Natürlich hat die Wissenschaft versucht, auch diesen Prozess rasanter sozialer Polarisierung über die unerlässliche Illustration durch konkrete Beispiele hinaus auf aggregierter Ebene zu erfassen. Die folgende Tabelle 65 stellt einige Indikatoren auf der Grundlage offizieller statistischer Angaben zusammen. Sie zeigt zum einen, dass die Reformer das Land tatsächlich ohne Hilfestellung in eiskaltes Wasser warfen. Von 1991 auf 1992 fielen die Geldeinkommen fast auf die Hälfte; ähnlich sanken die Pensionen im Vergleich selbst zu 1990 noch einmal drastisch. Erst im Folgejahr erholten sich die Einkommen, blieben aber unstet und generell niedrig. Jeder dritte Staatsbürger lebte unterhalb des Existenzminimums, ein Armutsniveau, das sich nur langsam verringerte und nach dem Rubelsturz 1998 noch einmal stieg. Besonders die Rentner traf der abermalige Inflationsschub hart; erstmals sanken ihre Einkommen sogar im Durchschnitt deutlich unter das Existenzminimum. Zugleich lassen die Daten auch die wachsende Ungleichheit klar erkennen. Ein verbreitetes Maß dafür ist das Verhältnis zwischen dem Einkommen der obersten 10 % (Dezile) und dem der untersten 10 % der Bevölkerung. Dieser Wert lag 1990 bei 3,9 und «sprang» bis zum Ende der Dekade auf 13,9. Ähnlich erheblich kletterte ein anderer international verbreiteter und anerkannter Indikator, der Gini-Koeffizient, von 0,260 auf 0,400, wobei 0 vollständige Gleichheit und 1 vollständige Ungleichheit anzeigt.[33] Diese Entwicklung spiegelt nicht nur den Aufstieg der Milliardäre, die naturgemäß nur die nadeldünne Spitze der Pyramide bildeten. Zur obersten Dezile zählten auch schon andere Gewinner des Umbruchs, die sich nun anschickten, als Touristen auf Zypern und andernorts in Erscheinung zu treten. Zugleich gehörte es besonders im ersten Jahrzehnt zu seinen Merkmalen, dass sich das Vermögen auch unter den Profiteuren sehr ungleich verteilte. Art und Durchführung der Privatisierung haben die Weichen, anders als in der anfänglichen Euphorie geplant, nicht so gestellt, dass sich eine breitere obere Mittelschicht hätte bilden können, sondern ganz im Gegenteil.

Bleibt die Frage, ob das Jelzin-Regime auch Erfolge vermelden konnte. Die Antwort wird kaum überraschen: ungeschmälerte nur dort, wo sie sozusagen nichts kosteten. Am nachhaltigsten war sicher die Verständigung mit der Kirche. Trotz allem Arrangement seit 1943 und besonders nach dem Sturz Chruščevs, der den Kirchenkampf der frühen Stalinjahre erneuert hatte, war ein solcher Schritt nach dem Untergang des programmatisch atheistischen Sowjetstaates überfällig. Eine andere Frage bleibt, ob er gleich zur Umarmung und Wiederherstellung der symphonia aus zarischen Tagen hätte führen müssen. Jelzin wollte aber genau dies, und man darf unterstellen, dass er sich auch dabei von einem Grundmotiv seiner Politik leiten ließ: Fakten zu schaffen, um einer Rückkehr zu sowjetischen Verhältnissen ein für alle Mal vorzubeugen. Zum Symbol dieser neuen Eintracht wurde ein Akt, der geschichtsträchtiger und lesbarer kaum hätte sein können: Am selben Ort, an dem Stalin eines der Monumente der Union von Staat und Kirche, die imposante Erlöserkathedrale in Moskau, gestiftet von Alexander I. zur Erinnerung an den Sieg über Napoleon 1812, hatte schleifen lassen (1931), um einen gigantischen Sowjetpalast zu errichten, der höher sein sollte als das Empire State Building in New York, wo dann aber ein großes Freiluftbad gebaut wurde, weil der Untergrund keinen Wolkenkratzer tragen konnte – an eben dieser Stelle ließ Jelzin mit Hilfe von Spendengeldern aus ganz Russland die gesprengte Kathedrale wiederherstellen. Gewiss trug diese Politik Früchte; die Kirche wurde zu einer tragenden Säule des neuen Staates.

Ähnlich suchte das postkommunistische Russland die Aussöhnung mit der gesamten vorrevolutionären Vergangenheit. Auch dieser Akt fand seinen symbolischen Ausdruck. Als Gentests die Identität von Knochen aus einem Waldgrab nahe Ekaterinburg (wo die Zarenfamilie im Juli 1918 erschossen worden war) zweifelsfrei erwiesen hatten, erlaubte Jelzin der Kirche nicht nur die Neubestattung neben den Sarkophagen der Vorfahren in der Kathedrale der Peter und Pauls-Festung in Sankt Petersburg. Er nahm auch persönlich an der Zeremonie teil und inszenierte die Feier als das Ende der Spaltung Russlands, der die Romanov-Familie zum Opfer gefallen sei. Dies war Geschichtspolitik pur: Das neue Russland, das schon die weiß-blau-rote Flagge der Monarchie (natürlich ohne den Doppeladler) übernommen hatte, sollte an das alte anknüpfen – als Demokratie und nach Europa zurückgekehrt, aber im Frieden mit seiner Geschichte und der Kirche, die untrennbar dazugehörte.

Man sollte die Wirkung solcher Symbolpolitik nicht gering veranschlagen. Sie trug maßgeblich dazu bei, dass die kommunistische Nostalgie zu keiner tatsächlichen Renaissance führte. Am Ende des Jahrzehnts befand sich das postsowjetische Russland zwar immer noch in einer schwierigen wirtschaftlich-sozialen Lage, die sich sogar noch einmal zugespitzt hatte, samt einer Krise des Staats als legitimer Ordnungsmacht. Aber gegen eine Rückkehr zum Sozialismus waren so viele Barrieren aufgetürmt worden, dass sie unmöglich schien. Zu ihnen gehörte nicht zuletzt die nationale Selbstbesinnung als weltanschauliche Stütze, die Jelzin förderte, allerdings ohne die Absicht, in slavophiler Tradition ein neues Sonderbewusstsein zu schaffen.[34]

Genauso ungewöhnlich wie die Kür Putins und seine schnelle Bestätigung durch die Duma war die enorme Unterstützung, die ihm zuteil wurde und seinen Aufstieg bis zum höchsten Amt zu einem hindernislosen Durchmarsch machte. Jelzin übertrug ihm unverzüglich die tagtägliche Koordination der militärischen Gegenmaßnahmen im neuen Čečenienkrieg; damit verzichtete er zum ersten Mal auf einen zentralen Bestandteil der präsidentiellen Vorrechte in Fragen der nationalen Sicherheit. Putin wusste mit diesem Pfund zu wuchern. Zupackend und energisch flößte er der Bevölkerung schnell das Vertrauen ein, die Zeit zaudernder Gebrechlichkeit des Staates sei vorbei und eine neue Wehrhaftigkeit habe begonnen. Zugleich war er klug genug, eine Erhöhung der Pensionen als Beginn der Linderung der Massenarmut in Aussicht zu stellen. Binnen kurzem schossen seine Popularitätswerte nach oben, von mageren 4 % im September auf 21 % im Oktober und 45 % im November. Dazu trug auch eine Serie mysteriöser Sprengstoffanschläge in Dagestan und in Moskau bei; den beiden schlimmsten auf Wohnhäuser der Hauptstadt fielen in der zweiten Septemberwoche 213 Menschen zum Opfer, weitere 273 wurden verletzt. Wer hinter diesen Attentaten steckte, ist bis heute ungeklärt geblieben. Die Regierung machte čečenische Terroristen verantwortlich. Andere – wie nachträglich auch Berezovskij – halten das Gerücht für wahrscheinlich, der FSB selber habe seine Hände im Spiel gehabt. Wie auch immer, die Explosionen verbreiteten Angst und Schrecken und halfen dem neuen Mann, sich als Retter zu inszenieren.[35]

