9. KAPITEL

Leider machte das Schicksal ihnen einen Strich durch die Rechnung: Ein kleines Mädchen hatte einen Asthmaanfall erlitten und musste behandelt werden.

Logan war noch mit Fraser beschäftigt, der sich mehrfach übergeben hatte und über Kopfschmerzen klagte. Also musste Ethan einspringen.

„Ich sehe mir die Kleine an, anschließend würde ich gern direkt in die Praxis fahren. Wärst du so nett, mir einen Anzug mitzubringen, wenn du nachkommst? Die Anzüge hängen im Schlafzimmerschrank. Hier ist der Schlüssel. Bis später. Ach, und Kyla? Heute Abend müssen wir reden. So, jetzt muss ich aber los.“

Das war nicht mehr der Mann, der sie eben noch leidenschaftlich geliebt hatte! In dessen Armen sie sich völlig verloren hatte. Den sie liebte, wie sie sich jetzt eingestand. Noch vor wenigen Minuten hatte sie hoffen dürfen, dass er ihre Gefühle erwiderte. Doch jetzt hatte er sich wieder völlig in sein Schneckenhaus verkrochen und war unnahbar wie eh und je. Wenigstens kannte sie nun auch seine andere Seite! Wahrscheinlich musste sie einfach nur Geduld mit ihm haben.

Nachdem sie geduscht hatte und in die Schwesterntracht geschlüpft war, holte sie den Anzug aus dem Haus nebenan. Erst als sie ihn in ihrem Wagen aufhängte, fiel ihr ein Brief auf, der aus einer Anzugtasche gefallen sein musste. Sie hob ihn auf und wollte ihn schon zurückstecken, da erregte ein Satz ihre Aufmerksamkeit, und sie begann zu lesen.

„Soll Fraser zur CT ins Krankenhaus gebracht werden?“, fragte Ethan Logan, als der gerade zum Telefon greifen wollte.

„Ja, ich möchte sicher sein, dass er wirklich nur eine Gehirnerschütterung hat.“ Logan verstummte irritiert, als die Tür aufgestoßen wurde und Kyla in die Praxis gestürmt kam. „Oje, offensichtlich ist meine Schwester mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden.“

Ethan hatte sofort ein ungutes Gefühl.

Kyla stieß die Tür mit dem Fuß zu, warf die Tasche auf den Empfangstresen und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann sah sie Ethan an. Er zuckte zusammen. Sie wusste alles!

Verächtlich drückte sie ihm den Anzug in die Hand. „Hier ist Ihr Anzug, Dr. Walker. Ziehen Sie ihn schnell an, er gehört ja zu Ihrer Tarnung.“

Logan warf seiner Schwester einen ungläubigen Blick zu. „Bekommst du deine Tage?“

Wütend wirbelte sie herum und funkelte ihn an. „Nein, Logan, die bekomme ich nicht.“

„Und warum benimmst du dich dann so?“

„Vielleicht solltest du das Dr. Walker fragen.“

Ethan atmete tief durch. „Komm, Kyla, lass uns in Ruhe darüber reden.“

„Damit sonst niemand unser, besser gesagt, dein Geheimnis erfährt? Und was heißt ‚reden‘? Seit wann redest du, Ethan? Du hörst doch lieber zu, vor allem, wenn du etwas über Leute herausfindest.“

Er hätte ihr schon längst die Wahrheit sagen sollen. Fasziniert betrachtete er Kyla, die so wild und temperamentvoll war und so leidenschaftlich bei allem, was sie tat – bei der Liebe und jetzt hier.

Wie sollte er es ihr nur erklären?

„Die Sprechstunde beginnt gleich“, warf Logan ruhig ein. „Vielleicht könntet ihr euren Streit auf später verschieben. Es kursieren schon genug Gerüchte auf der Insel.“

Kyla sah ihn an. „Ethan ist …“

„Nicht jetzt, Kyla. Bereite bitte alles für die Sprechstunde vor. Ich muss jetzt Frasers CT organisieren.“

Kyla schluckte und riss sich zusammen. Im nächsten Moment war sie in ihrem Behandlungszimmer verschwunden.

