4. KAPITEL

„Aisla Price ist alleinerziehend.“ Kyla legte den Sicherheitsgurt an und gab Gas. „Sie ist auf die Insel gezogen, als Fraser noch ein Baby war, weil sie der Meinung war, es wäre ein guter Ort, ein Kind großzuziehen. Sie betreibt eine kleine Strickmodenfirma und verkauft die Modelle übers Internet. Es scheint ein ziemlich einträgliches Geschäft zu sein. Sie strickt wirklich hübsche Pullover und verziert sie mit Spitze und Perlen. Sie und Fraser wohnen in einem Haus direkt am Wasser.“

Ethan sah sie von der Seite an. „Und sie hat Diabetes?“

„Ja, aber sie ist gut eingestellt. Eigentlich dürfte sie damit kein Problem haben.“ Kyla runzelte nachdenklich die Stirn, schaltete zurück und setzte den Blinker. „Aber Fraser ist offensichtlich beunruhigt. Also sehen wir lieber selbst mal nach ihr. Vielleicht ist ja auch alles ganz harmlos.“

„Sie hat also nicht um einen Hausbesuch gebeten? Sie fahren von sich aus zu ihr?“ Ethan versuchte vergeblich, sich dieses Szenario in London vorzustellen. In London würde allerdings auch kein Kind über den Strand laufen, um an die Haustür der Gemeindeschwester zu hämmern.

„Sie haben es erfasst.“ Kyla hielt vor einer Reihe weiß gestrichener Cottages und zog die Handbremse an. „Wir sind da.“

Ethan sah sie ungläubig an. „Was wollen Sie denn sagen? Dass ihr kleiner Junge fand, sie hätte beim Frühstück etwas blass ausgesehen?“

„Nein, da kommen Sie ins Spiel.“ Lächelnd griff Kyla nach ihrer Tasche. „Sie sind der neue Doktor, und ich stelle Sie vor. Schließlich ist sie Ihre Patientin. Da ist es doch angebracht, einander kennenzulernen.“

Ethan schüttelte nur fassungslos den Kopf und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Eigentlich hatte er vorgehabt zu duschen. Verärgert warf er die Beifahrertür zu und folgte Kyla zum Haus.

Die Haustür wurde aufgerissen. Fraser sah den beiden Besuchern entgegen – Panik spiegelte sich in seinem Blick.

„Bitte kommen Sie schnell! Sie liegt auf dem Küchenfußboden.“ Eilig zog er Kyla ins Haus. „Ich kriege sie nicht wach. Sie stöhnt nur und versucht, mich wegzustoßen.“

Ethan sprintete an ihnen vorbei und überließ es Kyla, den Jungen zu beruhigen.

Die Frau lag zusammengesackt auf dem Boden, der Inhalt einer Tasse Kaffee hatte sich auf den Steinfliesen verteilt. Ethan fluchte unterdrückt, ging neben Aisla in die Hocke und fühlte den Puls.

„Ist sie tot?“, fragte der Kleine leise hinter ihm.

Ethan wandte sich schnell um. „Nein, Fraser“, antwortete er beruhigend. „Könntest du mir bitte meine Tasche aus dem Wagen holen? Sie steht auf dem Rücksitz.“

Der Kleine nickte und rannte aus der Küche. Kyla kniete sich neben die Patientin. „Aisla? Hörst du mich?“

Die Frau stöhnte leise und versuchte, die Augen aufzumachen. Es gelang ihr nicht. Sie flüsterte etwas Unverständliches.

„Zucker!“, befahl Ethan und sah sich suchend um. „Wissen Sie, wo welcher ist?“

„Keine Ahnung.“ Kyla sprang auf und durchsuchte die Schränke. „Komm zu dir, Aisla! Wo bewahrst du den Zucker auf?“ Sie setzte die Suche fort. „Sojasauce, Nudeln, Kurkuma, Honig, Harissa-Würzpaste. Was, um alles in der Welt, ist denn Harissa-Paste? Was die Leute alles essen! Kein Wunder, dass mich das Kochen überfordert.“

„Beeilen Sie sich, Kyla!“ Ethan wurde langsam ungeduldig, und Kyla durchsuchte weitere Schränke.

„Hier ist eine Flasche Lucozade. Damit versuchen wir’s.“ Sie nahm die Flasche aus dem Schrank, als Fraser mit Ethans Tasche zurückkehrte. „Meinen Sie, wir können sie dazu bringen, etwas zu trinken? Oder ist sie bewusstlos?“

„Nein, das wird schon gehen.“ Ethan richtete Aisla auf und Kyla hielt ihr das Glas, das sie eingeschenkt hatte, an den Mund.

„Aisla“, sagte sie energisch, „du musst das jetzt trinken.“

Die Frau murmelte etwas Unverständliches und versuchte, das Glas wegzustoßen. Doch Kyla hielt es ihr weiterhin an die Lippen. Schließlich trank Aisla einige Schlucke.