Wichtiger aber dürfte die massive Hilfe gewesen sein, die Putin und dem Kreml im Wahlkampf für die dritten Dumawahlen im Dezember 1999 zuteil wurde. Denn diese Abstimmung wurde zur eigentlichen Tauglichkeitsprüfung der neuen Führung und zum abermaligen Richtungsentscheid über die russischen Zukunft, nicht weniger schicksalhaft als 1995, weil Jelzin bei der Präsidentenwahl im folgenden Sommer nicht noch einmal würde antreten können. Mithin fiel im Dezember eine Vorentscheidung darüber, ob Putin auch als Nachfolger Jelzins in Frage kam. Hintergrund der hektischen Aktivitäten war ein Konflikt im grundsätzlich regierungsnahen Lager selber. Denn hier hatte sich Černomyrdins Partei «Unser Haus Russland», die 1995 immerhin einen Achtungserfolg erzielt hatte, nach der überraschenden Entlassung des Ministerpräsidenten – und der Weigerung der Duma, ihn erneut zu bestätigen – weitgehend aufgelöst. An ihre Stelle trat ein neues Wahlbündnis namens «Vaterland – Ganz Russland» (OVR), das durchaus gute Chancen hatte, nach den Kommunisten eine der größten Fraktionen bilden und wie ihre Vorgängerin als Stütze der Regierung dienen zu können. Es wurde allerdings vom entlassenen Primakov angeführt und obendrein vom ehrgeizigen Moskauer Bürgermeister Lužkov unterstützt, den Jelzin ebenfalls nicht mochte. Mithin war der Kreml selber ohne eigene Partei, und alle Zeichen standen auf Sieg für das «Weiße Haus», das zum Konkurrenten wurde.

Dies sollte sich nun, da ein neuer Mann gefunden worden war, ändern, und zwar binnen kurzem. Im Kreml fand sich in dem jungen V. Ju. Surkov ein kreativer Politikstratege, der eine völlig neue, «Einigkeit» (Edinstvo) genannte Partei aus dem Hut zauberte; sie diente nur einem Zweck: den soeben ernannten Ministerpräsidenten (und Jelzin-Erben in spe) zu unterstützen. Zugleich schlug die große Stunde Berezovskijs, der sich stellvertretend für die «Familie» (aber nicht unbedingt Jelzin selber) alle Mühe gab, ihr zum Erfolg zu verhelfen. Er bewog Abramovič und andere Oligarchen, 170 Mio. $ zu spenden; er reiste durch das Riesenreich, um die Gouverneure auf seine Seite zu ziehen, was ihm bei knapp der Hälfte gelang, und er stellte seinen Kanal, das erste russische Fernsehen (ORT), zur Verfügung. Bei Primakov blieben die ‹größere Hälfte› der Gouverneure und der zweite bedeutende Fernsehkanal NTV, der Gusinskij gehörte. Was folgte, hat man den «schmutzigsten Wahlkampf der russischen Geschichte» genannt, in dem Jung gegen Alt stand und als ein trauriger Höhepunkt Röntgenaufnahmen von Primakovs Hüftgelenk im Fernsehen vorgeführt wurden. Geld, Einsatz und Propaganda bewirkten, was sie sollten: Edinstvo sicherte sich aus dem Stand 23,3 % der Stimmen und übertraf damit den Rivalen OVR um mehr als die Hälfte (10,2 %). Zwar stellten die Kommunisten mit 23,4 % erneut die größte Fraktion, aber ihre Obstruktionskraft war gebrochen. Da auch die rechtsextreme LDPR weiter an Stärke verlor (6,0 %) und die Liberalen nichts dazugewannen (5,9 %), verfügte die Exekutive erstmals faktisch über eine parlamentarische Mehrheit (vgl. Tabelle 63). Was Jelzin gern von Anfang an gesehen hätte, war erreicht. Da fiel es kaum ins Gewicht, dass diese Mehrheit sich (noch) auf zwei «Parteien der Macht» verteilte, zumal eine von ihnen klar dominierte.[36]

In jedem Fall hatte Putin seine Bewährungsprobe bestanden. Er hatte sich im November ausdrücklich in die Kampagne eingeschaltet und die Wähler um Unterstützung für die neue Partei gebeten – ohne dass er sie förmlich angeführt hätte (das übernahm sein Weggefährte und heutiger Verteidigungsminister S. K. Šojgu) –, und er hatte sie, mit einer Popularitätsrate von inzwischen 51 %, auch erhalten. Nun konnte Jelzin den nächsten Schritt tun, den er Putin schon vor der Wahl avisiert hatte: ihm seine präsidentiellen Vollmachten übertragen. Dafür nutzte er einen Verfassungsparagraphen, der für den Fall einer temporären Amtsunfähigkeit des Präsidenten Vorsorge traf und dessen Vollmachten auf den Ministerpräsidenten übertrug. Jelzin brauchte also keine neue Regelung oder gar die Zustimmung eines anderen Verfassungsorgans. Symbolträchtig legte er die Übergabe seiner Funktionen auf den letzten Tag des Jahres, der zugleich der letzte eines ganzen Jahrhunderts und eines Jahrtausends war. Seit 12.00 mittags am 31. Dezember 1999 war Putin amtierender Präsident der Russischen Föderation.[37]

Auch damit war der Staffettenwechsel noch nicht ganz vollzogen. Der kommissarische Amtsinhaber musste noch förmlich in direkter Wahl bestätigt werden. Jelzins früher Rückzug erlaubte es, den Termin um ein Vierteljahr vorzuziehen. Statt im Juni sollte die Bevölkerung schon im März 2000 befragt werden. Dies verkürzte den Wahlkampf und erschwerte ihn für Konkurrenten. Putin ließ es aber nicht beim Amtsbonus und der massiven Unterstützung des Kreml bewenden. In diesen Monaten, in denen es trotzdem noch angezeigt schien, um jede Stimme zu werben, verkündete er auch so etwas wie ein Programm. Pünktlich am letzten Dezembertag 1999 erschienen seine Gedanken über «Russland am Vorabend des neuen Jahrtausends»; im Februar folgte ein «offener Brief an den russischen Wähler». Beide Dokumente kreisten um eine Kernbotschaft: Das neue Russland habe genug gelitten, und es sei an der Zeit, seine Kräfte zu vereinen, um sich aus dem Elend der Dauerkrise zu befreien. Putin schloss eine Rückkehr zur alten Ordnung aus, da das Land ungeachtet unbestreitbarer Errungenschaften einen «exorbitant hohen Preis» für das «bolschewistische Gesellschaftsexperiment» gezahlt habe. Zugleich hätten die 90er Jahre gezeigt, dass es keinen Gewinn erbringe, «bloß mit abstrakten Modellen aus ausländischen Lehrbüchern» zu experimentieren. Vielmehr müsse Russland «seinen eigenen Pfad der Erneuerung» finden. Dazu aber sei es nötig, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und sich an die eigene Vergangenheit zu erinnern: Russland werde «keine zweite Auflage der Vereinten Staaten oder Großbritanniens werden», in deren Geschichte «liberale Werte» tief verankert seien. Vielmehr hätten «im Leben unseres Landes und unseres Volkes … der Staat und seine Institutionen und Strukturen immer eine außergewöhnlich große Rolle gespielt»; daran sei anzuknüpfen. Und in Interviews, die im März als Buch veröffentlicht wurden, bezeichnete Putin die Gewöhnung an einen «hochzentralisierten Staat» sogar als Teil des «genetischen Codes» und der Mentalität der russischen Bevölkerung.

