Diagramm 10: Veränderung des Bruttoinlandsprodukts Russlands 2007–2016 (%)

Quelle: Goetz, Stabile Stagnation, 76.

Allem Anschein nach wurde selbst die Landwirtschaft vom Aufschwung des neuen Jahrtausends erfasst. Dabei war das Tal, in das sie gestürzt war, wie erwähnt besonders tief. 1998 betrug der gesamte Ernteertrag nur noch 56 % von 1990; die Getreideproduktion fiel um 27 %, die von Rübenzucker um 54,8 %, die von Fleisch um 58,5 % und die von Milch um 41 % (jeweils auf die gesamte Dekade 1991–2001 bezogen). Zugleich galten 83–86 % der rund 27.000 ehemaligen Kolchosen als bankrott. Formal waren sie privatisiert, weil ihre Mitglieder Eigentumsscheine erhalten hatten. Das nützte ihnen aber ökonomisch wenig. Vielmehr traf auch sie die liberale Schocktherapie schwer. Der Staat reduzierte seine Subventionen drastisch: einer kompetenten Übersicht zufolge von 60 Mrd. $ Ende der 1980er Jahre auf eine einzige Mrd. 2002. Wie es seinem neuen Credo entsprach, sollten auch die landwirtschaftlichen Betriebe auf eigenen Füßen stehen. Nur konnten sie das kaum. Die ehemaligen kolchozniki lebten von der Bewirtschaftung ihrer Privatparzellen, die, um die Anteile am ehemaligen Gemeineigentum ergänzt, zu «persönlichen Hilfsbetrieben» (ličnye podsobnye chozjajstva) und «Betrieben der Bevölkerung» (chozjajstva naselenija) wurden. Faktisch blieben sie sich selber überlassen. Da die Absatzmärkte zusammenbrachen und Zulieferungen ausblieben, lief dies in der Realität oft auf die Rückkehr zur Naturalwirtschaft hinaus.[56]

Wenn sich diese trübe Lage am Ende des ersten postsowjetischen Jahrzehnts langsam, aber wahrnehmbar zu ändern begann, dann sorgten dafür weniger die bäuerlichen Familienbetriebe, auf die Gorbačev – in faktischer Anknüpfung an die NĖP – mit der Zulassung privater Kooperativen gesetzt hatte. Zwar stieg ihre Zahl nach 1991 dank staatlicher Förderung, wie begrenzt sie auch immer blieb, deutlich an. Aber im Durchschnitt erwiesen sie sich als zu klein, um rentabel zu sein. Die allermeisten gaben auf oder erwirtschafteten kaum mehr, als sie selber verbrauchten. Nennenswerte Besserung brachten vielmehr «vertikal integrierte Großbetriebe», die feste Verträge mit der Nahrungsmittelindustrie oder entstehenden Restaurantketten abschlossen. Hier, im Kauf und Unterhalt von Kuh- und Rinderherden für die Produktion von Milcherzeugnissen und Fleisch, begannen Gazprom und andere russische Konzerne, ihre windfall profits zu investieren. Aber auch ausländisches Kapital begann nun, angelockt von hohen Gewinnerwartungen, sich in der russischen Landwirtschaft zu engagieren. Mithin setzten sich auch in der transformierten Landwirtschaft allmählich Marktkriterien durch. Agroindustrie und kommerzielles «Farmertum» – eine alte Hoffnung schon der zarischen Agrarreformer – lohnten sich, wo die Bedingungen günstig und ausreichende Absatzmöglichkeiten garantiert waren, besonders in der Nähe großer Städte, auf fruchtbaren Böden oder in verkehrstechnisch bevorzugter Lage.

Da auch die Nahrungsmittelpreise seit 2007 anzogen, kam eine Bilanz der neuen Entwicklung am Ende von Medvedevs Präsidentschaft zu dem Fazit, dass die russische Landwirtschaft international inzwischen als «hoch attraktiv» galt, weil große Flächen preiswert zur Verfügung standen und die Löhne niedrig waren. Im besonders fruchtbaren Schwarzerdgebiet bewirtschafteten Agroholdings zu dieser Zeit bereits 25–45 % des gesamten Ackerlandes. Zwar konzentrierten sie sich, ihrer Marktorientierung entsprechend, auf bestimmte Bereiche der Landwirtschaft, neben der genannten Milch- und Fleischproduktion besonders auf Getreide und Industriepflanzen, während 80 % der Kartoffeln und 70 % des Gemüses immer noch auf bäuerlichen Kleinstflächen erzeugt wurden. Und an abgelegenen Regionen mit dürftigen Böden ging der relative Aufschwung völlig vorbei. Dennoch prägte er die Gesamtentwicklung offensichtlich so stark, dass wichtige Produktionsindizes seit ca. 2005 deutlich nach oben zeigen, so bei Getreide, Zuckerrüben und Milch. Wie bescheiden das Versorgungsniveau mit Nahrungsmitteln (jedenfalls außerhalb der großen Städte) im Vergleich zu westlichen Ländern auch immer blieb – festzuhalten ist, dass Russland sich anders als in den letzten Sowjetjahrzehnten wieder selber ernähren kann und seit der Jahrtausendwende auch wieder, wie zu zarischen Zeiten, Getreide exportiert.[57]

Dass die Hochkonjunktur auch positive Auswirkungen auf die materielle Lage der Bevölkerung hatte, liegt auf der Hand. Für den Hauptgewinner, die entstehende Mittelschicht in den größeren Städten, begann so etwas wie eine goldene Zeit. Einer, der sie in Moskau miterlebt hat, nennt sie ebenso «glamourös» wie «merkwürdig»: «Alles drehte sich nur noch um den Konsum materieller Güter. Zum ersten Mal hinkte die russische Gesellschaft, was Wohlstand und Komfort betraf, der übrigen Menschheit nicht nach, sondern war ihr voraus. Einfache Bürger Russlands erwarben als Erste iPhones, iPads, Flachbildschirme, Autos, Geschirrspülmaschinen, Saftpressen und Staubsauger neuer Generationen. In jeder größeren Stadt Russlands gab es nun Supermärkte, Multiplex-Kinos, Bowlingbahnen, Restaurants und Nachtklubs. Die Bürger Russlands unternahmen zum ersten Mal regelmäßig und in großer Zahl Urlaubsreisen ins Ausland. Unsicher und ungeschickt lernte Russland, ein reiches Land zu sein. … Die 2000er Jahre verbrachte das Land wie im Rausch. Keine Politik, kein gesellschaftliches Leben – es war der reine Hedonismus.»[58] Auch wenn diese Sätze journalistisch zuspitzen, steht außer Frage, dass es materiell spürbar aufwärts ging.