„Frauen“, stöhnte Logan. „Manchmal habe ich das Gefühl, man braucht eine Gebrauchsanweisung zum Umgang mit ihnen.“

Kyla konnte sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um Ethan und den Brief. Schließlich musste sie einsehen, dass sie so nicht weitermachen konnte, ohne ihre Patienten zu gefährden, und wandte sich an Evanna.

„Ich habe noch drei Patienten, könntest du die bitte übernehmen? Irgendwie fühle ich mich heute Vormittag überfordert.“

Evanna sah sie forschend an. „Bist du krank? Wahrscheinlich ist dir das Abenteuer gestern Nacht nicht gut bekommen.“

„Nein, ich bin nicht krank. Nur etwas …“ Kyla zuckte ratlos die Schultern.

„Kein Problem. Ich mach das schon.“ Evanna lächelte ihr aufmunternd zu, und Kyla nickte dankbar und ging auf den Flur hinaus. In diesem Moment verließ auch Ethan sein Sprechzimmer.

Wortlos blickten sie einander an, dann eilte Kyla hinaus auf den Parkplatz.

„Warte, Kyla!“ Doch sie dachte gar nicht daran. Ethan hatte genug Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden. Nun war es zu spät. Er hatte sie sträflich hintergangen. Mit quietschenden Reifen brauste sie davon. Sie wollte in Ruhe nachdenken und lenkte den kleinen Flitzer instinktiv zur Burgruine. Dann fiel ihr allerdings ein, dass dort alles sie an Ethan erinnern würde.

Der Sturm hatte sich endgültig verzogen. Die Sonne schien warm von einem strahlend blauen Himmel. Trotzdem fröstelte Kyla, als sie sich auf einen Felsen setzte und aufs Meer hinausblickte.

Plötzlich ertönten feste Männerschritte hinter ihr. Sie wusste genau, wer ihr gefolgt war, und sprang auf.

„Was willst du hier?“

„Ich will mit dir reden, Kyla. Hier sind wir wenigstens unter uns.“

Sie wandte sich wieder der See zu. „Du willst also niemanden in dein Geheimnis einweihen.“

„Jedenfalls noch nicht. Erst müssen wir beide uns unterhalten.“

„Du kommst mir ja doch nur wieder mit Ausflüchten!“

„Da irrst du dich.“

„Wie kannst du nur so ruhig und gelassen sein, Ethan? Du hast uns alle hintergangen“, rief sie verzweifelt mit bebender Stimme. „Nicht nur mich, auch Logan, Evanna, die ganze Insel. Wir dachten, du wärst …“

„Ihr habt mich für Ethan Walker gehalten, und genau der bin ich auch.“

Sie fuhr herum und musterte ihn. „Du bist aber auch Catherines Bruder“, sagte sie leise.

Er kam näher. „Kyla …“

„Du bist kein Fremder. Es war nicht die Vorsehung, die dich hierher geführt hat. Du hattest einen Grund, herzukommen. Du bist hier, um deine Nichte zu sehen.“

Er straffte sich. „Ja, ich wollte Kirsty kennenlernen.“

„Nein, Ethan. Dann hättest du von Anfang an mit offenen Karten gespielt und uns erzählt, dass du Kirstys Onkel bist. Aber du hast es vorgezogen, uns zu beobachten. Du hast mit uns gegessen, hast unseren Unterhaltungen gelauscht und unser Leben geteilt, und die ganze Zeit hast du uns bespitzelt.“

„So würde ich das nicht ausdrücken. Ich musste mir nur über einige Dinge klar werden und euch alle kennenlernen.“