In Kenntnis der nachfolgenden autoritären Entwicklung klingen solche Worte nicht nur prophetisch, sondern auch höchst ambivalent. Im Wahlkampf des beginnenden Jahrtausends entsprachen sie jedoch der Erwartung der Bevölkerungsmehrheit. Nach zehn Jahren des Niedergangs staatlicher Autorität, wachsender Kriminalität, dramatischer Verarmung bei gleichzeitiger ungeheurer Bereicherung einiger weniger, die den Staat auch noch zu kontrollieren schienen, und internationaler Demütigung traf die Ankündigung einer Politik zur Stärkung des Staates und Wiederherstellung von Recht und Ordnung auf offene Ohren. Durch energisches Handeln glaubwürdig unterstützt, konnte sie nur auf Zustimmung stoßen. Das Wahlergebnis bezeugte dies in aller Deutlichkeit: Putin wurde bereits im ersten Durchgang mit 52,9 % bestätigt. Der Abstand zu Zjuganov (29,2 %) war groß, und Javlinskij (5,9 %) musste erkennen, dass der Liberalismus nach zehn Jahren Chaos noch weniger Chancen hatte als zuvor (vgl. Tabelle 64).[38]

Solchermaßen bestätigt und gestärkt, zögerte Putin nicht, den Worten Taten folgen zu lassen. Vor allem zwei Ziele und entsprechende Maßnahmen prägten seine erste Amtszeit: zum einen die Rezentralisierung der Macht durch Beschneidung regionaler Kompetenzen, zum anderen die Abdrängung ehrgeiziger Oligarchen von der politischen Macht.

Das Erstgenannte war in mancher Hinsicht leichter zu erreichen, da der neue Präsident von seinen ausgiebigen Vollmachten Gebrauch machen und sich nun auf eine Mehrheit in der Duma stützen konnte. Im Übrigen dürfte ihm die Materie vertraut gewesen sein, da er vor seinem Transfer an die Spitze des FSB in der Kremlverwaltung für die Beziehungen zu den Regionen zuständig gewesen war. Putin wusste mithin, dass der russische Föderalismus durchaus dysfunktionale Eigentümlichkeiten entwickelt hatte. Anders als die Urheber der neuen Verfassung gehofft haben mögen und anders als Nemcov dies allem Anschein nach in Nižnij Novogorod vorgeführt hatte, waren die Regionen nicht zur Wiege eines breiten, aktiven Engagements für die Regelung eigener Belange, sondern oft genug zu Opfern unkontrollierter Selbstbedienung lokaler Eliten geworden. Und auch wenn keine Korruption im Spiel war, blieb die unklare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Zentrum und Unionsgliedern ein ähnlich großes Problem wie die Unterschiede in der Finanzkraft und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Regionen. Das Land war faktisch in seine Bestandteile zerfallen, und die «regionalen Führer entschieden selber, wann sie der Verfassung gehorchen wollten und wann nicht». Insofern lag offen zutage, dass eine Reform des Föderalismus überfällig war. Nur hätte sie aus liberaler Sicht natürlich in die genau entgegengesetzte Richtung mit dem Ziel austarierter Kräfteverhältnisse erfolgen müssen, statt ihn drastisch einzuschränken und im Endeffekt zu strangulieren. Putin aber tat genau das. Schon als eine seiner ersten Maßnahmen verfügte er Mitte Mai 2000 die Einrichtung von sieben neuen sogenannten Föderalbezirken, zu denen jeweils mehrere der 89 anerkannten «Föderalsubjekte» – das konnten große Gebiete ebenso sein wie nichtrussische «autonome Republiken» oder die Hauptstädte – zusammengefasst wurden. Dies geschah nicht real in Gestalt der Neuziehung der Grenzen, sondern rein administrativ durch die Schaffung einer zusätzlichen hierarchischen Ebene, die nur einem Zweck diente: die Kontrolle zu erhöhen, über Abgaben an das föderale Budget zu wachen, Anordnungen effektiver zu erteilen, Wünsche und Forderungen zu bündeln, Zuständigkeiten zu sortieren und Wildwuchs zu beschneiden. Insofern mag man es nicht als Zufall werten, dass die neuen Verwaltungseinheiten weitgehend mit den bestehenden Militärbezirken zusammenfielen und die vom Präsidenten ernannten «Generalgouverneure» mit auffallender Häufigkeit aus dem FSB oder dem Militär kamen. Putin wollte sich auf seine Statthalter verlassen können und hoffte, in befehlsgewohnten Organisationen besonders zuverlässigen Gehorsam zu finden.[39]

Weitere Maßnahmen ergänzten diese Bändigung der Regionen. Ebenfalls bald, im Juli 2000, stimmten beide Häuser, wenn auch nach manchen Verhandlungen und Ergänzungen, dem Vorschlag des Präsidenten zu, die Zusammensetzung des Föderationsrats zu verändern. Anstelle der Spitzen der regionalen Exekutive und Legislative, die ihm seit 1995 qua Amt angehörten, sollten zwei von ihnen ernannte Vertreter dort Platz nehmen. Die Gouverneure versammelte Putin lieber im neu geschaffenen präsidialen «Staatsrat», dem er selber vorstand. Dieser war in der Verfassung nicht vorgesehen und genoss mithin keinerlei Unabhängigkeit. Desgleichen erhob die folgsame Duma noch im Juli 2000 einen Vorschlag Putins zum Gesetz, der es dem Präsidenten fortan erlaubte, Gouverneure zu entlassen, wenn sie mehrfach gegen Bundesgesetze verstoßen hatten, und, sofern die Duma selber zustimmte, sogar Regionalparlamente aufzulösen. Angesichts dieser Drohung waren die Machthaber in der Provinz zweifellos gut beraten, sich bei wichtigen Maßnahmen der Zustimmung des Kreml zu vergewissern. Egoistische Extravaganzen auf Kosten anderer Regionen wurden ebenso erschwert wie die Selbstbereicherung einer schmalen Elite.

Mochte solche Stärkung der Aufsicht im Sinne eines funktionsfähigen Föderalismus noch zu rechtfertigen sein, so ging eine letzte Maßnahme endgültig darüber hinaus: Im Dezember 2004 hob eine gefügige Duma auch die Wahl der Gouverneure auf und übertrug dem Präsidenten das Recht, sie mit Zustimmung der jeweiligen Parlamente zu ernennen. In der Praxis wurde diesen ein Jahr später erlaubt, Vorschläge zu unterbreiten, die der Präsident bestätigte. Damit war der letzte Rest an Pluralismus und dezentraler Demokratie beseitigt. Die «Vertikale der Macht», von der Spindoktoren des Kreml bald sprachen, war in erheblichem Maße Wirklichkeit geworden. Wer Putins Manifest vom Dezember 1999 gelesen hatte, konnte darüber vier Jahre später, am Ende seiner Amtszeit, nicht überrascht sein.[40]

Und auch das zweite Versprechen löste der neue Präsident ein. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte die Öffentlichkeit im In- und Ausland, wie Putin ehrgeizige Oligarchen in die Schranken wies und klarmachte, dass nicht das Geld den Staat beherrschte, sondern der Staat das Geld. Positiv formuliert stellte er das Monopol der demokratisch legitimierten Funktionsträger auf Entscheidungen über die Gesamtordnung einschließlich der Wirtschaft wieder her. Nur nutzte er dabei in wachsendem Maße Mittel und Methoden, die starke Zweifel an der Festigkeit seiner demokratischen – auf den ersten Blick durch seine Nähe zu Sobčak und Jelzin bewiesenen – Überzeugungen aufkommen ließen und der Rechtsstaatlichkeit des neuen Russland Hohn sprachen. Die formal unabhängige Justiz verwandelte sich in ein Instrument der staatlichen Exekutive; zu ‹Recht› wurde, was der Kreml wollte. Der «Verfassungsstaat» wurde vom «Maßnahmenstaat» ausgehöhlt und Russland zum dual state, wie man in Anlehnung an eine klassische Analyse des Totalitarismus formuliert hat. Auch wenn man diese Begriffe flexibel verwendet und die Wesensähnlichkeit des Kontexts auf die wachsende Diskrepanz zwischen dem formalen Rahmen und der Praxis beschränkt, verdeutlichen die Begriffe zu Recht, dass damit der Weg zum autoritären Staat beschritten war. Ob Putin nun der «Mann ohne Gesicht» und der «ewige Spion», unglaubwürdig von Anfang an, war oder permanente «Metamorphosen» durchlief, von «Putin Löwenherz» zu «Putin dem Schrecklichen» – ein «lupenreiner Demokrat» war er schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt nicht mehr.[41]

