Am nächsten Morgen betrat Ethan Kylas Behandlungszimmer mit einem Schreiben in der Hand.
„Shelleys Laborwerte sind eingetroffen.“
Kyla musterte ihn sprachlos. War das alles, was er ihr zu sagen hatte?
Nach diesem Kuss, der wahrscheinlich die Grundfeste der Insel erschüttert hatte, ging er einfach zur Tagesordnung über?
Aufgeregt wartete sie, dass er auf den gemeinsam verbrachten Abend anspielte, doch er gab sich völlig professionell, um nicht zu sagen kühl und abweisend, so als hätte es den Kuss nie gegeben.
Im Gegensatz zu ihr hatte Ethan offensichtlich keine schlaflose Nacht hinter sich.
Noch immer war Kyla verletzt, weil er den Kuss so unvermittelt beendet hatte. Warum hatte er das getan? Irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Schade, dass er ihr seine Probleme nicht anvertrauen wollte.
Sie riss sich zusammen, weil die Praxis kaum der geeignete Ort für eine private Auseinandersetzung war, und blickte ihn erwartungsvoll an. „Und was liest du aus den Laborwerten?“
„Es handelt sich eindeutig um ITP. Aber die Anzahl der Blutplättchen ist akzeptabel, sodass die Beschwerden hoffentlich innerhalb einiger Monate abgeklungen sein werden. Ich habe mit dem Hämatologen gesprochen. Er empfiehlt, zunächst abzuwarten. Wir werden ihre Blutwerte im Auge behalten und dann mal sehen, ob wir eingreifen müssen.“
„Das ist eine gute Nachricht.“ Kyla war sichtlich erleichtert. „Mary wird sich freuen.“
„Ich habe bereits mit ihr telefoniert und sie und Shelley für heute Nachmittag fünf Uhr in die Sprechstunde bestellt. Es wäre schön, wenn du dazukommen könntest.“
„Ja, gern.“ Würde er jetzt endlich den Kuss ansprechen, oder hatte er ihn bereits aus seinem Gedächtnis verbannt? Vielleicht küsste er jede Frau so, nachdem er einen geselligen Abend mit ihr verbracht hatte.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sah er Kyla in die Augen. Sofort begann ihr Herz, aufgeregt zu pochen. Er biss sich auf die Lippe und räusperte sich. „Ich muss jetzt weitermachen.“
„Ja, natürlich“, antwortete sie mit versagender Stimme. Schnell riss Ethan sich von Kylas Anblick los und verließ das Behandlungszimmer.
Ständig ließ er sie so stehen!
Frustriert sah sie ihm nach. Am liebsten wäre sie ihm nachgegangen und hätte ihm die Fragen gestellt, die ihr auf der Seele brannten: Was soll das? Warum erwähnst du diesen aufregenden Kuss mit keinem Wort? Willst du diese enorme Anziehungskraft zwischen uns einfach ignorieren?
Hatte sie sich das etwa alles nur eingebildet, und er fühlte sich gar nicht zu ihr hingezogen? „Männer“, murmelte sie vor sich hin und bereitete alles für den nächsten Patienten vor. „Dabei werfen sie uns Frauen vor, schwer durchschaubar zu sein!“
Den ganzen Tag versuchte sie, sich auf ihre Patienten zu konzentrieren. Kurz vor fünf betrat sie dann Ethans Sprechzimmer.
„Mary und Shelley sind im Anmarsch.“ Sie sah ihn an. Seine kühle professionelle Art war einschüchternd. „Du trägst ja wieder einen Anzug.“
Er rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin eben bei der Arbeit.“
„Hilft der Anzug, die nötige Distanz zu deinen Mitmenschen zu wahren?“, fragte sie, ohne nachzudenken. Sie bereute die Frage sofort, als sie Ethans ruhigen Blick auffing.
„Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, Kyla“, sagte er leise, und sie wandte sich beschämt ab. Natürlich wusste sie selbst, dass dies auch nicht der rechte Ort war. Wütend fragte sie sich, warum sie Ethan überhaupt gezeigt hatte, wie sehr sein Verhalten sie verletzt hatte.
Warum konnte sie nicht so gleichgültig sein wie er?
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus den Gedanken.