„Trink mehr“, drängte Kyla. „Gut gemacht, Aisla. Nur noch einen Schluck.“

Sie gehorchte, und Kyla sah auf. Fraser stand wie erstarrt neben ihr und betrachtete entsetzt das Geschehen. „Ihr geht es gleich wieder besser, Fraser. Sag mal, habt ihr Kekse im Haus?“

Fraser sah sie erstaunt an. Er wirkte nicht mehr ganz so starr. „Klar.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Schokoladenkekse. Die schmecken echt lecker. Aber ich darf sie nur zu besonderen Anlässen naschen.“

„Dies ist ein besonderer Anlass“, versicherte Kyla ihm schnell. „Bring bitte auch ein Glas Milch mit.“

„Können Sie sich einen Moment um sie kümmern?“, fragte Ethan. „Ich will ihren Blutzucker messen.“

„Sie scheint zu sich zu kommen“, sagte Kyla leise. „Wieso war sie plötzlich unterzuckert? Sag mal, Fraser, was hat deine Mum heute Morgen gemacht? Irgendwas, was sie sonst nicht tut?“

„Sie hat verschlafen.“ Fraser war auf einen Stuhl geklettert, um an die Keksdose zu kommen. „Ich musste sie wachrütteln. Warum pieksen Sie sie in den Finger?“

„Wir wollen ihren Blutzuckerwert messen“, erklärte Ethan. Kurz darauf nickte er. „Das ist der Übeltäter. Unter drei. Vielleicht hat sie zu viel Insulin gespritzt. Hat deine Mum heute Morgen Sport gemacht, Fraser?“

Fraser reichte Kyla die Keksdose und schüttelte den Kopf. „Nein, aber gestern Abend war sie am Strand joggen. Ich war mit und habe ein Buch gelesen. Benimmt sie sich deshalb so komisch?“

„Ich weiß es nicht, aber das werde ich schon herausfinden. Ich werde ihr Blut abnehmen“, fügte Ethan an Kyla gewandt hinzu. „Wir schicken die Probe ins Labor. Ich benötige den genauen Blutzuckerwert.“

In der Zwischenzeit hatte Kyla begonnen, Aisla mit Schokoladenkeksen zu füttern. Die Patientin kam schnell wieder zu Kräften.

„Wie konnte ich das nur zulassen“, stöhnte sie schließlich und stand mit Ethans Hilfe auf. „Es war so ein wunderbarer sonniger Abend gestern, da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, am Strand entlangzujoggen. Ich hatte mir fest vorgenommen, gleich anschließend etwas zu essen, aber dann rief Frasers Onkel an, und da habe ich es vergessen und bin ins Bett gegangen. Es tut mir schrecklich leid. Wie haben Sie mich denn gefunden?“

Ethan wollte antworten, doch Kyla kam ihm zuvor. „Wir waren gerade in der Nähe, und da dachte ich, ich könnte Ihnen doch gleich unseren neuen Arzt vorstellen. Das ist Dr. Walker.“

„Ich hätte mir gewünscht, Sie unter erfreulicheren Umständen kennenzulernen“, sagte Aisla verlegen. „Jedenfalls vielen Dank. Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Sie nicht vorbeigekommen wären.“

Ethan bemerkte, wie Kyla Fraser aufmunternd und lobend zulächelte.

Auch Aisla war der Blick nicht entgangen. „Fraser?“, fragte sie sanft. „Geht es dir gut? War dir vorhin nicht übel?“

„Mir geht es schon viel besser“, antwortete er mit fester Stimme. „Seit ich am Strand frische Luft geschnappt habe.“

„Frische Luft kann manchmal Wunder wirken“, behauptete Kyla unbekümmert, und Fraser atmete erleichtert auf.

„Und das ist wirklich ein ganz normaler Arbeitstag?“, fragte Ethan, als sie wieder im Auto saßen. „Bekommt man auch mal frei wegen guter Führung?“, fügte er scherzhaft hinzu.

Kyla lächelte. „Auf Glenmore sind wir ständig in Rufbereitschaft. Aber so schlimm wie heute ist es normalerweise nicht. So, und jetzt haben Sie sich wirklich etwas Zeit zum Ausruhen verdient. Ich setze Sie auf dem Weg zur Praxis ab. Vielleicht haben Sie ja nachher Lust, mit Logan und mir zu Abend zu essen. Das ist das Mindeste, was wir für Sie tun können, nachdem wir Sie gleich ins kalte Wasser geworfen haben.“ Sie sah, wie seine Miene sich veränderte. Überraschung spiegelte sich in den Tiefen dieser dunklen, gefährlich funkelnden Augen.

„Sie essen mit Ihrem Bruder zu Abend?“

„Natürlich. Wir sind ja schließlich eine Familie.“

„Aber nicht alle Familien essen gemeinsam und treffen sich in ihrer Freizeit.“

„Wir schon. Mehrmals die Woche. Finden Sie das so ungewöhnlich?“ Kyla musterte ihn erstaunt und fragte sich, was ihm so merkwürdig daran vorkam, wenn sie mit ihrem Bruder zu Abend aß. Für sie war das völlig normal. „Ich freue mich darauf, meine Nichte zu sehen. Normalerweise findet sich auch eine meiner Tanten oder Cousinen ein. Wahrscheinlich wird es ein ziemlich ausgelassener Abend, aber es wäre eine gute Gelegenheit für Sie, einige Inselbewohner kennenzulernen. Einer meiner Tanten gehört das Café am Hafen, eine andere hat eine Boutique für Strickwaren im Dorf. Zwei meiner Vettern sind Fischer. Gleichzeitig bilden sie die Mannschaft des Rettungsboots, falls es zum Einsatz kommt.“

„Und was ist mit Ihren Eltern?“

„Sie sind vor zwei Monaten zu meiner anderen Tante aufs Festland gezogen. Ihr Mann ist kürzlich gestorben, und sie braucht Hilfe auf dem Bauernhof. Meine Eltern haben nicht lange gefackelt und kümmern sich jetzt um den Hof. Aber wir treffen uns ziemlich oft.“

„Sie stehen einander ja wirklich sehr nahe in Ihrer Familie.“

„Finden Sie?“ Kyla überlegte. „Ich würde sagen, wir sind eine ganz normale Familie. Wir streiten uns, vertragen uns, sind ausgelassen und nehmen Anteil am Leben unserer Verwandten. Und wir freuen uns, wenn wir alle zusammen sind. Wieso auch nicht? Haben Sie auch eine große Familie? Brüder? Schwestern?“ Sein Blick wurde sofort wachsam und abweisend.

