Tabelle 66: Soziale Ungleichheit in der Russischen Föderation 2001–2008
2001 |
2002 |
2003 |
2004 |
2005 |
2006 |
2007 |
2008 |
|
Monetäre Realeinkommen (% zum Vorjahr) |
109 |
111 |
115 |
110 |
112 |
114 |
112 |
102 |
Realeinkommen Index (1990 = 100) |
53 |
59 |
68 |
75 |
85 |
96 |
108 |
110 |
Ungleichheit: Verhältnis der Dezilen |
13,9 |
14,0 |
14,5 |
15,2 |
15,2 |
16,0 |
16,8 |
16,9 |
Ungleichheit: Gini-Koeffizient |
0,397 |
0,397 |
0,403 |
0,409 |
0,409 |
0,416 |
0,423 |
0,423 |
Prozent unter dem Existenzminimum |
27,5 |
24,6 |
20,3 |
17,6 |
17,7 |
15,2 |
13,3 |
13,1 |
Pensionen in % des Existenzminimums |
90 |
100 |
102 |
106 |
98 |
100 |
102 |
115 |
Reale Kaufkraft der Pensionen (% zum Vorjahr) |
121 |
116 |
105 |
106 |
110 |
105 |
105 |
118 |
Quelle: White, Understanding, 186
Nicht zuletzt Putin konnte sich über den neuen Wohlstand freuen, erhöhte dieser doch seine Popularität. Wie in der alten Sowjetunion stellte sich eine Art von «Sozialkontrakt» ein: «Loyalität gegen verbesserte Einkommen und Konsumstandards». Deshalb verzichtete er trotz des rigorosen Vorgehens gegen unbotmäßige Oligarchen nicht nur darauf, die Wirtschaft insgesamt wieder eng an staatliche Direktiven zu binden; Versuche, über die Kontrolle des Erdöl-und Gasexports hinaus zu staatlicher Lenkung oder gar Planung zurückzukehren, hat es nicht gegeben. Darüber hinaus nutzte er den finanziellen Spielraum, den ihm der Geldsegen aus dem Öl- und Gasexport bescherte, um die Sozialversicherung, die in den neunziger Jahren ‹marktkonform› auf beitragsfinanzierte, private, aber unsolide Fonds umgestellt worden war, wieder aus Steuermitteln zu bestreiten und die Renten zu erhöhen. Wenngleich der Umbau des immer noch ‹überhängenden› komplexen altsowjetischen, vorwiegend auf nichtgeldlichen Gruppenprivilegien beruhenden Systems in monetäre Leistungen weiterhin manche Härten mit sich brachte und die Lebensverhältnisse vor allem auf dem Lande prekär blieben, lassen die statistischen Indikatoren erkennen, dass sich auch die Lage der einfachen Leute verbesserte. So stiegen die Realeinkommen in Putins ersten beiden Amtsperioden (2000–2008) um 141 % und die Renten um 138 %; die Armut (wie immer gemessen) fiel um 14 %. Soweit Zustimmung nicht zuletzt die eigenen materiellen Lebensumstände spiegelt, konnte das Votum für ihn 2004 und für Medvedev 2008 – sicher immer noch vor dem Hintergrund der traumatischen Jelzin-Jahre – auch als Anerkennung dafür gelten.[59]
Bei alledem war es ebenso bezeichnend, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft nicht nur erhalten blieb, sondern sogar weiter zunahm. Das lag zum einen in der Natur des Aufschwungs. Die Oligarchen nutzten die ‹Bonanza› und wurden noch reicher. 2008 verzeichnete Forbes 87 Superreiche in Russland, «mehr als irgendwo sonst auf der Welt mit Ausnahme der Vereinigten Staaten» (mit 469 bei 59 in Deutschland). Durchaus sarkastisch kommentierte das frühere Regierungsblatt Izvestija, «nichts» wachse derzeit «in Russland so schnell wie die Zahl der Milliardäre». Dafür brauchten sie auch wenig zu tun. Nach wie vor beruhten die allermeisten der riesigen Vermögen auf dem Verkauf von Rohstoffen, so dass ihre Besitzer die Hände in den Schoß legen und sich über das Glück des Preisauftriebs freuen konnten. Der Staat ließ sie gewähren. Wer sich fügte und seine Steuern einigermaßen korrekt zahlte, durfte weiter Gold anhäufen. Einige Oligarchen versuchten auch sich einzuschmeicheln; einer kaufte die Kunstsammlung des Cellisten Mstislav Rostropovič und schenkte sie dem Präsidenten für seine Sankt Petersburger Residenz; ein anderer erwarb auf dem internationalen Markt eine große Kollektion der berühmten ‹Ostereier› des zarischen Hofjuweliers Fabergé, um sie, auf verschiedene russische Museen verteilt, in die Heimat zurückzubringen. Bei Licht besehen, war dies eine ideale win-win-Situation, von der beide profitierten, Putin und die Oligarchen.