Mary Hillier und Shelley betraten das Sprechzimmer. Ethan winkte sie heran. „Bitte nehmen Sie Platz. Da Sie sich offensichtlich große Sorgen machen, will ich gleich zur Sache kommen.“ In leicht verständlichen Worten erklärte er die Ergebnisse der Blutuntersuchung.
Mary wirkte erleichtert. „Worum handelt es sich eigentlich genau bei ITP?“
„Es werden nicht genug Blutplättchen gebildet. Aus dem Biologieunterricht wissen Sie vielleicht noch, dass die Blutplättchen für die Blutgerinnung verantwortlich sind.“
„Dann kann es zu Blutungen kommen, wenn Shelley nicht genug Blutplättchen hat?“
„Genau. Deshalb hat sie so viele blaue Flecken.“
„Und woher hat sie die Krankheit?“
„Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung. Mit anderen Worten: Der Körper greift sich selbst an. In diesem speziellen Fall werden die Blutplättchen angegriffen. Unter Forschern ist allgemein die Ansicht verbreitet, dass dies bei Kindern durch eine Virusinfektion ausgelöst wird.“
„Aber behandeln kann man die Krankheit nicht?“
„Eine Behandlung ist nicht immer erforderlich. Besonders Kinder erholen sich meistens innerhalb von zwei Monaten, ohne dass man eingreifen muss.“
„Und was ist, wenn Shelley Beschwerden hat?“
Ethan griff nach einem Stift und schrieb etwas auf einen Notizzettel, den er Mary reichte. „Das ist meine Telefonnummer. Darunter bin ich Tag und Nacht zu erreichen. Shelley muss regelmäßig zur Blutuntersuchung kommen, damit wir feststellen können, ob sich die Zahl der Blutplättchen erhöht.“
Kyla nickte bestätigend. Ethan wirkte zwar unnahbar, war aber stets für seine Patienten da. Und die schienen ihn gar nicht so Furcht einflößend zu finden.
Mary steckte die Notiz in ihre Handtasche. „Darf Shelley überhaupt weiterhin Sport treiben? Sie spielt sehr gern Korbball. Momentan finden ständig Spiele in der Schule statt.“
„Die Anzahl der Blutplättchen ist momentan gut genug, sodass sie ruhig spielen kann.“ Ethan machte eine weitere Notiz. „Wir behalten das Blutbild im Auge. Sollte die Zahl der Thrombozyten weiter fallen, wird Shelley für eine Weile auf Mannschaftssport verzichten müssen. Aber das sehen wir dann.“
Erleichtert verließen Mutter und Tochter das Sprechzimmer, und Kyla rang sich ein Lächeln ab.
„Du kannst sehr gut erklären.“
„Trotz des Anzugs?“, fragte er neckend.
Sie ging darüber hinweg. „Danke, dass du dir so viel Zeit für Mary und Shelley genommen hast“, sagte sie und ging zur Tür. Es war ihr unmöglich, noch eine Minute länger in Ethans Nähe zu bleiben. Er brachte sie völlig aus dem Konzept, wohingegen er selbst offensichtlich völlig unbeeindruckt war. „Ich muss wieder an die Arbeit.“
„Warte mal, Kyla.“
Sie wandte sich nicht um. „Jetzt nicht, Ethan“, sagte sie leise. „Es ist der falsche Zeitpunkt. Das hast du vorhin selbst gesagt.“
Frustriert blickte Ethan Kyla nach.
Warum ausgerechnet jetzt? Und warum ausgerechnet sie?
Leise vor sich hin fluchend lockerte er den Schlipsknoten.
Er hatte sie verletzt. Sie dachte, er hätte sie abgewiesen. In gewisser Weise stimmte das ja auch, aber nur, weil er nicht anders konnte.
Nachdenklich wandte er sich um und sah aus dem Fenster. Dunkle Wolken zogen über den Himmel.
Natürlich könnte er ihr die Wahrheit sagen – über sich und seine Beweggründe, auf die Insel zu kommen.
Doch dazu war er noch nicht in der Lage.
Es war noch viel zu viel ungeklärt. Erst musste er Licht in die Angelegenheit bringen. Dann konnte er sich um Kyla MacNeil kümmern.
Bald.
Kyla kam sich sehr dumm vor.