„Ich bin allein“, antwortete er kühl und wich ihrem Blick aus. „Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich acht Jahre alt war, und die zweite Ehe meines Vaters hat auch nicht sehr lange gehalten.“

„Oh.“ Kyla versuchte vergeblich, sich ein Leben ohne ihre Familie vorzustellen. Ob Ethan so reserviert und zurückhaltend war, weil er auf sich allein gestellt war? „Das muss ziemlich hart gewesen sein für Sie.“

„Im Gegenteil. Ich war erleichtert, als die endlosen Streitereien vorüber waren. Außerdem hat es mich zur Selbstständigkeit erzogen.“ Er schien jetzt erst richtig darüber nachzudenken. „Als Kind konnte ich tun und lassen, was ich wollte, weil alle um mich herum zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ich fand das gut.“

Gut? Kyla wunderte sich. „Aber das Schöne an der Kindheit ist doch, dass jemand sich um einen kümmert, dass man geliebt wird und die Liebe erwidert.“ Als sie ihn ansah, bemerkte sie seinen leicht spöttischen Blick.

„Das hängt sicher von der Einstellung der jeweiligen Person ab. Sie brauchen mich nicht zu bemitleiden, Kyla“, fügte er leise hinzu. „Ich bin nicht der Typ, der ständig umarmt und getröstet werden will.“

„Jeder muss mal in den Arm genommen werden und braucht menschliche Nähe.“ Selbst so ein unnahbarer selbstständiger Mann wie Ethan Walker.

„Ich löse meine Probleme lieber selbst – wenn ich allein bin.“

Kyla lachte. „Das würde ich manchmal auch gern tun. Aber auf Glenmore ist das so gut wie unmöglich. Die Leute kennen die Probleme ihrer Mitmenschen und bieten auch gleich Lösungsvorschläge an. Am liebsten in der Kneipe, wenn man gerade versucht, in Ruhe ein Glas zu trinken. Bitte kommen Sie nachher zum Abendessen. Dann werden Sie sanft an das Zusammenleben auf der Insel herangeführt. Ich würde es als eine Art keimfreie Neugier bezeichnen.“

Ihre humorvolle Beschreibung rang ihm ein Lächeln ab. „Ich dachte, Sie mögen nicht kochen.“

„Stimmt, aber zum Glück haben wir ja Evanna. Sie ist eine leidenschaftliche Köchin. Heute Abend gibt es Meeresfrüchte. Sie sollten wirklich kommen, es wird bestimmt lustig. Wenn das Wetter sich hält, essen wir bei Logan im Garten. Meine Nichte wird sicher wieder ein Chaos anrichten.“ Kyla versuchte, möglichst unbeschwert zu wirken und ihn nicht fasziniert anzustarren. Sein Haar war verwuselt, ein blauschwarzer Schatten am Kinn verriet, dass die letzte Rasur schon einige Stunden her war, aber das machte diesen Mann womöglich noch anziehender.

„Ach, das Baby ist auch dabei?“

Kyla, die unauffällig seinen sinnlichen Mund betrachtet hatte, sah auf und begegnete Ethans fragendem Blick. „Ja. Allerdings ist sie kein Baby mehr, sondern ein Krabbelkind. Sie ist unglaublich schnell, man muss ständig auf der Hut sein.“ Sie bemerkte eine leichte Abwehrreaktion. „Würde Sie das stören?“

„Warum sollte mich das stören?“

„Keine Ahnung.“ Sie hätte schwören können, dass er … „Sie schienen plötzlich so …“ Sein Blick war so einschüchternd, dass sie ihre Beobachtung lieber für sich behielt und nur leicht die Schultern zuckte. Wahrscheinlich war er den Umgang mit Kleinkindern nicht gewohnt. „Ach, nichts. Jedenfalls sind Sie herzlich willkommen. Ich kann Sie in meinem Wagen mitnehmen.“ Ihr Herz pochte aufgeregt. Merkwürdig, was für eine starke Anziehungskraft er auf sie ausübte!

„Ich fürchte, meine Beziehung zu Ihrem Auto ist beendet.“ Ethan zog vielsagend eine Augenbraue hoch. „Mein eigener Wagen trifft heute Nachmittag ein. Sie können bei mir mitfahren.“

„Dann kommen Sie also?“

Sein Zögern war kaum merklich. „Ja, wenn Sie sicher sind, dass es Ihrem Bruder nichts ausmacht.“

„Er freut sich über jeden, der kommt.“ Auch Kyla konnte ihre Freude kaum verbergen und ärgerte sich über ihre Reaktion. Warum war es ihr nicht gleichgültig, ob er zum Abendessen kam oder nicht? Erneut musste sie sich ermahnen, dass er nichts für sie war. Das Wenige, das er über sich selbst preisgegeben hatte, deutete auf eine sehr schwierige Kindheit hin. Und überhaupt: Was sollte sie mit einem Mann anfangen, dem nichts daran lag, in den Arm genommen zu werden? „Könnten Sie mich dann um sechs Uhr abholen? Wir essen früh, weil Logan Kirsty gegen sieben Uhr ins Bett bringt, und ich würde gern etwas Zeit mit ihr verbringen.“