Zu diesem Eindruck trug der Umstand nicht wenig bei, dass zu seinen frühen Opfern die Medienzaren zählten, mit deren Macht auch die der publizistischen Öffentlichkeit gebrochen wurde. Der Kreml konnte auf solche Weise zwei Probleme auf einmal lösen – ehrgeizige Oligarchen beseitigen und die Waffen, die ihnen genommen wurden, fortan für die eigenen Zwecke nutzen. Dabei lag es angesichts des Zwists im regimetreuen Lager vor der Dumawahl nahe, dass sich der Zorn des Präsidenten vor allem gegen einen der Verlierer richtete, der aufs falsche Pferd gesetzt und ihn, wie ein überaus scharfsichtiger Beobachter notierte, auch noch verhöhnt hatte. Ein Angriffsweg war schnell gefunden. Gusinskij war – wie viele Oligarchen – hoch verschuldet. Er hatte die Fernsehstation NTV mit staatlichen Krediten gekauft und nichts zurückgezahlt. Schon im Mai eröffnete der Generalstaatsanwalt ein Strafverfahren gegen ihn. Er wurde verhaftet, aber nach wenigen Tagen wieder freigelassen – nachdem er dem ‹Verkauf› seines Medienunternehmens an den größten Gläubiger, den Staatskonzern Gazprom, zugestimmt hatte. Gusinskij floh nach Spanien. Dort entging er zwar nach einem neuerlichen Haftbefehl in absentia einer Auslieferung, verlor aber sein Kernvermögen, als bewaffnete Polizisten im April 2001 die Zentrale seines Fernsehsenders und seiner Zeitungen im Auftrag von Gazprom besetzten, die Journalisten entließen und die Zeitungen schlossen. Der «Geist» war «aus der Flasche» und vor allem die internationale Empörung groß. Allerdings verpuffte deren Wirkung spurlos.[42]

Dasselbe galt für eine zweite Operation dieser Art, die schon ein halbes Jahr zuvor zu einem Ende gekommen war, Putins Image im Ausland aber noch länger schädigte. Ihr Opfer hatte wohl am wenigsten mit einer solchen Attacke gerechnet, denn Berezovskij konnte sich mit guten Gründen als Mitsieger betrachten. Allerdings beobachtete er Putins Politik des starken Staates, ebenso wie sein Vorgehen in Čečenien, zunehmend kritisch. Im Herbst 2000 kam es zum offenen Konflikt. Der Staat hatte dabei noch leichteres Spiel. Denn ihm gehörten 51 % der Aktien des Senders ORT, Berezovskij nur 49 %. Nach der Berichterstattung über das tragische Ende eines havarierten Atom-U-Boots (der Kursk), bei dem der Präsident eine höchst unglückliche Figur gemacht hatte, reklamierte der Kreml die Führung des Unternehmens, die er bis dahin dem Minderheitsaktionär überlassen hatte, für sich. Belehrt vom Schicksal Gusinskijs, der ja nicht nur Rivale, sondern auch Geschäftskollege war, zog Berezovskij es vor, einem juristischen Schlagabtausch auszuweichen. Er verkaufte seinen Anteil an seinen ehemaligen Partner Abramovič und ließ sich in London nieder, wo er Asyl erhielt (2003). Von hier aus machte Berezovskij bis zu seinem Tod 2013 immer wieder durch heftige Kritik an Putin und seinem Regime auf sich aufmerksam. Auch wenn man ihm überwiegend glaubte und britische Gerichte seine Auslieferung verweigerten, stand er der Politik, die er einst so gern hatte mitbestimmen wollen, ferner denn je.[43]

Den Schlussakt der Ausbootung, zugleich ihr langwierigstes und aufsehenerregendstes Kapitel, bildete zweifellos der Prozess gegen Michail Chodorkovskij. Ebenfalls Profiteur der legendären Pfandauktionen von 1995, hatte er das meiste aus seiner Beute gemacht. Das riesige Erdölunternehmen Jukos mit den größten Lagerstätten der Welt, das er für 195 Mio. $ ersteigert hatte, wurde schon zwei Jahre später an der Börse auf 9 Mrd. $ taxiert. Effizient und modern geführt, kletterte sein Wert bis 2003 auf 15 Mrd. $, und sein Hauptaktionär galt als Krösus Russlands. Äußerlich eher bescheiden wirkend, nutzte Chodorkovskij sein kaum erschöpfbares Vermögen immer sichtbarer, um auch öffentlich-politischen Einfluss auszuüben. Er sorgte dafür, dass die Duma ein neues, für ihn nachteiliges Steuergesetz ablehnte (und verbündete sich dafür sogar mit den Kommunisten). Er bot der Regierung im Namen der Oligarchen eine zweistellige Milliardensumme im Tausch gegen die definitive Garantie des Eigentums aus den 1990er Jahren an. Er ließ eine Verfassungsänderung ausarbeiten, die das Parlament zu Lasten des Präsidenten stärken sollte, und er begann, «fast alle … Parteien der Opposition» zu finanzieren. Chodorkovskij wurde zum «Idol der liberalen Intellektuellen» und ließ Gerüchte über Aspirationen auf die Präsidentschaft 2008 unwidersprochen. Mit alledem provozierte er den Kreml, was er seit einem Grillabend Putins mit den Oligarchen im Sommer 2001 («Schaschlik-Beratung») wissen musste. Hier kam es offenbar zu heftigen internen Fraktionskämpfen zwischen den restlichen ‹Liberalen› der Jelzin-Ära und den ‹Falken› (siloviki), die großenteils wie der Präsident selber Wurzeln im KGB/FSB hatten. Mit der Verhaftung des Jukos-Vizepräsidenten P. L. Lebedev im Juli 2003 setzten sich die siloviki um Putins Berater und «Schatten» I. I. Sečin (auch er ein Ex-Geheimdienstler und Petersburger) durch. Chodorkovskij hätte endgültig gewarnt sein müssen und war dies wahrscheinlich auch. Dennoch blieb er, couragiert oder hochmütig, wie immer man dies werten will, in Russland und wurde Ende Oktober auf dem Flugfeld von Novosibirsk verhaftet.

Was folgte, entsprach dem Drehbuch der Gusinskij-Entmachtung. Chodorkovskij wurde wegen Steuerhinterziehung, Betrug und anderer Delikte angeklagt, erwartungsgemäß für schuldig befunden und zu acht Jahren Haft in einer sibirischen Strafanstalt verurteilt. Seine ‹Goldgrube›, das größte Ölfeld des Konzerns, gelangte auf verschlungen-durchsichtigem Wege per Auktion an den Staatskonzern Rosneft’, zu dessen Direktoren Sečin gehörte; Jukos musste 2006 Konkurs anmelden. 2009 folgte ein zweiter Prozess wegen Unterschlagung, der mit einer weiteren langjährigen Haftstrafe endete. Diese musste Chodorkovskij aber nicht abbüßen. Zur Überraschung der ganzen Welt begnadigte Putin ihn wenige Tage vor Weihnachten (nach westlichem Kalender) 2013. Über seine Motive kann man nur spekulieren. Kein Oligarch hatte mehr gewagt, den Kopf zu heben. Politisch konnte ihm Chodorkovskij längst nicht mehr gefährlich werden. Aber dieser hatte in der Haft so viel Standvermögen, Prinzipienfestigkeit und Mut bewiesen, sogar Einzelhaft für ein aufmüpfiges Interview in Kauf genommen, dass er zu einer Art Märtyrer und zur personifizierten Anklage gegen das zunehmend autoritäre Regime wurde. Mit der Ausweisung Chodorkovskijs – er lebt heute in der Schweiz – entledigte sich Putin auch dieses Problems.[44]