Beide Entwicklungen, der Rückgang der Armut und die zunehmende Polarisierung, spiegeln sich in Tabelle 66.
Wie zu sehen ist, stieg der Index der Realeinkommen, der in den neunziger Jahren auf 53 % gefallen war, bis 2008 wieder auf 110; mithin konnte Putin den tiefen Sturz der ersten postsowjetischen Dekade sogar mehr als wettmachen. Ferner erlaubte es die Erhöhung der Pensionen immer mehr Empfängern, sich über dem Existenzminimum zu halten. Der Anteil von Personen, die nach russischen Kriterien – die Angaben sind der offiziellen Statistik entnommen – als arm galten, sank sogar um mehr als die Hälfte. Zugleich wuchs der Abstand zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommen weiter. Als Putin antrat, verdiente das oberste Dezil knapp vierzehn Mal mehr als das unterste; als er abtrat, knapp siebzehn Mal mehr; analog verschlechterte sich der Gini-Koeffizient. Auch wenn mehr Menschen besser lebten als zehn Jahre zuvor, so ging es denen, die die Chancen der neuen Ordnung zu nutzen wussten, noch besser.
Anders als erwartet und von der Opposition erhofft, flauten die Proteste bei Putins neuerlicher Inauguration bald ab. Die Staatsmacht griff hart durch und erreichte, was sie wollte: innere Ruhe, die Liberalen eher als Friedhofsstille erscheinen mochte. Nur die kremleigene Jugendorganisation Naši (die Unsrigen), die jeden an den Komsomol erinnern musste – im Übrigen eine Gründung, die Historiker nur von autoritären Regimen kennen –, konnte mit logistischer Unterstützung durch die Behörden weiterhin demonstrieren. Auch die putinfreundlichen «Nachtwölfe» durften ihre nationalistischen Parolen weiterhin ungestört auf Motorrad-Rallyes verbreiten und sie sogar 2015 provokativ durch die ehemaligen Ostblockstaaten tragen. Ansonsten aber war öffentliche Kritik am eigenen Lande untersagt. Die Opposition verstummte endgültig. Fernsehen und Rundfunk waren seit langem gleichgeschaltet. Unter den Zeitungen hatten einige wenige dem repressiven Ansturm des wiedererstarkten Staats standgehalten, allen voran als (spätestens seit dem Mord an ihrer Mitarbeiterin Anna S. Politkovskaja) bekannteste und meistgelesene die Novaja gazeta (Neue Zeitung). Insofern kam ihrer Ankündigung vom März 2015 in der Tat «Symbolkraft» zu, die gedruckte Ausgabe demnächst einstellen zu müssen; wie andere kritische Medien lebt sie nur noch im Internet fort. Der Schachweltmeister Kasparov, einer der schärfsten Kritiker, verließ das Land, wie viele andere, weniger prominente Intellektuelle. Im Westen, besonders in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland, entstand nicht zum ersten Mal in der russischen Geschichte ein neues Exil. Weniger entschiedene Oppositionelle, die den Versuch noch nicht aufgegeben haben, die demokratische Verfassung und ihre Einrichtungen für eine Veränderung zu nutzen, sind im Lande geblieben, haben in Gestalt der «Partei der Volksfreiheit» (Parnas) einen neuen Einigungsversuch unternommen und einen so prominenten Mann wie Michail Kasjanov an die Spitze gestellt. Nur hat ihnen dies keinerlei Popularitätsgewinn eingetragen. Bei der jüngsten Dumawahl im September 2016 – am Ende der inzwischen auf fünf Jahre verlängerten Legislaturperiode – erhielt sie gerade einmal 1,2 % der Stimmen, noch weniger als Jabloko 2011 (3,4 %). So gesehen spricht manches dafür, dem (bis heute unaufgeklärten) Mord an einem ihrer Mitgründer, Jelzins einstigem Schützling Nemcov, im Februar 2015 eine ähnlich symbolische Bedeutung für den Untergang des Liberalismus als politischer Strömung zuzuschreiben wie dem erwähnten Verstummen der letzten unabhängigen gedruckten Zeitung für die Pressefreiheit.[60]
Geblieben ist als eine Art Einzelkämpfer der Hauptinitiator der Massenproteste von 2011/12 Aleksej Naval’nyj, der weiterhin gegen die Korruption zu Felde zieht und dem Staat die Stirn bietet. Mit Hilfe der willfährigen Justiz hat dieser ihm inzwischen allerdings auch den Prozess gemacht. Zwar durfte Naval’nyj zwischenzeitlich bei der Wahl zum Moskauer Bürgermeisteramt antreten, um den Schein einer alternativen Abstimmung zu wahren. Aber für die 2018 anstehende nächste Präsidentenwahl scheint dieses Spiel zu gefährlich, so dass man ihn vorsorglich verurteilt hat. Dabei reicht eine Bewährungsstrafe aus, um seine Kandidatur zu verhindern.