Regungslos sah er vor sich hin. „Wie kommt er denn zurecht?“

„Mit der Kleinen? Sehr gut. Logan ist ein wunderbarer Vater – lustig, liebevoll und überaus präsent, wenn man bedenkt, was er beruflich um die Ohren hat. Natürlich geht das nicht ohne Unterstützung. Meine Tanten haben so eine Art Schichtplan ausgeklügelt, und ich springe auch ab und zu ein. Meine Cousinen packen mit an, und Logan hat einige Mädchen aus dem Dorf engagiert, doch das hat nicht richtig funktioniert.“

„Warum nicht? Waren sie inkompetent?“

„Im Gegenteil. Aber sie waren alle hinter meinem Bruder her“, erklärte Kyla trocken. „Offensichtlich gibt es für eine Frau nichts Anziehenderes als einen sexy Arzt mit Baby. Im Moment hilft Amy Foster aus. Wir haben schon Wetten abgeschlossen, wann sie einen Annäherungsversuch macht.“

„Und was ist mit Evanna? Sie hilft doch auch aus.“

Kyla lächelte. „Sie ist ganz verrückt nach der Kleinen.“

„Und es ist unwahrscheinlich, dass sie sich in Ihren Bruder verliebt, nehme ich an.“

Sie lachte über die Naivität der Männer. „Evanna ist schon ihr ganzes Leben lang in meinen Bruder verliebt. Hoffentlich bemerkt er es eines Tages. Sonst werde ich wohl doch nachhelfen müssen.“ Sie hielt vor den Cottages an und sah, wie Ethan ausdruckslos aufs Meer hinausblickte. „Es ist ziemlich schwierig, Sie zu durchschauen, Ethan.“

Er sah sie an. „Warum wollen Sie mich unbedingt durchschauen?“

„Es ist einfacher, mit Menschen umzugehen, in die man sich hineinversetzen kann.“

Ein Lächeln umspielte seinen Mund. „Mir liegt aber nichts daran, dass man sich in mich hineinversetzt.“

„Ist es Ihnen hier zu einsam? Hassen Sie die Insel?“ Als er keine Antwort gab, überlegte sie, ob er die Frage überhaupt gehört hatte. Doch dann wandte er sich ab und betrachtete erneut das Meer.

„Nein, ich hasse die Insel nicht.“

Was war denn das für eine Antwort? Aus ihm war aber auch gar nichts herauszubekommen. Frustriert schaltete sie den Motor aus. „Danke, dass Sie bei Aisla mitgeholfen haben. Dann bis nachher, Dr. Walker. Viel Spaß beim Duschen.“

Ethan betrat sein Cottage, zog sich Joggingkleidung an und verließ das Haus durch die Hintertür. Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, zu duschen, sich zu rasieren und sich etwas auszuruhen. Doch dazu hatte er keine Lust. Warum sollte er tun, was sinnvoll war?

Er wollte laufen, und zwar schnell.

Die Unterhaltung mit Kyla hatte ihn aufgewühlt, aber der Grund dafür blieb ihm verborgen.

Er wusste nur, dass er durch hartes Training alle Gedanken verscheuchen würde.

Zwar strahlte die Sonne vom Himmel, doch es wehte auch eine steife Brise. Von all dem bemerkte Ethan nichts. In seiner Miene spiegelte sich äußerste Konzentration aufs Laufen, als er durch den Garten hinunter zum Strand joggte.

Schnell und rhythmisch lief er am Ufer entlang, mit langen Schritten und kraftvollen Armbewegungen. Selbst als sein Atem immer schneller ging und ihm vor Anstrengung Schweißperlen über den Rücken liefen, ließ er nicht nach, sondern forderte seinem Körper alles ab.

Schließlich kam er am Ufer nicht weiter. Es gab nur noch den Weg hinauf zu den Klippen. Entschlossen lief Ethan in unvermindertem Tempo nach oben, wobei er die schmerzenden Lungen und Muskeln einfach ignorierte.

Arme und Beine brannten, das Herz pochte immer heftiger. Er war beseelt von dem Wunsch, seinen Gedanken davonzulaufen. Wenn er nur schnell genug liefe, würde ihm nichts und niemand mehr wehtun.

Kyla stand am Schlafzimmerfenster und sah zu.

Ethan lief wie ein Leistungssportler.

Oder als wäre der Teufel hinter seiner Seele her.

Selbst aus der Entfernung spürte sie Ethans Entschlossenheit, nicht nachzulassen. Sie meinte die unglaubliche Kraft seines Körpers wahrzunehmen, als er es mit den Elementen aufnahm. Das Tempo war fast übermenschlich.

Wie gebannt beobachtete Kyla diese unerwartete Demonstration männlicher Stärke.

Sie war nur kurz ins Haus gegangen, um etwas für die Nachmittagssprechstunde zu holen, dabei hatte sie zufällig aus dem Fenster geblickt. Zuerst war sie besorgt gewesen, die sportliche Aktivität könnte zu einer Verletzung führen, doch dann hatte sie den Blick von diesem – offensichtlich durchtrainierten – Sportler nicht abwenden können.

Sie beobachtete einen Mann auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit. Er war ganz sicher kein verweichlichter Städter, den das schlechte Gewissen zu einer Runde Jogging trieb. Dieser Mann verlangte seinem Körper regelmäßig das Äußerste ab. Auch der neuen athletischen Herausforderung schien er gewachsen zu sein.

Sein Laufstil war rhythmisch und erstaunlich elegant.

Das Gesicht konnte Kyla nicht erkennen, aber sie ahnte, dass sich in seiner Miene unnachgiebige Entschlossenheit widerspiegeln würde.

Offenbar war der Mann nicht nur von dem Wunsch beseelt, seinen Körper zu stählen. Sie wandte sich ab. Ethan sollte nicht merken, dass sie ihn beobachtete. Seine Privatsphäre war ihm offensichtlich sehr wichtig.