Die Jukos-Affäre wirkte wie ein Erdbeben, das die subkutane Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Umgebung des Präsidenten und in der gesamten russischen Politik endgültig besiegelte. Die letzten Mitglieder der «Familie» aus der Umgebung Jelzins zogen sich zurück. Symbolisch dafür stand der Oligarch Abramovič, einst Partner Berezovskijs, der mit diesem zusammen 1999 für die Nominierung Putins gesorgt haben soll und auch in dessen ersten Regierungsjahren an seiner Seite blieb. Unter dem Eindruck der neuen Machtverhältnisse begann er 2003, seine Geschäfte und sein ebenfalls riesiges, auf eine zweistellige Milliardensumme geschätztes Vermögen in den Westen zu verlagern. Im März verkaufte er seine Anteile an der Staatslinie Aeroflot und erwarb um die Zeit, als Chodorkovskij verhaftet wurde, den Spitzenclub der englischen Premier League FC Chelsea samt erlesener Immobilien in London, wo er sich hauptsächlich niederließ. Ein Jahr später trennte er sich auch von der Mehrheit der Aktien seines kostbarsten Besitzes, des (1995 gemeinsam mit Berezovskij spottbillig erworbenen) Erdölunternehmens Sibneft, die Gazprom übernahm. Wohl weil Abramovič keinen größeren politischen Ehrgeiz erkennen ließ, blieb ihm eine Enteignung erspart. Er durfte sogar ein Gouverneursamt im Fernen Nordosten (Čukotka) behalten. Auch wirtschaftlich blieb Abramovič in Russland aktiv. Insofern verkörperte er zugleich die zweite Lektion, die Putin den Oligarchen erteilte: dass man sie in Ruhe ließ, wenn sie sich nicht in die Politik einmischten und folgsam blieben. Wer das – wie Deripaska, Potanin, M. M. Fridman, V. F. Veksel’berg, A. B. Usmanov und andere Multimilliardäre der späteren Putin-Zeit – beherzigte, durfte sozusagen bei Hofe bleiben, als «Staatsoligarch».[45]

Nach drei Jahren einer solchen Politik der festen Hand war es kaum verwunderlich, dass den Gegenkräften die Luft ausging. Darüber mochten ihre Sympathisanten frohlocken, soweit die Kommunisten betroffen wurden. Nur erdrückte der starke Staat nicht nur die Nostalgiker und Gestrigen, sondern auch die wenigen Liberalen, die nicht am Chaos der Jelzin-Jahre verzweifelt waren. Ein Übriges tat ein fataler (und eitler) Streit innerhalb dieses Lagers. Da sich am Ende der Jelzin-Ära eine neue Partei, die «Union der rechten Kräfte» (Sojuz pravych sil) gebildet hatte, der so prominente Mitglieder wie die ehemaligen Minister Gajdar, Nemcov, Kirienko und Čubajs angehörten, drohte bei der nächsten Dumawahl eine Spaltung des ohnehin schmalen Wählerreservoirs. Es war dringend angezeigt, die Kräfte mit dem Ziel zu bündeln, die 5 %-Hürde sicher zu überspringen. Wie es scheint, waren die Altliberalen, die fraglos angestammte ‹Rechte› geltend machen konnten, dazu nicht bereit. Im Ergebnis traten beide Parteien separat an. Zugleich hatte sich das Regierungslager weiter konsolidiert. Nach dem klaren Sieg ihres Kandidaten und dem Rückzug Primakovs war es Putins Strategen – treibende Kraft scheint weiterhin Surkov gewesen zu sein – gelungen, die Unterlegenen zum Zusammenschluss zu bewegen. Aus OVR und Edinstvo ging eine neue Partei hervor: Sie, das «Vereinte Russland» (Edinaja Rossija), wurde zur einzigen ‹Partei der Macht›, die in einer präsidialdominierten politischen Ordnung (und einer autoritätsaffinen Gesellschaft) eine ausgeprägte Sogwirkung entfalten konnte. Das Ergebnis der Wahl vom Dezember 2003 fasste diese Entwicklung in nuce zusammen. Edinaja Rossija – angetreten mit dem einzigen Slogan: Putin ist Russlands Rettung – erhielt 37,6 % der Stimmen und 222 Mandate, die schon am Monatsende auf eine knappe Zweidrittelmehrheit (300 von 450) anwuchsen, weil sich viele unabhängige Abgeordnete schnell von den Vorzügen der Zugehörigkeit zur Mehrheit überzeugen ließen. Zugleich schrumpfte Jelzins Angstgegner, die Kommunistische Partei, endgültig zu einer Minderheit von nur noch 12,6 % und 51 Sitzen, halb so viel wie vier Jahre zuvor (vgl. Tabelle 63). Erst recht hatten die Liberalen Grund zu hadern. Wie zu erwarten, ereilte sie ein regelrechtes «Debakel». Keine der beiden streitenden Parteien erreichte das Quorum – in der zweiten Duma der Putin-Ära gab es keine liberale Fraktion mehr.[46]

Nach dieser Abstimmung war für die Präsidentenwahl im März 2004 nichts mehr zu befürchten. Die Berichterstattung im Fernsehen und in der Presse tat ein Übriges. Wie inzwischen üblich, war der Amtsinhaber auf allen Kanälen präsent; die Gegenkandidaten kamen nicht vor. Putin siegte denn auch mit 71,3 % der Stimmen. Der kommunistische Anwärter erreichte nur 13,7 %, und die liberale Aspirantin fiel noch weiter zurück als Javlinskij zuvor (vgl. Tabelle 64). Dennoch: obwohl der Wahlkampf gewiss nicht fair war und die OSZE-Beobachter einen «klaren Verstoß» gegen das Gebot der Gleichbehandlung feststellten, spricht nichts dafür, das deutliche Votum zur Fälschung zu erklären. Putin war populär, sein Sieg «nicht gestohlen». Fraglos rechnete es ihm die Mehrheit der Bevölkerung hoch an, den Staat wieder gefestigt, Sicherheit und Ordnung erneuert, überehrgeizige Oligarchen in die Schranken gewiesen und nicht zuletzt die wirtschaftlich-materielle Lage deutlich verbessert zu haben.[47]

Der so einmütig bestätigte Präsident zögerte denn auch nicht, auf diesem Weg fortzuschreiten und den starken, zentralisierten Staat dabei immer sichtbarer in einen autoritären, repressiven zu verwandeln. Die Medien waren zwar schon im Zuge der Vertreibung Gusinskijs und Berezovskij weitgehend gleichgeschaltet worden; die Justiz hatte sich spätestens mit dem Urteil gegen Chodorkovskij unterworfen, und das Parlament wurde von der Kremlpartei beherrscht. Doch dies reichte den nun tonangebenden siloviki offenbar nicht aus. Der Wortjongleur Surkov wurde wieder aktiv und veredelte die «gelenkte» zur «souveränen Demokratie», die sich nicht von außen sagen lasse, wie sie auszusehen habe. Dies schloss ein, dass sie eben auch so «souverän» sein konnte, die Gewaltenteilung noch weiter auszuhebeln, was immer dann von der Demokratie und der Verfassung realiter übrig bleiben mochte. Zur Ursache für eine Reihe von Maßnahmen erklärte man die Tragödie von Beslan (Nordossetien) im September 2004, als čečenische Terroristen eine Schule überfielen und über dreihundert der mehr als tausend Geiseln beim Sturm auf das Gebäude durch russische Spezialkräfte starben.