Angesichts solcher Knebelung der Opposition konnte der Ausgang der Wahl 2016 nicht überraschen. Das «Vereinigte Russland» legte wieder zu. Allerdings tut man gut daran, vom offiziellen Ergebnis aufgrund der abermaligen, noch gesteigerten Einseitigkeit der medialen Unterstützung und der unverminderten Intransparenz der Auszählung einige Prozente abzuziehen. Dies in Rechnung gestellt, steht zu bezweifeln, ob die 54,2 % der Stimmen, die auf Edinaja Rossija entfielen, wirklich einen Zugewinn gegenüber dem Ergebnis von 2011 bedeuteten (49,3 %). Auf keinen Fall konnte die Parteil an den Erfolg von 2007 (64,3 %) anknüpfen, obwohl die KPFR wieder auf ihre Stammwähler zurückfiel und die Liberaldemokraten nur wenig hinzugewannen. Manches spricht dafür, die historisch niedrige Wahlbeteiligung von nur 47,9 % (vgl. Tabelle 63) als interessanteste Information über diesen Urnengang zu werten – zeigt sie doch an, dass die Hälfte der Bevölkerung zu Hause blieb, weil sie den Ausgang ohnehin für ausgemacht hielt – sei es aufgrund der gegebenen Machtverhältnisse oder in Vorwegnahme unterstützender Manipulationen. Es mag offen bleiben, wie man ein solches Regime nennen soll, in dem die Legislative und die Judikative zu willfährigen Instrumenten der Exekutive degradiert und die Medien als Vierte Gewalt ausgeschaltet worden sind, das sie aber ebenso bestehen lässt wie die Verfassung, die sie garantiert. Einige Politikwissenschaftler sprechen korrekt, wenngleich schwer verständlich von ‹konsultativem› oder ‹elektoralem› Autoritarismus›, zu dem auch manche der nichteuropäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion (von Kazachstan bis Azerbajdžan) zu zählen wären. Letztlich meinen die Historiker mit dem Begriff der Präsidialdiktatur, die meist ebenfalls ein machtloses Parlament hat bestehen lassen, sehr Ähnliches. Spätestens seit Beginn von Putins dritter Amtszeit ist sichtbar geworden, dass sich auch Russland auf dem Wege zu einer solchen Ordnung befindet.
Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt ein gesteigerter, schriller Nationalismus bei, der sich nahtlos mit einer neuen, aggressiven Außenpolitik verbindet. Offenbar nutzt das Regime die Demonstration außenpolitischer Stärke, um jene Loyalität im Innern zu erzeugen, derer sie als Stütze bedarf. Das Rezept ist uralt. Schon immer hat sich ein äußerer Feind angeboten, wenn es darum ging, die Bevölkerung zu mobilisieren, Risse im eigenen Lager zu kitten oder über Legitimationsdefizite hinwegzutäuschen. Dabei war die mediale Aufbietung aller Kräfte, um das westliche Ausland, vor allem die Vereinigten Staaten und die NATO, für die Konflikte dieser Welt verantwortlich zu machen und ihnen alle bösen Absichten gegenüber Russland zu unterstellen, schon länger zu beobachten. In seiner dritten Amtszeit ist Putin nun entscheidend darüber hinausgegangen. Er hat den Nationalismus als ideologische Rechtfertigung und Unterfütterung für militärische Interventionen im «nahen Ausland» entdeckt. Dies verbindet sich auf kaum entwirrbare Weise mit dem fortgesetzten Kampf gegen die «Farbenrevolutionen», wie sie 2003 in Georgien und 2004 und 2013 in der Ukraine stattfanden, und der Furcht vor einer weiteren Ausdehnung westlichen Einflusses, besonders der NATO. Die Außenpolitik folgte denselben Motiven wie die Innenpolitik, worin man eine durchaus gefährliche Entwicklung sehen kann, da somit diplomatische und völkerrechtliche Hemmnisse tendenziell ignoriert werden.
Putin überschritt den Rubikon mit der Besetzung und Annexion der Krim im Februar/März 2014. Für ein durchaus vorhandenes Bewusstsein, damit bestehende und anerkannte Grenzen offen zu verletzen, spricht der Umstand, dass die austrainierten und gut bewaffneten Kämpfer, die das Parlament und strategisch wichtige Orte schnell in ihre Hand brachten, keine Abzeichen trugen. Erst nach und nach kam ans Licht, dass sie zu Sondereinheiten des russischen Auslandsgeheimdienstes gehörten und die gesamte Aktion von langer Hand im Kreml geplant worden war. Zu ihrer Erklärung bot es sich geradezu an, auf das ältere Diktum Putins vom Oktober 2005 (mehrfach wiederholt) zurückzugreifen, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei «die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» gewesen. Dabei meinte er nicht zuletzt den demographischen Verlust an Volksgenossen, die nun in anderen Staaten lebten – z.B. auf der Krim, die zur Ukraine gehört. Wie sehr dieser Akt auf innenpolitische Wirkung zielte, machte der schnelle und bejubelte förmliche Anschluss deutlich: Aus der Sicht der meisten Russen – und nicht nur der Staatspartei und sonstigen Kremlfreunde – hatte Putin die Krim, die Chruščev 1954 so leichtfertig verschenkt hatte, heim in den großrussischen Nationalstaat geholt.
Ein zweiter Schritt ließ nicht lange auf sich warten. Russland unterstützte mehr oder weniger offen separatistische Kräfte in der ebenfalls überwiegend russischsprachigen Ostukraine. Seit März 2014, als die Vereinnahmung der Krim (aus russischer Sicht) abgeschlossen war, flammten hier Konflikte auf, die vor allem in der Region um Doneck und Luhansk (Lugansk) in bürgerkriegsähnliche, mit schweren Waffen ausgetragene Kämpfe übergingen. Jedermann hat dabei angenommen, dass die Panzer und großkalibrigen Geschütze über die lange, kaum zu sichernde Grenze aus Russland kamen. Wer eins und eins zusammenzählen konnte, hat sich bestätigt gesehen, als im Juli 2014 eine Boeing der Malaysia Airlines mit 298 Passagieren an Bord von einer Flugabwehrrakete neuester Bauart über der Ostukraine abgeschossen wurde; ein solches System konnte nur aus den Beständen einer regulären und hochgerüsteten Armee stammen. Dennoch bestreitet die russische Regierung bis heute, dass sie die Separatisten unterstützt. Explizit und formell ist Russland keine Kriegspartei.