„Hast du deshalb mit mir geschlafen? Wolltest du noch ein paar intime Details?“ Tief verletzt sah sie ihn an. „Als Nächstes wendest du dich Evanna zu, oder?“

„Bitte, Kyla …“

„Was? Im Gegensatz zu dir bin ich wenigstens ehrlich und sehe den Tatsachen ins Gesicht.“

„Was zwischen uns geschehen ist, hat absolut nichts damit zu tun, dass ich Catherines Bruder bin.“

„Doch, denn sonst wärst du niemals auf die Insel gekommen, und wir hätten uns nicht kennengelernt. Du hast uns absichtlich über deine wahre Identität hinters Licht geführt.“

„Ich habe doch versucht, es dir zu sagen.“

„Das habe ich gemerkt. Ha ha.“ Wütend funkelte sie ihn an. „Wolltest du herausfinden, ob Logan ein guter Vater ist? Lass dir eins gesagt sein: Logan ist ein wunderbarer Mensch – offen und ehrlich. Er steckt dich glatt in die Tasche. Und wenn du auch nur mit dem Gedanken spielst, etwas zu tun, was meinen Bruder oder sein Kind verletzen könnte, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du die Insel verlässt.“

Ethan war die Anspannung anzusehen. „Du liebst deinen Bruder und willst ihn beschützen.“

„Natürlich liebe ich ihn.“ Sie konnte nicht verstehen, worauf Ethan hinauswollte. „Er ist mein Bruder, Teil meiner Familie.“

„Bei dir klingt das alles so selbstverständlich, Kyla. Dabei ist das Leben schrecklich kompliziert.“

„Was ist kompliziert daran, die Wahrheit zu sagen? Das hättest du von Anfang an tun sollen. Ich hätte es jedenfalls getan.“

Ethan fluchte unterdrückt und kam näher. „Ich bin aber nicht wie du, und meine Familie ist ganz anders als deine.“

Als Kyla versuchte zurückzuweichen, hielt er sie an den Schultern fest. „Du willst darüber reden? Schön, das kannst du haben.“ Die Gefühle schienen ihn so zu überwältigen, dass er kaum sprechen konnte. „Du hast eine intakte Familie, ihr steht euch alle nahe und seid füreinander da.“

„Und?“

Ethan ließ sie los und ließ den Kopf hängen. „Bei mir ist das anders.“

„Ich weiß, dass deine Eltern geschieden sind und andere Partner geheiratet haben, aber …“

„Catherine und ich sind Stiefgeschwister. Ich habe sie die meiste Zeit meines Lebens gehasst. Und sie mich. Ich war elf und sie acht, als mein Vater ihre Mutter geheiratet hat. Sie hätte ihre Mutter lieber für sich behalten und hat alles Mögliche angestellt, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie war unglaublich egoistisch, alles musste sich um sie drehen. Das hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Sie hat gestohlen, Drogen genommen – alles, um im Mittelpunkt zu stehen. Ich habe sie so gehasst.“

„Du warst noch ein Kind, Ethan.“

„Lieb, dass du mich rechtfertigen willst, Kyla, aber wir haben uns auch als Teenager bekriegt – insgesamt zehn Jahre lang. Hat Catherine dir erzählt, dass mein Vater sie dreimal von der Polizeiwache abholen musste, weil sie mal wieder etwas angestellt hatte? Wir waren froh, als wir endlich nicht mehr unter einem Dach lebten.“

„Wann hast du sie zuletzt gesehen?“

„Vor zehn Jahren.“

„Aber wieso hast du schließlich doch wieder Kontakt aufgenommen?“

„Sie hat mir vor einem Jahr geschrieben. Jetzt weiß ich, dass es kurz vor Kirstys Geburt gewesen sein muss. Es war der einzige Brief, den ich je von ihr erhalten habe. Sie klang wie ausgewechselt, schilderte die Insel, als sei sie ein Paradies. Sie schrieb, sie würde erst jetzt verstehen, was es bedeutet, eine Familie zu haben. Deshalb habe sie den Kontakt zu mir aufgenommen. Ich sollte wissen, dass ich Onkel werde.“