Sie setzte sich ans Steuer, streifte den neben ihrem Auto stehenden schwarzen Sportwagen mit kurzem Blick und schüttelte traurig den Kopf. Der Wagen war genauso schnittig, elegant und außergewöhnlich wie sein Besitzer.
Ethan Walker passte nicht in diese Umgebung, und er würde sich auch niemals für eine Frau wie sie interessieren, dessen war sie sich jetzt sicher.
Ärgerlich machte sie sich auf den Weg. Natürlich war sie gut genug für ihn, aber manchmal kam eine Beziehung eben einfach nicht zustande. Daran konnte die überwältigende Anziehungskraft zwischen Ethan und ihr auch nichts ändern. Sie hatten nun einmal unterschiedliche Auffassungen von ihrer Lebensgestaltung. Wahrscheinlich waren sie einfach zu verschieden.
Er fuhr einen eleganten Sportwagen, trug einen Anzug in der Praxis – für den Kyla wahrscheinlich zwei Monatsgehälter hätte bezahlen müssen.
Es stand außer Frage, dass er ein ausgezeichneter Arzt war und gut mit den Patienten umgehen konnte. Andererseits blieb er auch gern für sich. Manchmal wirkte er richtig unnahbar. Wenn er am gemeinsamen Abendessen bei Logan teilnahm, hatte sie oft das Gefühl, er würde sie alle beobachten.
Vielleicht war das sogar verständlich, wenn man seine einsame unglückliche Kindheit bedachte. Seine Eltern schienen sich nicht für ihn interessiert zu haben.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl der MacNeils dagegen war sehr ausgeprägt. Es herrschte immer ein großes Hallo, wenn die Familie sich zum Essen einfand. Wahrscheinlich bildete sie für einen Mann wie Ethan ein interessantes Studienobjekt.
Kyla seufzte und beschloss, einen Hausbesuch bei Doug und Leslie zu machen. Die konnten etwas Aufmunterung gut gebrauchen, und sie würde es von ihren eigenen Problemen ablenken.
Ich werde mir Ethan jetzt aus dem Kopf schlagen, dachte sie und gab Gas.
Sie würde auch aufhören, ihm beim Joggen und Schwimmen zuzusehen. Und den Kuss würde sie auch vergessen.
Jeder machte mal einen Fehler. Und sie hatte bisher noch immer aus ihren Fehlern gelernt.
Sie parkte vor dem Haus der McDonalds und ging auf die Eingangstür zu. Den Wagen schloss sie nicht ab.
„Hallo! Jemand zu Hause?“ Sie stieß die Tür auf und rief noch einmal.
Leslie kam ihr aus der Küche entgegen. „Hallo, Schwester MacNeil, kommen Sie doch herein.“ Sie trocknete sich die Hände an der Schürze ab. „Ihr Patient sitzt im Garten, aber heute Nachmittag hat er einen Spaziergang gemacht, wie man es ihm geraten hat. Nur den Gartenweg auf und ab. Das Wasser hat gerade gekocht. Möchten Sie eine Tasse Tee?“
„Gern.“ Kyla folgte Leslie in die Küche. „Das Mittagessen ist schon eine halbe Ewigkeit her.“
Leslie schüttelte missbilligend den Kopf. „Ihr seid alle überarbeitet in der Praxis. Aber wir sind sehr dankbar, dass ihr für uns da seid. Ich wüsste gar nicht, was wir ohne euch tun würden.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Doug und ich stehen tief in Ihrer Schuld und in der des neuen Doktors. Die Ärzte im Krankenhaus waren sehr beeindruckt davon, wie Sie Doug versorgt haben. Sie haben gesagt, Sie haben ihm das Leben gerettet.“
„Wir haben nur unsere Arbeit getan, Leslie. Das war selbstverständlich. Es war sehr hilfreich, dass Ben Doug so schnell in die Praxis gebracht hat.“
Leslie nickte zustimmend. „Ben ist ein netter Kerl. Natürlich fehlt Doug ihm jetzt in der Wirtschaft.“
„Ben kommt schon klar.“ Kyla blickte aus dem Fenster und entdeckte Doug, der über den Garten blickte. „Wie geht es ihm?“
„Er hat zwar keine Schmerzen mehr, aber er ist natürlich noch sehr erschöpft. Das kommt auch von den Medikamenten. Die Ärzte haben gesagt, dass Dr. Walker die Dosis ändern kann, wenn es nötig ist.“
„Ja, ich weiß.“ Kyla wandte sich ihr zu. „Ich meinte auch eher, wie er sich psychisch fühlt. Doug ist ja immer sehr aktiv gewesen. Wie kommt er damit zurecht, dass er jetzt alles langsamer angehen muss?“