Aber auch in diesem Fall ist ein Dokument aufgetaucht, dass solche Unschuldsbeteuerungen widerlegt. Es stammt aus dem Kreml, wurde in der zweiten Februarwoche 2014, vor der russischen Invasion der Krim verfasst und enthält in unmissverständlichen Formulierungen strategisch-politische Überlegungen mit dem Ziel, die russischsprachigen Gebiete von der Ukraine abzuspalten. Man müsse den Zerfall der Zentralgewalt nutzen, um «mit den Schleuderkräften verschiedener Regionen des Landes regelrecht zu spielen». In diesen Gebieten, vor allem auf der Krim und in der Ostukraine, gebe es bereits eine «prorussische Dynamik», die es zu unterstützen gelte. Über die Forderung nach einer «Föderalisierung» und den Beitritt der dann autonomen Staatssubjekte zu einer «Zollunion auf regionaler Ebene, unabhängig von Kiev», sei eine «direkte ‹Souveränisierung› mit anschließendem Anschluss an Russland» anzustreben. Zwar bleibt offen, welche Bedeutung dieses Papier für die konkrete Politik und die Entscheidungen Putins hatte. Es bezeugt aber in jedem Fall, dass solche Planspiele im Zentrum der Macht existierten, und verstärkt die ohnehin erheblichen Zweifel am Wahrheitsgehalt der russischen Dementis nachhaltig. Entsprechend nahtlos passen sie zu jenem Nationalismus als ideologischem Kitt des Putinschen Präsidialsystems, der sich in seiner dritten Amtszeit zu manifester großrussischer Expansionspolitik radikalisierte. Man mag dies mit einem überzogenen Kompensationsbedürfnis für den Verlust einstiger Größe erklären und darin die Fortdauer eines ausgeprägten Minderwertigkeitskomplexes erkennen; entschuldbar ist der implizierte völkerrechtswidrige Verstoß gegen die Unverletzlichkeit der Grenzen ebenso wie gegen Verträge, die Russland selber unterschrieben hat (etwa den Budapester Vertrag von 1994), aber deshalb in keiner Weise.[61]
Als Theorie trägt der russische Nationalismus, wie bekannt, einen anderen Namen: Slavophilie. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und in verschiedenen Varianten fortgesetzt, ob außenpolitisch-expansionistisch und geschichtsphilosophisch gewendet als Panslavismus oder geopolitisch und kulturhistorisch mit Bezug auf die Brückenfunktion Russlands zwischen den Kontinenten als Eurasismus, kreisten ihre Ideen um eine Kernthese: Die slavische Kultur besitze unverwechselbare und charakteristische Merkmale, und könne darauf auch stolz sein. Sie müsse sich nicht hinter anderen verstecken, habe es nicht nötig, Errungenschaften anderer zu kopieren, sondern dürfe sich der eigenen rühmen und auf sie aufbauen. In Fortschreibung ihres Entstehungskontexts definieren sich die so propagierten Werte großenteils als Gegensatz zu westlichen: Glaube steht gegen Rationalität, Kollektivismus gegen Individualismus, Ganzheit gegen Partikularismus und ‹organisches Führertum›, wie es noch Solženicyn 1993 pries, gegen die abstrakte Delegation per Wahl nach parlamentarisch-demokratischer Art.
Angesichts des beinahe staatsoffiziellen Nationalismus unter Putin kann es nicht verwundern, dass solche Ideen in ‹seinem› Russland seit der Jahrtausendwende eine Renaissance erleben. Besonders prominent wurde A. G. Dugin, dem das Fernsehen ein Forum gab und der verschiedene Politiker beriet. In seinen offenbar vielgelesenen Büchern verbinden sich – für nüchterne Leser auf bizarre Weise – panslavische Vorstellungen von einer befreiend-erlösenden Mission Russlands mit expansionistisch-eurasischen Visionen von seiner besonderen Bestimmung als Großmacht auf beiden Kontinenten und merkwürdigen welthistorischen Verschwörungstheorien. Bezeichnender für die geistig-ideologische Wende und das neue rechte Denken mag indes die Lektüre sein, die Putin allen Gouverneuren und hohen Politikern zu Weihnachten 2013 zukommen ließ. Der neue alte Präsident verschenkte Werke von Nikolaj Berdjaev, Ivan Il’in und Vladimir Solov’ev, drei bekannten Religionsphilosophen. Vor allem die ersten beiden, die den größten Teil ihres Lebens im westeuropäischen Exil verbrachten und dort ihre literarische Wirkung entfalteten, haben sich aber vorrangig auch mit weltlichen Fragen befasst, nicht zuletzt solchen der idealen politisch-staatlichen Verfassung Russlands. Bei allen Unterschieden im Einzelnen – Berdjaev stand