Kylas Neugier war geweckt. Schmetterlinge flatterten in ihrem flachen Bauch. Wer war dieser Mann?

Seine Unnahbarkeit war ihr völlig fremd. Was für ein Mensch verbarg sich hinter dem abweisenden Äußeren? Und warum fühlte sie sich so stark zu ihm hingezogen?

Wahrscheinlich lebte sie einfach schon zu lange allein – inmitten von Inselbewohnern, die sie in- und auswendig kannte.

Ethan Walker war ein Fremder. Vermutlich machte gerade das ihn so interessant.

Mehr steckte gar nicht dahinter.

Kyla schüttelte über sich selbst den Kopf. Wo war sie nur mit ihren Gedanken? Wenn sie nicht in zehn Minuten in der Praxis auftauchte, bekam sie es mit Logan zu tun!

Hinter Logans Haus, das an den Praxiskomplex angrenzte, befand sich ein riesiger Garten mit altem Apfelbaumbestand.

Frisch geduscht, nach einem hektischen Nachmittag in der Praxis, öffnete Kyla die Gartenpforte und betrat das Haus durch die Küchentür, ohne anzuklopfen.

„Hallo!“ Evanna stand am Herd und rührte in einem Schmortopf. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Wangen waren rosig, und sie trug ein weites weißes Sommerkleid. „Du bist ja früh dran. Könntest du mir bitte den Koriander reichen?“

„Koriander?“ Kyla sah sich unsicher um. „Ist das etwa dieses grüne Zeug, das aussieht wie Unkraut?“ Sie griff nach dem Bund, roch daran und reichte Evanna das Kraut. „Ethans Auto ist schuld daran, dass wir zu früh hier sind. Du solltest es dir mal ansehen: schwarz und mit wer weiß wie viel PS. Ein typisches Männerauto.“ Sie riskierte einen Blick über Evannas Schulter in den Schmortopf. „Ist das unser Abendessen? Sieht gut aus, aber ich dachte, es gäbe gegrillte Meeresfrüchte. Hast du das Rezept verloren?“

„Das ist Hühnersuppe für Kirsty. Sie schläft noch. Logan hält sich einfach nicht an ihre Zeiten. Ständig weckt er sie zwischendurch auf, um mit ihr zu schmusen.“ Geschickt hackte Evanna den Koriander, streute ihn auf die Suppe und bedachte Kyla mit einem neugierigen Blick. „Du nennst den neuen Kollegen also schon Ethan. Hast du dich mit ihm angefreundet?“

Kyla lächelte verlegen. „Nein, noch nicht. Aber ich glaube, ich würde mich nicht lange bitten lassen. Du hättest ihn vorhin beim Joggen am Strand sehen sollen. Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Was für ein Körper! Aber für so was hast du ja keinen Blick.“

„Du tust ja gerade so, als wäre ich blind, Kyla.“ Evanna konzentrierte sich wieder auf die Suppe, die weiter gerührt werden musste. „Ein attraktiver Mann fällt mir schon auf, wenn ich ihn sehe. Und Ethan ist wirklich sehr attraktiv.“

„Aber?“ Kyla beugte sich vor, nahm sich einen Löffel Suppe, pustete darauf und probierte vorsichtig. „He, die schmeckt köstlich. Darf ich mir einen Teller fürs Mittagessen morgen mitnehmen?“

„Bei einem Mann kommt es nicht nur aufs Aussehen an, Kyla.“ Evanna schlug ihr spielerisch auf die Hand. „Lass die Finger von der Suppe! Die ist für Kirsty.“

„Ich bin die offizielle Vorkosterin. Und Ethan sieht übrigens nicht nur gut aus.“

Evanna runzelte die Stirn. „Genau das beunruhigt mich. Über ihm schwebt eine dunkle Wolke. Er erscheint mir irgendwie geheimnisumwittert.“

„Nun werd mal nicht gleich hochdramatisch.“ Lachend wandte Kyla sich um und ließ den Löffel ins Spülbecken fallen. Evanna sollte nicht merken, wie sehr ihre Worte sie getroffen hatten. „Du liest zu viele keltische Sagen. Deine Fantasie geht mit dir durch. Wahrscheinlich siehst du auch hinter jeder Straßenecke Feuer speiende Drachen.“

Evanna fand das gar nicht komisch. „Lach du nur, aber du wirst noch an meine Worte denken. Ich sage dir, Kyla, der Mann hat Geheimnisse.“

Kyla lief ein eisiger Schauder über den Rücken. „Was denn für Geheimnisse?“

„Wenn ich das wüsste, wären es keine Geheimnisse mehr, oder? Aber geheuer ist mir die Sache nicht.“ Evanna hörte auf zu rühren. Besorgt wandte sie sich um. „Irgendwas stimmt nicht mit ihm“, sagte sie leise. „Spürst du es nicht auch? Er ist so hart und unnahbar, fast ein wenig Furcht einflößend. Ach, ich weiß es auch nicht. In seinem Leben muss etwas Gravierendes vorgefallen sein. Und damit scheint er nicht zurechtzukommen.“

„Wir haben alle unser Päckchen zu tragen“, gab Kyla zu bedenken. „Kein Mensch ist ganz ohne Probleme, Evanna.“ Sie hatte keine Lust, sich durch Evannas Unkerei den schönen Abend verderben zu lassen.