„Hast du auf den Brief geantwortet?“

„Als ich ihn erhielt, war sie bereits tot.“

„Aber …“

„Ich habe damals im Sudan gearbeitet, Kyla. Es war heiß und staubig und sehr anstrengend, gegen all diese Krankheiten dort anzukämpfen. Catherine hatte an meine Londoner Adresse geschrieben. Der Brief wurde nicht nachgesandt. Ich habe ihn erst bei meiner Rückkehr zwei Monate später gefunden.“

„Aber ich verstehe noch immer nicht, warum du uns nicht von Anfang an reinen Wein eingeschenkt hast. Warum musstest du vorgeben, jemand anders zu sein?“

„Das habe ich doch gar nicht getan.“

„Catherines Nachname war King. Du heißt Walker.“

„Ihre Mutter hat ihren Familiennamen behalten. Catherine hieß King, ich heiße Walker.“

„Sie hat dich nie erwähnt. Nur einmal hat sie gesagt, es würde ihrer Familie guttun, eine Weile auf Glenmore zu leben. Vielleicht wollte Catherine noch einmal von vorn anfangen mit euch.“

„Dieser Brief hat mich regelrecht verfolgt. Er ließ so viele Fragen offen. Aus den Zeilen sprach eine völlig verwandelte Catherine zu mir. Sie schrieb, die Insel habe ihr Leben verändert – das Meer, die Ruine, die unberührte Landschaft und die Menschen.“

„Sie ist als Rucksacktouristin gekommen und hat Glenmore nie wieder verlassen. Auf manche Menschen wirkt Glenmore magisch.“ Aber nicht auf ihn. Ethan war noch immer so reserviert und zugeknöpft wie eh und je.

„Der Brief hat mich tief beeindruckt. Sie beschrieb die Insel und ihre Einwohner sehr detailliert. Plötzlich schien sie sich für andere Menschen zu interessieren, nicht nur für sich selbst.“

„Catherine hat sich sehr schnell eingelebt.“ Kyla sah ihn forschend an. „Warum bist du hier, Ethan? Wegen Kirsty?“

„Nein, ich hatte das Gefühl, etwas verloren zu haben, besser gesagt, ich wollte mit eigenen Augen sehen, wo Catherine sich so gewandelt hatte. Ich wollte es verstehen. Natürlich wollte ich auch den Mann kennenlernen, in den Catherine sich verliebt hatte. Und natürlich Kirsty.“

„Aber das hättest du uns doch von Anfang an sagen können.“ Kyla war noch immer wütend und verletzt, weil er sie hintergangen hatte.

„Ich bin nun einmal lieber auf mich selbst gestellt und gehe die Dinge auf meine Weise an.“

Das änderte aber nichts an den Tatsachen! „Du hast uns hintergangen.“

„Nicht absichtlich. Ich wollte es dir sagen. Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise herausgefunden hast.“

„Der Brief ist aus einer Anzugtasche gefallen. Ich wollte ihn schon zurückstecken, da fiel mir Kirstys Name auf.“ Sie atmete tief durch. „Und nun? Gehst du wieder nach Afrika?“

Ethan ließ sich Zeit mit der Antwort. „Nein, ich möchte Kirsty aufwachsen sehen.“

Und was ist mit mir?, dachte Kyla. Es verletzte sie zutiefst, dass Ethan sie mit keinem Wort erwähnte. „Du musst mit Logan sprechen.“

„Natürlich. Ich habe nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Kommst du mit?“

„Nein.“ Sie brauchte jetzt Abstand.

„Dann sehen wir uns später.“

Sie begegnete seinem Blick. „Dies ist eine Insel, Dr. Walker. Natürlich sehen wir uns später.“