einer rein philosophisch-religiösen Mystik entschieden näher als Il’in, der oft im Dunstkreis faschistischen Denkens verortet wird – sind sie sich in fundamentalen Positionen einig, die offenbar auch Putin teilt und seiner Politik als Leitideen zugrunde legt: dass Russland etwas Eigenes ist und keinen westlichen Werten nachrennen sollte, dass es nur als Ganzes denkbar ist und die Gestalt eines großrussisch dominierten Nationalstaats annehmen sollte und dass dies Eigene international Geltung und Respekt verdient. Damit ist auch deutlich, was bei diesen Autoren nicht vorkommt: die Wertschätzung von Liberalismus, Individualismus, Pluralismus und einer demokratischen politischen Ordnung.[62]
Man könnte sagen, dass Putin die nationale Begeisterung als starkes Bindemittel seines Regimes auch bitter nötig hat, denn er war und ist nicht mehr der Präsident im Glück. Während er in seiner ersten und zweiten Amtszeit von einer seit Jahrzehnten beispiellosen Hausse der Weltmarktpreise für Rohöl profitierte, musste er in seiner dritten mit einem steilen Fall zurechtkommen. Noch 2012 und 2013 bewegte sich der Preis mit ca. 111 US-$ pro Barrel auf einem historischen Höchststand; 2014 fiel er dramatisch auf 57 $ und 2015 sogar auf 37 $ ab. Seit Mitte 2016 erholte er sich zwar deutlich, blieb aber mit gut 50 $ weit unter dem zuvor erreichten hohen Niveau. Diese Talfahrt schlug negativ ebenso stark auf den Staatshaushalt durch, wie es positiv der Aufschwung nach der Jahrtausendwende getan hatte, weil die Einnahmen immer noch zu 65–70 % aus diesem Sektor stammten. Die Regierung hatte es versäumt, die guten Jahre für wirtschaftliche Strukturreformen zu nutzen. Nach wie vor konzentrierte sich die Industrie höchst einseitig auf die Ausbeutung von Rohstoffen, während die Herstellung anspruchsvoller Produkte, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig gewesen wären, weiterhin im Argen lag. Auch wenn der Staat nach der Wiederherstellung seiner unternehmerischen Hegemonie in diesem Bereich wieder mitverdiente und die verbliebenen Oligarchen pünktlich Steuern zahlten, sanken seine Einnahmen deutlich. Zu verteilen gab und gibt es nichts mehr, und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht.
Über die weiteren Perspektiven sind sich die Sachkenner uneins. Da ausländische Investitionen nach den Sanktionen der Europäischen Union als Folge der Annexion der Krim ausbleiben und angesichts unzulänglicher Eigentumsgarantien überhaupt rückläufig sind; da es an Kapitel mangelt, um die veralteten Produktionsanlagen zu modernisieren, allenthalben Ingenieure, Techniker und andere Fachkräfte fehlen und sich dieses Problem verschärfen wird, weil die Bevölkerung abnimmt, ist die Neigung zu pessimistischen Prognosen gewachsen. Die einen erklären die «Krise» zum «Normalzustand»; andere halten ein Katastrophenszenario nicht für ausgeschlossen. Eine dritte Meinung ist vorsichtiger und spricht mit vergleichendem Blick auf die späte Brežnev-Ära von einer «stabilen Stagnation». Wie beabsichtigt und für einen Historiker geboten, ist diese Formulierung offen für verschiedene Entwicklungen. Zugleich ist sie ambivalent: Putin kann sich auf niedrigem Niveau ‹durchwursteln›, bis wieder bessere Zeiten kommen (und im Übrigen das Staatssteuer nach einer weiteren zweiten Amtszeit erneut pro forma an Medvedev abgeben, um es dann vielleicht noch einmal selber zu übernehmen). Es kann aber auch sein, dass ein Gorbačev erscheint, der meint, man könne weder wirtschaftlich so weitermachen noch die Tandemokratie wiederholen. Nur eine Möglichkeit, die sich nach 1991 als Hoffnung abzeichnete, scheint inzwischen ausgeschlossen zu sein: dass sich eine Zivilgesellschaft erheben und eine politische Ordnung nach ihren Vorstellungen schaffen wird. Solche autonomen Gruppen und Bewegungen hat schon Jelzin beiseite geschoben, und Putin hat sie endgültig erstickt. Das administrative Regime hat den Verfassungsstaat an eben jenem «Geheimdiensthaken», der Russland nach 1991 – wie ein ehemaliger FSB-Chef 2007 in einem entlarvenden Interview behauptete – vor dem Absturz bewahrte, verhungern lassen und zum Dekor degradiert. «Souverän» ist in diesem Staat nur der Präsident, während die «Demokratie» am Boden liegt.[63]