„Du hast recht. Sei aber trotzdem vorsichtig, Kyla. Ich möchte nicht, dass ein Mann dir wehtut.“

„Es wäre ja nicht das erste Mal.“

Ihre Freundin betrachtete sie mitfühlend. „Seit dieser Mistkerl Mike Robinson die Insel verlassen hat, hast du dich nicht wieder verliebt. Es wird langsam Zeit für eine neue Beziehung. Ich weiß nur nicht, ob Ethan der geeignete Kandidat dafür ist. Läuft da was zwischen euch beiden, oder wünschst du dir das nur?“

„Es knistert ganz schön zwischen uns. Das bilde ich mir nicht nur ein. Jedes Mal, wenn wir uns ansehen, habe ich das Gefühl, der Boden unter mir schwankt.“ Kyla biss sich auf die Lippe. „Allerdings habe ich den Eindruck, Ethan ist nicht sehr erfreut darüber. Er kämpft gegen seine Gefühle an.“

„Wahrscheinlich weil er genau weiß, dass er nur einen Sommer lang auf Glenmore bleibt“, erklärte Evanna. „Wenigstens ist einer von euch vernünftig.“

„Das bin aber nicht ich“, sagte Kyla unbekümmert. „Du weißt ja, dass ich mir immer die falschen Männer aussuche. Und was ist mit dir? Da wir gerade von Problemen sprechen: Wieso trägst du ein weißes Kleid, wo du doch gleich meine Nichte fütterst? Wirklich eine merkwürdige Wahl, wenn man bedenkt, wie gut Kirsty zielen kann. Dieses Kleid ist die längste Zeit einfarbig gewesen.“

Verlegen wandte Evanna den Blick ab. „Es gefällt mir eben.“

„Das sollte es auch. Es steht dir nämlich sehr gut und ist mal eine Abwechslung zu Jeans.“ Kyla zog eine Schublade auf und holte sich noch einen Löffel heraus, um die Suppe ein weiteres Mal zu probieren. „Meinem Bruder wird es wahrscheinlich auch gefallen. Deshalb hast du es wohl auch angezogen.“

Evanna lächelte verlegen. „Dein Bruder würde nicht einmal Notiz von mir nehmen, wenn ich nackt vor ihm Tango tanzen würde.“

Kyla kostete die Suppe. „Ich bin zu der traurigen Erkenntnis gekommen, dass mein Bruder dumm ist. Eines Tages werde ich ihm das auch sagen. Aber erst, wenn ich die gegrillten Meeresfrüchte gegessen habe. Mit leerem Magen streitet es sich nicht gut.“

„Versprich mir, dich nicht einzumischen.“ Evanna sah sie ernst an. „Außerdem ist er überhaupt nicht dumm, ganz im Gegenteil, und das weißt du genau. Er ist eben einfach noch nicht über Catherine hinweg. Das ist ganz normal.“ Sie schüttete die Suppe in den Mixer und ließ den Deckel einrasten. „Sie war seine Frau. Er hat sie geliebt.“

Kyla wartete, bis Evanna das laute Gerät ausgeschaltet hatte. „Ja, ich weiß. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht wieder verlieben kann.“

Evanna begegnete ihrem Blick. „Trotzdem mache ich mir keine Hoffnungen. Lass uns das Thema wechseln.“

Kyla beugte sich vor und nahm ihre Freundin in den Arm. „Du musst ihm Zeit lassen. Hab etwas Geduld mit ihm.“ Sie blickte auf und sah Ethan in die Küche schlendern. Plötzlich schien sie keine Luft mehr zu bekommen.

„Logan hat mit dem Grillen begonnen.“ Sein sonorer Tonfall klang kultiviert. „Er lässt fragen, was ihr beiden Hübschen hier so lange macht.“

„Wir halten uns in den Armen, wie es unter Freunden üblich ist. Unser Dr. Walker macht sich nichts aus Umarmungen“, sagte Kyla, ließ Evanna los und musste sich zusammenreißen, Ethan nicht gebannt anzuschauen. Das war gar nicht so einfach!

Auf der kurzen Fahrt von den Cottages zu Logan hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, ihn zu betrachten. Jetzt fiel ihr auf, dass er geduscht und sich rasiert hatte und eine schwarze Jeans und ein Freizeithemd trug, das seine muskulösen Schultern betonte. Kyla schluckte. Ihre Hände bebten. Schnell wandte sie sich ab und ließ den Löffel ins Spülbecken fallen, um ihre verräterischen Gefühle zu verbergen. Evanna hatte recht. Sie selbst war ja zu der Erkenntnis gekommen, dass Ethan ein schwieriger Mann war. Doch er war der Einzige, bei dem ihr die Knie weich wurden. Es fiel ihr schwer, das aufregende Knistern zwischen ihr und Ethan zu ignorieren.

„Ich hole die Garnelen aus dem Kühlschrank“, sagte Kyla mit abgewandtem Gesicht, ging zum Kühlschrank und zog die Tür auf. Vielleicht würde die Kälte helfen. Teller voller frischer Meeresfrüchte lachten sie an. Sie reichte sie Ethan. „Hier, die können Sie mitnehmen. Wir kommen mit dem Salat nach.“

„Geh schon mal vor, Kyla.“ Evanna schüttete Suppe in ein Schälchen. „Ich hole Kirsty und komm nach.“

Logan und Ethan widmeten sich sogleich einem Fachgeplänkel über Aisla, und Kyla betrachtete das Essen, das darauf wartete, gegrillt zu werden.

„Könntest du dich vielleicht erst mal dem Grillen widmen, bevor du dich über deine Patienten unterhältst, Logan? Wenn ich nicht gleich etwas zu essen bekomme, sinkt mein Blutzuckerspiegel dramatisch“, behauptete sie im Plauderton.

Ihr Bruder musterte sie mit spöttischem Blick. „Du hast doch auch zwei Hände. Warum legst du die Sachen nicht auf den Grill?“

„Wahrscheinlich weil mir eingefallen ist, dass ihr alle Bauchschmerzen bekommen habt, als ich das letzte Mal gekocht habe.“

„Das ist allerdings ein Argument.“ Logan lächelte frech, und sie knuffte ihn spielerisch.