Tatsächlich aber dürften äußere Ereignisse wichtiger gewesen sein: die ‹Rosenrevolution› in Georgien im Herbst 2003 (die den westlich orientierten Micheil Saakaschwili ins Präsidentenamt brachte) sowie vor allem die ‹orangene Revolution› in Kiev vom Herbst 2004 (die dem europafreundlichen Präsidentschaftskandidaten Viktor A. Juščenko zum Sieg verhalf). Denn was hier geschehen war, sollte sich in Moskau auf keinen Fall wiederholen. So zog man die Zügel weiter an. Im Dezember 2004 wurde, wie erwähnt, die Direktwahl der Gouverneure abgeschafft. Auch wenn man den Regionalparlamenten ein Vorschlagsrecht einräumte, war es der Präsident, der fortan bestimmte, wer an der Spitze der Regionen stand und wer nicht. Ferner erhöhten Ergänzungen zum Parteiengesetz, namentlich vom Oktober 2004, die Hürden für die Zulassung von Parteien merklich. Vom Januar 2006 an mussten diese mindestens 50.000 Mitglieder nachweisen sowie Regionalverbände mit wenigstens 500 Mitgliedern in der Hälfte der größeren «föderalen Subjekte» des Staates (mit mehr als 500.000 Einwohnern) und mit wenigstens 250 Mitgliedern in den übrigen. Der Effekt bestätigte die Absicht: Zur Wahl Ende 2007 durften nur noch fünfzehn Parteien statt der 33 antreten, die vier Jahre zuvor zugelassen worden waren.

Im Mai 2005 winkte die Duma auch eine grundlegende Reform ihrer eigenen Zusammensetzung durch. Die Direktmandate wurden abgeschafft; alle 450 Abgeordneten zogen fortan über die Parteilisten in Relation zu den jeweiligen Stimmenanteilen ins Parlament ein. Dies veränderte das Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten nachhaltig. Bis dahin hatten nicht nur Parteien, sondern auch lose Wahlblöcke und Wählergruppen Kandidaten aufstellen können. Diese hatten keiner Partei angehören müssen, sondern waren möglicherweise nur von den regionalen Eliten ins Rennen geschickt worden. Nun kanalisierten die Parteien alle Bewerbungen. Da Edinaja Rossija längst auch in den Regionen dominierte, erreichte der Kreml, was er wollte: den Wahlprozess noch stärker zu steuern und bis in den hintersten Winkel des Reichs zu kontrollieren. Und zur Sicherheit, um regionale und sonstige kleinere Parteien definitiv auszuschalten, erhöhte man das Quorum für den Einzug in die Duma auf 7 %.[48]

Angesichts solcher Vorkehrungen konnte es keinen vernünftigen Zweifel am Ausgang der nächsten Wahl geben, die im Dezember 2007 anstand. Dennoch meinte der Kreml, noch nachhelfen zu müssen. Anlass dazu scheint nicht eigentlich diese Abstimmung gegeben zu haben, sondern die folgende: die Präsidentenwahl drei Monate später. Denn laut Verfassung von 1993 durfte Putin kein weiteres Mal antreten, so dass nur zwei Möglichkeiten bestanden: entweder die Verfassung zu ändern oder einen anderen Kandidat aufzustellen. Für beide Optionen schien es angezeigt, der Regierungspartei eine besonders große Mehrheit zu sichern, sei es, um einen neuen Kandidaten mit einem Bonus auszustatten, der für alle Eventualitäten ausreichen würde, oder um ein solides Zweidrittelmehrheits-Polster zu erreichen. Deshalb schickte man zu den anstehenden Dumawahlen, wie schon 2003, nicht nur ‹Stroh›-Parteien ins Rennen, die den Kommunisten und Liberalen Stimmen abjagen sollten. Darüber hinaus tat Putin etwas sehr Ungewöhnliches: Er ließ sich als Spitzenkandidat von Edinaja Rossija aufstellen. Auch wenn er der Partei – wohl um wenigstens formal den Schein der Unabhängigkeit des Präsidenten zu wahren – nicht beitrat, warf er damit das gesamte Gewicht seines Amtes und seiner Person in die Waagschale. Die Abstimmung wurde zur Abstimmung über Putin und ‹sein› Russland, denn Putin sei, wie der langjährige Parteivorsitzende und Dumapräsident B. V. Gryzlov ergeben verkündete, «das gegenwärtige Russland» und ein Russland ohne Putin ein Russland «ohne Führung». Auch Putin setzte in einer Art Wahlrede auf die Wirksamkeit dieses Arguments: Wer nicht zurück wolle zum «korrupten Regime der Oligarchen» und in eine Zeit der «Erniedrigung, Abhängigkeit und des Zusammenbruchs», wer ein «stabiles Russland» wolle, müsse die Partei, für die er antrete, unterstützen. Und da die beiden liberalen Parteien weiter stritten, einzeln um Stimmen warben und das Quorum verfehlten (gemeinsam hatte man ihnen 7,5 % vorausgesagt), bescherte die Dumawahl dem Kreml das Wunschergebnis.

Offiziell entfielen auf das «Vereinigte Russland» 64,3 % der Stimmen und 315 Sitze (von 450), die KPRF erreichte 11,6 % und 57 Sitze und die nationalistische LDPR 8,3 % und 40 Sitze. Hinzu kam eine neue Partei, «Gerechtes Russland» mit 7,7 % und 38 Sitzen (vgl. Tabelle 63), die schon deshalb ungefährlich war, weil sie den Segen des Kreml hatte. Wie vier Jahre zuvor stellten Beobachter des Europarats und der OSZE «gravierende Defekte» fest, bestritten aber die große Popularität nicht, die Putin genoss. Sehr wahrscheinlich gab es Manipulationen; Kundgebungen der Opposition, unter anderem vom Schachweltmeister Garri Kasparov und von Boris Nemcov angeführt, wiesen (mit der Folge sofortiger Auflösung) lautstark darauf hin. Desgleichen fiel das Ergebnis regional sehr unterschiedlich aus. In einigen Republiken wie in Čečenien und Ingušetien erreichte die Zustimmung 80–90 %, dagegen lag sie in den politisch wachen (und fälschungsresistenten) Großstädten wie Moskau, Sankt Petersburg, Volgograd oder Nižnij Novgorod unter 50 %. Dennoch: unterm Strich hatten die Kreml-Strategen ihre Mission erfüllt.[49]

Es folgte, was man eine «gelenkte Nachfolge» genannt hat. Die Entscheidung darüber, wer sie antreten sollte, fiel spät. Offenbar wurde hinter den Kulissen hartnäckig gerungen. Kandidat der siloviki scheint S. B. Ivanov gewesen zu sein, ehemaliger Geheimdienstkollege Putins aus Sankt Petersburg, sein Stellvertreter als Chef des FSB 1998, seit 1999 Mitglied des Sicherheitsrats, seit 2001 Verteidigungsminister und seit 2005 zusätzlich Stellvertretender, zuletzt Erster Stellvertretender Ministerpräsident (nun ohne Portefeuille). Als Gegenspieler auf liberaler Seite galt Dmitrij A. Medvedev, ein noch älterer Freund des Präsidenten aus Zeiten seines Jura-Studiums in Sankt Petersburg, der Ende der neunziger Jahre nach Moskau kam, um ihm als Regierungschef zuzuarbeiten, im Juni 2001 zum Stellvertretenden und im Herbst 2003 zum Leiter der Präsidialverwaltung aufstieg, seit 2000 zugleich Mitglied, 2002–2008 Vorsitzender des Aufsichtsrats von Gazprom und seit 2005 Erster Stellvertretender Ministerpräsident war. Warum sich wer durchsetzte, ist unklar und mag einer bezeichnenderweise wieder auflebenden ‹Kreml-Astrologie› überlassen bleiben. Fraglos stand Ivanov für die Interessen des staatlichen Sicherheits- und Zwangsapparats, mit dem sich seine Karriere recht eng und kontinuierlich verbunden hatte. Dagegen war Medvedev eher ein politischer Administrator und ein Mann der Wirtschaft, dem es gewiss nützte, dass er sich – z.B. im Februar 2007 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos – als Reformer in Szene setzte. Denn der Eindruck wurde allmählich zum Problem, dass sich trotz aller Besserung der Gesamtlage manche Probleme als äußerst zäh erwiesen und Handlungsbedarf bestand. Unbestritten ist in jedem Fall, dass Putin allein entschied. Er stand im ‹russischen Bonapartismus› gleichsam über den Fraktionen und hatte das letzte Wort. Womöglich gab dabei der Umstand den Ausschlag, dass ihm Medvedev nicht nur besonders lange loyal gedient hatte, sondern zu ihm, der dreizehn Jahre älter war, auch wie zu einem Vater aufschaute. Von diesem ‹Ziehsohn› war keinerlei Eigenwilligkeit zu erwarten. Zugleich mochte Medvedev aufgrund eben dieser langjährigen Nähe zum Präsidenten auch für die ‹Falken› als Kompromisskandidat akzeptabel gewesen sein.[50]