„Er hat ja keine Wahl. Ich glaube, er ist ziemlich frustriert.“ Leslie betrachtete ihren Mann durchs Küchenfenster, dann sah sie Kyla lächelnd an. „Wobei war ich gerade? Ach ja, Tee. Ich würde Ihnen gern ein Stück Kuchen anbieten, aber nachdem ich Doug aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, habe ich alle ungesunden Lebensmittel entsorgt. Zum Naschen ist nur noch Obst im Haus.“
„Ich möchte auch gar keinen Kuchen. Vielen Dank, Leslie. Prima, dass Sie Dougs Diät unterstützen.“
Leslie hängte Teebeutel in eine Kanne. „Es fällt mir schwer, an etwas anderes zu denken“, sagte sie leise vor sich hin, und Kyla sah sie forschend an.
„Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen?“
„Ich?“ Leslie schüttelte den Kopf und goss kochendes Wasser über die Teebeutel, dass es nur so spritzte. „Warum sollte ich mit jemandem reden? Schließlich bin ja nicht ich der Patient.“
„Aber Sie sind auch betroffen.“ Umsichtig nahm Kyla ihr den Teekessel ab und stellte ihn außer Reichweite. Dann griff sie nach einem Tuch und wischte das von Leslie verschüttete Wasser weg. „Es ist sehr belastend, wenn jemand, der einem sehr nahesteht, plötzlich erkrankt. Und Sie dürfen sich nichts anmerken lassen. Das muss furchtbar hart sein.“
„Mir geht es gut“, behauptete Leslie abwehrend und lächelte betont strahlend. „Sie kümmern sich jetzt um Doug, ich komme gleich nach.“
„Ich wollte aber zuerst mit Ihnen reden.“
„Ich bin nicht krank.“ Leslie ließ sich beim Zusammenlegen eines Geschirrtuchs viel Zeit. Schließlich war es mit ihrer Beherrschung vorbei. „Ich habe Angst, er könnte jede Minute sterben“, schluchzte sie. „Am liebsten würde ich ihn in Watte packen und ihm verbieten, sich zu bewegen. Ich habe solche Angst, dass es alles zu viel für sein geschwächtes Herz ist. Aber Dr. Walker hat gesagt, er soll sich ein wenig bewegen. Und er soll auch zur Rehab … oder wie das heißt, kommen.“
„Rehabilitation.“
„Genau. Aber wenn es nach mir ginge, dürfte er nicht einmal eine Tasse hochheben.“
„Ach Leslie.“ Mitfühlend legte Kyla ihr einen Arm um die Schultern. „Es ist wirklich wichtig für ihn, nach dem Herzinfarkt an der Bewegungstherapie für Herzpatienten teilzunehmen. Nur so wird Doug wieder ein normales Leben führen können. Das Programm ist genau auf sein Alter und seine Lebensführung abgestimmt. Ich habe heute Morgen mit der Oberschwester der Kardiologie im Krankenhaus telefoniert. Sie hat mir genau gesagt, welche Übungen wir mit Doug machen sollen.“
„Er hat auch ein Video und Broschüren mitbekommen. Außerdem muss er abnehmen.“
Kyla nickte. „Ja, das stimmt. Aber es geht nicht nur um gesunde Ernährung und Bewegung, Leslie, sondern auch darum, Sie beide psychisch zu unterstützen, damit Sie sich an die Lebensumstellung gewöhnen.“
„Ist das möglich?“
„Natürlich. Wir sind für Sie da, Leslie. Logan, Dr. Walker, Evanna und ich. Sie sind nicht allein auf sich gestellt. Wir helfen Ihnen.“
„Aber Sie können nicht garantieren, dass Doug von nun an von einem weiteren Infarkt verschont bleibt.“
„Nein, das können wir nicht. Im Leben gibt es keine Garantien. Aber wir werden unser Bestes geben. Viele Menschen haben sich nach einem Herzinfarkt wieder vollständig erholt und führen ein erfülltes Leben.“
„Nachts wage ich nicht einmal mehr zu schlafen, falls Doug mich brauchen sollte.“
„Das ist ganz normal, Leslie, wird sich aber bald ändern. Dann werden Sie gelassener, und bald wird es Ihnen beiden wieder gut gehen. Sie müssen nur etwas Geduld haben. Es dauert noch einige Wochen und Monate, aber dann haben Sie die Sorge um Doug vergessen.“
„Meinen Sie wirklich? Ständig sehe ich ihn vor mir auf dem Sofa liegen mit der Sauerstoffmaske im Gesicht. Und höre das Piepen dieser Geräte. Was soll denn aus unserer kleinen Andrea werden, wenn sie keinen Vater mehr hat?“ Wieder war Leslie den Tränen nahe.