„Jetzt fang endlich an, Logan, sonst warten wir um Mitternacht noch aufs Essen. Aisla geht es gut. Außerdem ist sie jetzt Ethans Patientin.“

„Sie kommt morgen in die Sprechstunde, damit ich sie gründlich untersuchen kann. Ich übernehme den Grill.“ Ethan griff nach dem Teller und legte Garnelen auf den Rost.

Kyla sah bewundernd zu. „Sie können kochen?“

Er lächelte ihr so unbekümmert zu, dass ihr Herz sofort schneller pochte. „Ich koche ganz gern, wenn ich die Zeit dazu habe.“

Evanna hat sich geirrt, dachte Kyla erleichtert. Er ist nicht geheimnisumwittert, nur etwas reserviert. Hier in Logans Garten entspannte er sich zusehends.

Soweit ihre Theorie. Als Evanna jedoch mit Kirsty auf dem Arm auftauchte, stellten sich erneut Zweifel ein.

„Du darfst sie nicht so lange schlafen lassen, Logan“, schimpfte Evanna gutmütig und hielt das sich windende Kleinkind fest. „Sie muss sich an feste Zeiten gewöhnen.“

„Ich auch“, antwortete Logan trocken und öffnete eine Flasche Bier. „Vielleicht könntest du das mal meinen Patienten beibringen. Ich brauche regelmäßig Schlaf und etwas zu essen. Wenn es so weitergeht, bekomme ich noch Verdauungsbeschwerden.“

„Ich meine es ernst, Logan“, sagte Evanna. „Es ist wirklich schwierig, sie abends zur Ruhe zu bringen, weil sie nicht weiß, ob sie wach sein oder schlafen soll.“

Logan verdrehte die Augen und nahm seine Tochter auf den Arm. „Feste Zeiten sind gar nicht so wichtig“, behauptete er und barg sein Gesicht in den blonden Locken der Kleinen. „Wenn sie früh ins Bett gebracht wird, sehe ich sie manchmal abends gar nicht mehr. Das will ich nicht, weil ich mich darauf freue, mit ihr zu schmusen.“

Kyla musste gerührt schlucken, als sie die beiden zusammen sah. Er ist ein guter Vater, dachte sie und fühlte sich bei einem Blick auf Evanna in ihrer Meinung bestätigt.

Dann sah sie Ethan an und stutzte. In seiner Miene spiegelten sich Schock, Schmerz und Verzweiflung. Ihr Herz zog sich vor Mitleid zusammen.

Starr blickte er das Baby an.

„Ich habe ihr selbst gemachte Hühnersuppe angeboten.“ Evanna schnitt eine so komische Grimasse, dass Kirsty vor Vergnügen quietschte. „Aber die war uninteressant für sie.“

Hat denn außer mir keiner etwas bemerkt?, überlegte Kyla und ging instinktiv auf Ethan zu. Stocksteif stand er am Grill. Es hatte den Anschein, als fürchtete er sich, auch nur eine Bewegung zu machen.

Ob er keine kleinen Kinder mochte? Oder hatte er vielleicht ein Baby verloren? Was mochte in seinem Leben passiert sein, das so eine heftige Reaktion hervorrief?

Kyla überlegte hin und her, gelangte jedoch zu keiner konkreten Erklärung.

Vielleicht machte sie sich einfach zu viele Gedanken. Ethan war ja Single, wahrscheinlich mochte er keine Kleinkinder.

„Sie braucht keine Suppe, sondern Aufmerksamkeit. Komm, schmus mit deinem Daddy“, sagte Logan leise, und die Kleine gluckste vor Vergnügen und zog ihn am Haar.

„Au, hör auf, du kleines Ungeheuer! Sonst hat Daddy bald eine Glatze, und das sieht nicht gut aus, wie deine Tante Kyla sagen würde.“ Logan umfasste die kleine zur Faust geballte Hand seiner Tochter und küsste die Kleine geräuschvoll auf die Wange. „Reiß jemand anderem die Haare aus! Kyla zum Beispiel. Die hat genug.“

„Ethan?“ Kyla legte ihm behutsam die Hand auf den Arm. „Ist alles in Ordnung?“

Im ersten Moment hatte er sie gar nicht bemerkt. Erst langsam schien er aus seiner Starre zu erwachen. „Klar“, sagte er schließlich ausdruckslos. „Wieso nicht?“

„Keine Ahnung. Sie waren nur so …“

„Ich bin nur müde“, behauptete er. „Es war ein langer Tag, und die Nacht davor auch. Wahrscheinlich hätte ich mich lieber ins Bett legen sollen, statt die Einladung zum Abendessen anzunehmen.“

War das die Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten? War er tatsächlich einfach nur übermüdet?

Kyla sah ihre Nichte an, bevor sie Ethan erneut forschend betrachtete. Irgendwie konnte sie sich mit seiner Erklärung nicht zufriedengeben. Wieso sollte der Anblick eines fremden Babys ihn so betroffen machen? Das ergab keinen Sinn. „Ist sie nicht süß?“

Ethan ließ sich mit der Antwort Zeit. Die Bierflasche, die Logan ihm reichte, umklammerte er so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Ich kenne mich mit kleinen Kindern nicht aus“, sagte er schließlich rau, setzte die Flasche an und nahm einen langen Schluck, „aber sie ist bestimmt sehr süß.“

Offensichtlich ist er ein Einzelgänger, dachte Kyla. Er hatte ja auch keine Familie. Natürlich war der Umgang mit Kleinkindern schwierig für ihn. Trotzdem erklärte das noch lange nicht sein seltsames Verhalten. Vielleicht hatte Evanna doch recht.