Es entsprach dieser intransparenten Auswahlprozedur, dass Putin seine Entscheidung am Ende der ersten Dezemberwoche 2007 bei einem nichtöffentlichen Treffen mit Parteivorsitzenden bekannt gab. Anderntags schon schlug Medvedev seinerseits Putin als seinen künftigen Premierminister vor. Eine Woche später kürte ihn das «Vereinte Russland» auf einem Parteitag zum offiziellen Kandidaten. Die Medien gaben ihm alle Schützenhilfe. Auch die Wahlkommission half, indem sie Michail M. Kasjanov, einst Ministerpräsident und inzwischen zu liberalen Positionen bekehrt, der womöglich eine nennenswerte Stimmenzahl erhalten hätte, wegen ungültiger Unterschriftenlisten ausschloss. Und schließlich beraubten sich die liberalen Parteien selber erneut jeder Chance, weil sie sich auf keinen anderen attraktiven Kandidaten einigen konnten. So geriet auch die Präsidentschaftswahl vom 2. März 2008 zu einer Scheinveranstaltung, deren Ausgang schon vorher feststand: Medvedev erhielt 70,1 % der Stimmen, Zjuganov, der noch einmal angetreten war, 17,7 % und der rechtsextreme Žirinovskij mit 9,3 % (vgl. Tabelle 64) erneut mehr als der kaum bekannte unabhängig-liberale Anwärter mit 1,3 %.[51]

Im Rückblick betrachtet, hat Medvedev als Präsident in den folgenden vier Jahren alle Erwartungen enttäuscht, die Liberale und der Westen in ihn setzten. Die «Tandemokratie», wie sie oft genannt wird, erwies sich nicht nur wegen ihrer allzu großen phonetischen Nähe zur Demokratie als irreführend; sie war auch inhaltlich höchst ungleich. Nicht der Vordermann lenkte, sondern der ‹Hintersasse›. Im Gegensatz zum letzten Stabwechsel acht Jahre zuvor, als Putin schnell erkennen ließ, dass er Jelzins Erbe überwinden wollte, schlug Medvedev keinen anderen Kurs ein. Zwar setzte er einige neue Akzente, benannte auch Defizite und weckte dadurch Hoffnungen. So sagte er im Februar 2008 in einer Rede vor Wirtschaftsvertretern, die am ehesten als programmatisches Manifest zu bezeichnen war, besonders dem «Rechtsnihilismus» in Russland den Kampf an, womit er sowohl schlechte Gesetze als auch deren laxe Befolgung meinte. Letzteres war nicht zu trennen von einem weiteren Übel, das er mit guten Gründen als «schlimmste Seuche unserer Gesellschaft» bezeichnete: der Korruption, gegen die in einer «nationalen» Anstrengung ein «regelrechter Krieg» zu führen sei. Im Vergleich dazu erschienen die weiteren Mängel, die er zu beseitigen versprach, beinahe als nachrangig. Er forderte, die «administrativen Hürden» im Wirtschaftsleben «radikal» zu beseitigen, die Steuerlast zu senken, ein leistungsfähiges und unabhängiges Finanzwesen aufzubauen, die Infrastruktur im Transport- und Energiebereich zu verbessern und die Innovationskraft der Wirtschaft systematisch zu stärken. Auch soziale Probleme vergaß Medvedev nicht, da all dies nicht zu erreichen sei, solange die Armut fortbestehe und ihr Zwilling, der Alkoholismus, grassiere.[52]

Dies alles klang vielversprechend; nur blieben konkrete Reformen aus. Weder war der neue Präsident in der Lage zu verhindern, dass kaum eine Genehmigung oder sonstige staatliche Bescheinigung ohne Schmiergeld zu haben war. Noch verlor das bekannte Wortspiel eines Satirikers des 19. Jahrhunderts seine Gültigkeit, es sei Russlands Glück, dass seine schlechten Gesetze schlecht befolgt würden. Das Gegenteil wäre angesichts einer jahrhundertealten einschlägigen Tradition und der bekannten Wandlungsresistenz sozialer Mentalitäten auch verwunderlich gewesen. Ähnliches galt für die Korrektur der wirtschaftlichen Strukturmängel. Auch hier war keine schnelle Abhilfe zu erwarten. Aber der Staat hätte doch leichteren Zugriff gehabt und wenigstens die Weichen für einen nachhaltigen Umbau stellen können. Die Innovationsinitiative wurde immerhin mit der Gründung der Industriesiedlung Skolkovo bei Moskau als einem russischen Silicon Valley propagandistisch wirksam auf den Weg gebracht.

Ansonsten aber geschah wenig. Das Hauptproblem bestand unvermindert fort: die einseitige Konzentration der Wirtschaft auf die Ausbeutung der Rohstoffvorkommen, mit der Folge, dass auch die Einnahmen des Staates, dem die Konzerne großenteils selber gehörten oder der auf ihre Steuern angewiesen war, von den Nachfrage- und Preisschwankungen auf dem Weltmarkt abhängig waren. Wie sehr ökonomische Diversifikation nottat und welche sozialen Probleme ihr Fehlen verursachte, führten im Sommer 2009 exemplarisch die Bewohner von Pikalevo vor Augen, deren Wohl und Wehe von einem einzigen Unternehmen abhing. Als dieses geschlossen wurde, sahen sie keinen anderen Ausweg, als die Hauptstraße zu blockieren und landesweit auf sich aufmerksam zu machen. Putin selber flog ein und zwang den neuen Besitzer (Deripaska) vor laufenden Kameras zu einer verbindlichen Verpflichtung, das Werk wieder zu eröffnen. Viele andere ‹Monostädte› protestierten aber vergeblich. Sicher gehörte diese Einseitigkeit und Innovationsschwäche zum schwierigsten und zähesten Erbe der sowjetischen Planwirtschaft. Um so eher war zu beklagen, dass auch der vermeintliche Reformer Medvedev nichts daran änderte. Da half es wenig, dass er noch am ehesten auf eine überzeugende Begründung verweisen konnte, weil die globale Wirtschaftskrise der Jahre nach 2008 auch Russland massiv traf. Selbst wenn sie ihn effektiv daran gehindert haben sollte, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen, blieb das Ergebnis dasselbe.[53]

Wenn Medvedev doch noch ‹liberale› Änderungen auf den Weg brachte, wie man sie von ihm erwartet hatte, dann geschah das eher gegen seinen Willen ganz am Ende seiner Amtszeit unter dem Druck der politischen Situation. Denn die sog. Tandemokratie, die nur als Hohn auf einen tatsächlichen Machtwechsel verstanden werden konnte, rief im Verein mit dem Fortbestand von Korruption und bürokratischer Willkür, mit enttäuschten Reformhoffnungen und wirtschaftlich-materiellen Verwerfungen zumindest in den größeren Städten Zentralrusslands wachsende Unzufriedenheit hervor. Als Medvedev Ende September 2011 auf dem Parteitag von Edinaja Rossija dann auch noch die Katze aus dem Sack ließ und öffentlich machte, was nahe lag: dass es eine Absprache zwischen ihm und Putin gebe und er nicht erneut für sein Amt kandidieren werde (was ihm laut Verfassung erlaubt gewesen wäre), da war für viele das Maß des Zumutbaren überschritten. Zum Gesicht und Sprecher des Protests wurde A. A. Naval’nyj, dessen bissiger Spott über die regierende «Partei der Gauner und Diebe» sich in Windeseile durch das Internet verbreitete. Meinungsforscher sagten ihr deshalb für die turnusmäßige nächste Wahl vom Dezember erhebliche Probleme voraus, die auch eintraten. Selbst den offiziellen Angaben zufolge verlor das «Vereinte Russland» 15 % der Stimmen und erreichte nur noch 49,3 % im Vergleich zu 64,3 % 2007. Die KPRF konnte ihren Anteil wieder auf 19,2 % steigern und «Gerechtes Russland» den seinen sogar auf beinahe das Doppelte (vgl. Tabelle 63). Tatsächlich dürfte die Kremlpartei noch deutlich schlechter abgeschnitten haben, da das Ergebnis in einigen Regionen offensichtlich zu ihren Gunsten manipuliert worden war. In Moskau und einigen anderen größeren Städten kam es zu Massendemonstrationen, die an die unruhigen Wendejahre erinnerten.