„Ganz ruhig, Leslie.“ Kyla drückte sie behutsam an sich. „Andrea hat ihren Vater noch. Bitte vergessen Sie nicht, dass wir alle für Sie da sind. Die Ärzte hier und das Team im Krankenhaus behalten Doug im Auge. Es kann gar nichts schiefgehen.“
„Im Krankenhaus habe ich diese piependen Geräte gehasst, aber jetzt fehlen sie mir. Solange sie piepten, wusste ich, dass Doug lebt.“
„Es ist verständlich, sich Sorgen zu machen, Leslie. Bald ist das Schlimmste vorbei.“
„Leslie? Ist Kyla da?“, rief Doug aus dem Garten. Leslie räusperte sich und trocknete sich schnell die Tränen. „Erzählen Sie ihm ja nicht, dass ich mir Sorgen mache“, bat sie Kyla und zog sich das Kleid glatt. „Nachher fängt er noch an, sich um mich Sorgen zu machen.“
„Er spürt, wie es Ihnen geht. Also Kopf hoch, ja?“ Kyla lächelte ihr aufmunternd zu. „Ich unterhalte mich ein wenig mit ihm, dann haben Sie Zeit, sich zu beruhigen. Wenn Sie so weit sind, können Sie ja mit dem Tee nachkommen.“
„Ist gut. Ach, Kyla?“, fügte Leslie im Flüsterton hinzu, als Kyla schon an der Tür war.
„Ja?“
„Vielen Dank für die aufmunternden Worte. Sie haben mir wirklich geholfen.“
Kyla vergrub sich in Arbeit, um ja nicht an Ethan zu denken.
Auf dem Heimweg besuchte sie meistens kurz die McDonalds und sah auch regelmäßig bei Aisla vorbei, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Sie nahm so viele Patienten an, dass sie kaum Zeit zum Nachdenken hatte. Am Abend war sie dann völlig erschöpft und fiel wie ein Stein ins Bett. Und was passierte: Sie träumte von Ethan!
Seine anfängliche Scheu, an Logans Familienleben teilzuhaben, war verflogen. Jetzt kam er regelmäßig zum Abendessen, das häufig im Garten eingenommen wurde. Auch bei der Feier zu Kirstys erstem Geburtstag fehlte er nicht. Er schenkte der Kleinen einen riesigen Teddybären, den sie abgöttisch liebte.
Um Ethan aus dem Weg zu gehen, nahm Kyla sich tagsüber kurz Zeit, um mit ihrer Nichte zu spielen. Abends besuchte sie gelegentlich ihre Tante im Hafencafé.
