in ein und dieselbe Richtung bewegen, dann handelte der richtige Mann zur richtigen Zeit richtig. Auch dies ist ein Aspekt der von Lenin beschworenen «Kunst des Aufstands» – nur ins Gegenteil gewendet. So gesehen vollzog die ‹Revolution› von unten als Abwehr des Staatsstreichs von oben nur, was längst überfällig war; und so gesehen war der Augustputsch samt der nachfolgenden Abwicklung der Sowjetunion, wie auch Gorbačev in seinen letzten Reden einräumte, in der Tat ‹nur› ein «reinigendes», aber notwendiges und unvermeidliches «Gewitter».[37]
Allerdings scheint diese Dimension inzwischen im Licht der nachfolgenden Passivität der Bevölkerung und der Hinnahme der autoritären Wende im neuen Jahrtausend weitgehend aus dem Bewusstsein verschwunden zu sein. Stattdessen hat die Neigung zugenommen, die gesamte Perestrojka nicht nur für missraten und verunglückt, sondern sogar für überflüssig zu erklären. Zwar sei es der Wirtschaft in den letzten Brežnevjahren und danach nicht gut gegangen, aber sie sei immerhin noch gewachsen (1980–84 ca. 2 % p. a.); der Staat habe keine Auslandsschulden gehabt, niemand sei arbeitslos gewesen, die Bevölkerung habe zufriedenstellend, wenn auch auf niedrigem Niveau ernährt werden können, und es habe – anders als etwa in Polen – keine Massenproteste gegeben. Kurz, wäre nicht Gorbačev an die Macht gekommen, sondern ein anderer, wäre «ein Szenario des ‹Durchwurstelns›» wahrscheinlich gewesen.[38] Und auch der ‹chinesische Weg› der (weitgehenden) Freigabe des Marktes unter Beibehaltung der oligarchischen Parteiherrschaft gerät – analytisch oder nostalgisch – in den Blick. Die Sowjetunion hätte Bestand haben können, wenn der neue Mann die Demokratisierung nicht vorangetrieben und im In- und Ausland Gewalt gebraucht hätte. Mit dieser Wendung des Gedankens hört die Perestrojka auf, Folge der Krise zu sein; stattdessen wird sie zu ihrem Ursprung. Gorbačev ist in dieser Persepktive nicht länger Feuerwehrmann, sondern, wenn auch ohne Absicht, Brandstifter. Er ist nicht Teil der Lösung, sondern Ursache des Problems.[39]
Am Ende dieses Kapitels erübrigt es sich, die Argumente noch einmal zusammenzutragen, die gegen eine solche Sichtweise sprechen. Stattdessen mag es genügen, auf ihre grundsätzliche Schieflage zu verweisen. Es kann nur in die Irre führen, wenn man allein die Wirtschaftsdaten betrachtet und erst recht, wenn man die absoluten Zahlen zum Nennwert nimmt. Das geschieht trotz aller Relativierung durch die Einordnung in einen längeren Zeitraum, wenn ein Ergebnis diesseits der Null als Wachstum gedeutet wird. Absolut gesehen, mag das richtig sein; entscheidend aber ist die Wahrnehmung durch die strategisch maßgebliche Elite. Diese machte zwar aus dem Plus kein Minus, schenkte der Entwicklungskurve jedoch größere Aufmerksamkeit und kam zunehmend zu dem Ergebnis, dass ein solches Wachstum nicht ausreiche, um den selbstgesetzten Zielen oder gar den ideologischen Versprechungen zu genügen. Sehr wahrscheinlich spiegelte sich in diesem Krisenbewusstsein auch die Sehweise großer Teile, wenn nicht der Mehrheit der Bevölkerung. Wohl litt sie keinen Hunger, hatte aber allen Anlass, viele Mängel und Engpässe zu beklagen. Dabei ist es unerheblich – und ohnehin kaum messbar –, ob diese real zunahmen oder nicht. Ausschlaggebend ist auch hier ihre Gewichtung vor dem Hintergrund des vergangenen Jahrzehnts.
Gerade weil die mittleren Brežnevjahre auch den einfachen Sowjetbürgern zu nie gekanntem materiellen Wohlstand verhalfen, weil in staatlichen Läden sogar Südfrüchte zu haben waren und Plattenspieler in die Wohnungen einzogen, konnten abermalige «Defizite» nur als Enttäuschung und Rückschlag gewertet werden. Mehr noch, nichts lag näher, als sie in einem politischen System, das, ablesbar an seinen letzten Repräsentanten, sichtbar verfiel und versteinerte, pars pro toto als Exempel seiner gesamten Sklerose zu verstehen. Die Revolutionstheorie hat seit langem darauf hingewiesen, dass nicht absolute Veränderungen der Lebensverhältnisse zu Unzufriedenheit führen, sondern relative. Es kommt auf die Maßstäbe der Wertung und Gewichtung vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen und der Erwartungen im Kontext der Gesamtordnung an; sie definieren die Toleranzschwellen und steuern das individuelle und kollektive Verhalten.[40]
Gewiss hat Gorbačev manche Fehler gemacht. Er hat die Sprengkraft der nationalen Frage völlig unterschätzt, und er ist der naiven Vorstellung erlegen, die bloße Beseitigung zentraler Vorgaben und Kontrolle reiche aus, um mit Hilfe unterdrückter Energien die Volkswirtschaft zu sanieren. Dass sich einige wenige Wendige unter Ausnutzung korruptionsaffiner Netzwerke bereichern könnten, während die Masse der Bevölkerung in Armut versank, hat er offenbar nicht für möglich gehalten und dann zu spät erkannt. Manches spricht auch für die Berechtigung des Vorwurfs, er sei am Ende vor der eigenen Courage erschrocken und habe den letzten Schritt, den Sprung in die Marktwirtschaft, immer weiter hinausgezögert – bis ihm das Schicksal die Entscheidung aus der Hand nahm. Nur eines sollte man Gorbačev nicht vorwerfen: dass er eine nichtexistente Krise erfunden habe und seine Sanierungsstrategie, die so gründlich misslang, unnötig gewesen sei. Zwar war die Masse der Bevölkerung Ende der neunziger Jahre mit Blick auf ihre traurigen materiellen Lebensverhältnisse sehr wahrscheinlich der Meinung, dass die Therapie schlimmer war als die Krankheit. Dies kann aber für den Historiker nicht das einzige Kriterium sein. Anhänger politischer Freiheit und der Achtung von Menschen- und Bürgerrechten dürften zu einem anderen, wenngleich zu keinem optimistischen Fazit gelangt sein. Auf den «Trümmern des Sozialismus» gediehen auch die Hoffnung auf Demokratie und die freie Entfaltung des Einzelnen in einer liberalen Gesamtordnung. Dass sie enttäuscht wurde, darf nicht zum retrospektiven Verdikt über das Sanierungsexperiment werden, dessen Scheitern sie begründete. Auch Einseitigkeit kann eine Form der Nostalgie sein, wenn sie anderes ausblendet. So wie der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht von der Perestrojka zu lösen ist, so lässt sich auch die Perestrojka nicht von einer Krise der sozialistischen Gesamtordnung lösen, die alles andere als eingebildet, nämlich systemisch und chronisch, war. [41]