Kritische Kommentatoren erkannten darin bereits Folgen der Mündigkeit einer neuen Mittelschicht, die nun, beinahe zwei Jahrzehnte nach dem Übergang zu einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung und am Ende eines knappen Jahrzehnts relativer Prosperität, Gestalt angenommen und ihre Ansprüche artikuliert habe. Sicher wird man aus heutiger Sicht mit Blick auf die schnelle Niederschlagung der Proteste und die massive Verschärfung staatlicher Repression in den folgenden Jahren zurückhaltender mit Deutungen sein, die politischen Protesten gleich ein sozialstrukturelles Fundament zuschreiben und ihnen damit auch eine gewisse Dauerhaftigkeit attestieren. Vorerst sollte man es dabei bewenden lassen, die Massendemonstrationen aus ihrem Kontext heraus zu verstehen – als Ausdruck des Überdrusses am jahrelang unveränderten Führungspersonal samt seiner Unfähigkeit, der Korruption und anderer evidenter Probleme des Landes Herr zu werden, sowie als Protest gegen eine zunehmend autoritäre, immobile und intransparente politische Ordnung, die sich meilenweit von dem entfernt hatte, was das neue Russland einst wollte.

In jedem Fall blieb die Empörung nicht ohne zeitnahe Wirkung. Auf Vorschlag des Präsidenten beschloss die Duma Anfang April 2012, die Registrierung von Parteien wieder deutlich zu erleichtern; statt 40.000 Mitgliedern waren nur noch 500 nachzuweisen. Ende des Monats folgte ein Dekret, dass die Hürde für den Einzug ins Parlament wieder von 7 % auf 5 % absenkte. Zugleich wurde auch die Direktwahl der Gouverneure, deren Abschaffung sechs Jahre zuvor der formal geltenden Demokratie besonders augenfällig widersprochen hatte, wieder eingeführt. Allerdings baute der Zentralstaat hier eine Sicherung ein, die dafür sorgte, dass faktisch alles beim Alten blieb. Denn der Präsident erhielt das Recht, die von den Regionalparlamenten zu nominierenden Kandidaten (die weder ihnen noch einer Partei angehören mussten) nach Moskau zu bitten und sie auf Herz und Nieren zu prüfen. Angesichts der Machtverhältnisse im Lande war nicht davon auszugehen, dass überhaupt jemand eine Chance hatte, der ihm nicht genehm war.

Sicher hatte Medvedev nicht nur diese Maßnahme mit Putin abgesprochen. Gleiches galt auch für die anderen genannten. Denn als sie verabschiedet wurden, war der neue Präsident schon gewählt. Wie die Kremlpartei im Dezember musste auch Putin dabei Federn lassen; statt 70,1 % wie Medvedev 2008 oder noch mehr wie er selber 2004 erhielt er nur 63,6 % der abgegebenen Stimmen (vgl. Tabelle 64). Auch die Korrektheit dieser Wahl wurde angezweifelt. Bei Putins Inauguration Anfang Mai flammten die Massenproteste denn auch wieder auf. Aber sie waren nicht von Dauer und gefährdeten das Regime nicht ernsthaft. Wenn auch durch unschöne Szenen getrübt, konnte der neue alte Präsident, der Medvedev umgehend zum Regierungschef ernannte, in Übereinstimmung mit der Verfassung, die nur eine Pause, aber keinen dauerhaften Verzicht vorschreibt, seine dritte Amtszeit antreten.[54]

Putins Erfolg über all diese Jahre, der auch Medvedev ins Amt trug, war unablösbar mit einem bemerkenswerten wirtschaftlichen Höhenflug verbunden, der erst im Gefolge der globalen Bankenkrise von 2008 zu Ende ging (und nach 2010 sogar noch einmal für wenige Jahre, wenn auch gedämpft, zurückkehrte). Denn Jelzins Nachfolger hatte Glück. Schon vor seiner Nominierung zog die Konjunktur, nach zwei Jahrzehnten des Stillstands und tiefen Falls, wieder an. Primakov hätte auf ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von 3 % verweisen können, wenn er Ende 1999 noch im Amt gewesen wäre. Und das neue Jahrtausend begann sogar mit einem Rekordanstieg von 10 % (vgl. Diagramm 9). Als Ursachen kommen vor allem zwei Faktoren in Betracht: zum einen der Sturz des Rubels im August 1998, der Importe verteuerte und Exporte verbilligte, zum anderen und vor allem der parallele Anstieg des Weltmarktpreises für Rohöl, Russlands mit Abstand begehrtestem Handelsgut. Schon 1999 kletterte der Preis pro Barrel von 74 auf 111 $, 2000 auf 175 $ und danach recht kontinuierlich bis 2008 auf 663 $. Ein ähnlicher Boom war bei anderen Rohstoffen zu verzeichnen, zu deren führenden Lieferanten Russland zählte. Der Preis für Erdgas schoss von 86 $ pro 1000 m3 auf 354 $ 2008, der von Kohle im selben Zeitraum von 26 $ pro Tonne auf knapp 80 $, der von Eisenerz von 16 auf 89 $; Kupfer und Nickel blieben kaum dahinter zurück. Solch kontinuierlicher Anstieg ermöglichte auch ein ungefähr gleich bleibendes Gesamtwachstum der Wirtschaft. Dem Ausschlag der Kurve nach oben exakt zur Jahrtausendwende folgte zwar wieder ein Einbruch; aber insgesamt blieb der Zuwachs des Bruttosozialprodukts mit einem Durchschnitt von 7 % pro Jahr erheblich. Am Ende der beiden ersten Amtsperioden Putins konnte sich die Bilanz sehen lassen: Absolut gemessen lag es 2008 um 11 % über dem Stand von 2000; zugleich war die Industrieproduktion um 56 % gestiegen. Im Ergebnis verbesserte sich die Handelsbilanz, der Rubel erholte sich, und Russland konnte seine internationalen Schulden so weit zurückzahlen, dass es 2008 nur noch mit 3 % seines Bruttosozialprodukts in der Kreide stand – eine der niedrigsten Quoten weltweit.[55]

Allerdings fand diese gute Konjunktur noch im selben Jahr ein jähes Ende. Auch Russland wurde von der internationalen Bankenkrise schwer getroffen. Das Wachstum fiel steil auf einen Wert ab, der sogar noch unter dem vom Jahr des Rubelsturzes 1998 lag. Da sich aber der Ölpreis von 2010 an erholte, ging es auch mit der russischen Wirtschaft wieder aufwärts; 2011 war das Niveau von 2008 knapp erreicht. Allerdings zeigte die Gesamttendenz, abermals der Entwicklung des Ölpreises folgend, nunmehr leicht nach unten (vgl. Diagramm 10). Insgesamt hatte Medvedev somit deutlich weniger Glück als Putin. Auch wenn die Wirtschaft recht schnell wieder Tritt fasste, war der Spielraum für Reformen, die Geld kosteten, denkbar gering. Er war im Wesentlichen damit beschäftigt, die Folgen des Absturzes zu mildern. Aber als Manager einer Dauerkrise musste er sich nicht betätigen.