„Übrigens habe ich vorhin einen Anruf aus dem Krankenhaus erhalten“, erzählte Logan. „Doug geht es schon viel besser. Sie behalten ihn aber noch einige Tage da und stellen ihn richtig ein, bevor er nach Hause entlassen wird.“

„Wir müssen ihn in unsere Koronar-Sportgruppe aufnehmen“, schlug Kyla vor, die Ethan keine Sekunde lang aus den Augen ließ. „Er muss sich mehr bewegen. Evanna gibt einmal die Woche Unterricht im Gemeindezentrum. Ich werde mit ihm reden, sobald es ihm besser geht.“

„Leslie braucht auch Unterstützung.“ Logan zuckte zusammen, als Kirsty ihn erneut an den Haaren zog. „Sie hat vorhin aus dem Krankenhaus angerufen und mich mit Fragen bombardiert.“

„Die kann man ihr doch dort beantworten.“

Logan lachte. „Sie traut den Ärzten dort nicht über den Weg und wollte lieber mit mir sprechen.“

Kyla verzog unwillig das Gesicht. „Wie fühlt man sich eigentlich, wenn die Leute einen als Halbgott in Weiß betrachten?“

„Erschöpft. Leslie kommt morgen zurück, um nach Andrea zu sehen, die vorübergehend zu einer Schulfreundin gezogen ist und sich offenbar große Sorgen um ihren Dad macht. Die Garnelen sind gar, Ethan. Da ist ein Teller. Daneben steht Evannas selbst gemachte Zitronenmayonnaise. Bitte greifen Sie zu.“

„Andrea hält ihre Familie ganz schön auf Trab.“ Kyla reichte Ethan einen Teller, damit er die Garnelen darauflegen konnte.

Er hatte sich wieder entspannt. Kyla sah zu, wie er sich Bier und Garnelen schmecken ließ und sich zwischendurch um die anderen Meeresfrüchte auf dem Grillrost kümmerte.

Wahrscheinlich hatte sie sich doch alles nur eingebildet. Jetzt wirkte er völlig normal und reichte Kirsty sogar ein Stück Brot zum Kauen.

„Heute war Sonia Davies in der Schwangerschaftsgymnastik“, sagte Evanna zu Logan. „Du weißt schon, die Bibliothekarin. Sie möchte ihr Kind gern zu Hause zur Welt bringen.“

Das Lächeln wich von Logans Gesicht. „Ich mache keine Hausentbindungen“, antwortete er barsch. „Das weißt du ganz genau. Du brauchst mich also gar nicht zu fragen.“

Evanna biss sich auf die Lippe. „Es ist ihr zweites Kind, und sie …“

„Hausgeburten kommen bei mir nicht infrage.“

„Aber Logan, sie ist nicht …“

„Sie soll das Kind im Entbindungsheim auf dem Festland zur Welt bringen. Das gleicht einer Hausgeburt, birgt aber nicht die Risiken. Wir leben auf einer Insel, Evanna. Jetzt wirst du sicher sagen, wir können die werdende Mutter immer noch aufs Festland bringen, wenn es Komplikationen bei der Geburt gibt. Aber wer garantiert uns, dass sie dort rechtzeitig ankommt? Wir müssen realistisch sein. Wir verfügen hier weder über eine Intensivstation für Neugeborene, noch kann ich eine Gebärmutteroperation an einer Frau mit unstillbarer Blutung vornehmen.“ Logan wandte sich abrupt ab und griff nach seinem Bier. Evanna wechselte einen hilflosen Blick mit Kyla, die unauffällig den Kopf schüttelte, um Evanna zu verstehen zu geben, sie solle das Thema auf sich beruhen lassen.

Beide wussten, warum Logan so unnachgiebig war: wegen Catherine.

Mitfühlend legte Kyla ihrem Bruder die Hand auf den Arm. „Habe ich dir schon erzählt, dass Mum gestern Abend angerufen hat? Sie plant, Dads Geburtstag hier zu feiern. Kirsty fehlt ihnen sehr. Sie haben sich sehr über die Fotos gefreut, die du ihnen geschickt hast. Besonders über das Bild, auf dem sie im Wäschekorb sitzt.“

Logan hatte sich wieder beruhigt. Er atmete tief durch und sah sie von der Seite an. „Es wäre schön, wenn sie kämen. Kirsty freut sich immer, wenn sie da sind.“

„Mum fürchtet, das Beste zu verpassen. Kirsty wächst ja so schnell.“ Kyla klopfte ihm freundschaftlich auf den Arm, dann ließ sie ihn los und steckte sich eine Kirschtomate in den Mund. „Hoffentlich ist sie hier, wenn Kirsty anfängt zu laufen. Sonst wird sie sehr enttäuscht sein.“

Logan lächelte ihr zärtlich zu. „Es geht schon wieder“, sagte er leise auf Gälisch.

Sie nickte und antwortete in derselben Sprache: „Ich weiß.“ Dann drehte sie sich um und fing Ethans unergründlichen Blick auf.

Er scheint ein sehr nachdenklicher ernster Mensch zu sein, dachte sie, als sie zu Evanna hinüberschlenderte. Das heißt aber nicht, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Und doch ging ihr der Blick, mit dem er Kirsty vorhin betrachtet hatte, nicht aus dem Sinn. Ach, vielleicht habe ich mir den nur eingebildet, überlegte sie. Ihre Miene hellte sich gleich darauf wieder auf, als eine ihrer Tanten und zwei Cousinen eintrafen.