„In letzter Zeit lässt du dich ja ganz schön oft blicken“, sagte ihre Tante eines Abends und servierte Kyla einen Teller Suppe. „Stimmt irgendwas nicht?“
„Doch, doch, alles in Ordnung.“ Kyla sog den Duft der dampfenden Suppe ein. „Das riecht ja köstlich. Und da wunderst du dich, dass ich herkomme? Ist doch allgemein bekannt, wie ungern ich koche.“
„Mir kannst du nichts vormachen, Kyla.“ Ihre Tante ignorierte die Gäste, die gerade direkt von der Fähre hereingekommen waren, und setzte sich zu Kyla. „Ich kenne dich seit deiner Geburt. Also heraus mit der Sprache!“
„Da ist nichts.“
„Trägt dieses ‚Nichts‘ zufälligerweise einen Anzug und fährt einen schnittigen Sportwagen?“
Kyla sah auf. „Keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Wirklich nicht? Wir wohnen hier auf einer Insel, Kyla. Da gibt es keine Geheimnisse.“ Ihre Tante erhob sich. „Natürlich geht mich dein Privatleben nichts an. Aber ich mache mir Sorgen um dich, Kyla Mary MacNeil. Die ganze Familie hat dich sehr gern. Du kannst jederzeit zu uns kommen. Vergiss das nicht!“
Kyla ließ den Kopf hängen. „Er interessiert sich nicht für mich, Tante Meg.“
„Er scheint einige Probleme mit sich herumzutragen.“
„Du klingst wie Evanna. Die hat auch so was gesagt.“
Meg nickte nachdenklich. „Vielleicht ist er auf die Insel gekommen, um Abstand zu haben und einige Probleme zu lösen.“
„Jedenfalls werde ich mich nicht aufdrängen“, sagte Kyla.
„Deshalb frisst du mir also die Haare vom Kopf.“ Meg schob ihr den Brotkorb hin. „Weil er bei deinem Bruder zu Abend isst und du ihm aus dem Weg gehst.“
Schuldbewusst senkte Kyla den Kopf. „Ich bin gern bei dir zum Essen.“
Meg lachte. „Das weiß ich doch, Liebes. Aber ich mache mir Sorgen um dich.“
„Das ist wirklich nicht nötig. Mir geht es gut.“ Kyla stand auf und umarmte ihre Tante herzlich. „Vielen Dank, Tante Meg.“
„Iss deine Suppe, bevor sie kalt wird“, antwortete Meg gerührt und kümmerte sich dann um die Neuankömmlinge.
Es ist wunderbar, so eine Familie zu haben, dachte Kyla beim Löffeln der Suppe. Ob es sonst noch jemandem aufgefallen war, dass sie jetzt die Abende im Café statt bei Logan verbrachte?
Diese Frage beschäftigte sie den ganzen Abend und auch am folgenden Tag. Als Evanna sie zu einem Picknick am Strand einlud, sagte sie zu.
Logan soll ja seinen Mund halten, dachte sie, als sie nach der Sprechstunde in Sandaletten schlüpfte und mit einer Kühltasche in der Hand zum Strand hinunterging.
Evanna hatte eine Decke auf dem Sand ausgebreitet und packte ein Arsenal von Köstlichkeiten aus. Gleichzeitig behielt sie Kirsty im Auge, die ganz aufgeregt über dieses Abenteuer war. „Nein, den Sand steckst du nicht in den Mund“, ermahnte sie die Kleine sanft, aber bestimmt. Dann zog sie Kirsty lächelnd auf den Schoß und schmuste mit ihr. „So, jetzt geh zu Tante Kyla. Ich muss mich ums Essen kümmern.“
„Ich habe Quiche und Salat mitgebracht“, sagte Kyla, stellte die Kühltasche neben Evanna ab und begrüßte Kirsty mit einem Kuss.
Logan kam gerade aus dem Wasser. „Ganz schön frisch“, sagte er.
„Mit anderen Worten: Das Wasser ist eisig.“ Lachend reichte Evanna ihm ein Badetuch. „Trockne dich schnell ab. Einen unterkühlten Doktor können wir nicht brauchen. Das macht einen schlechten Eindruck bei den Patienten.“
Logan hatte seine Schwester entdeckt. „Ach, lässt du dich auch mal wieder blicken? Wo warst du denn die ganze Zeit?“ Er trocknete sich ab und zog ein Hemd über. „Ich habe dich die ganze Woche über kaum zu Gesicht bekommen.“
„Ich war einige Male bei Tante Meg.“ Kyla hatte sich eine Tomate genommen und biss hinein. Sofort verzog sie das Gesicht. „Igitt, die ist ja ganz sandig. Wessen Superidee war das doch gleich, bei diesem Wind ein Strandpicknick zu veranstalten? Zuerst freut man sich darauf, aber sowie der Sand zwischen den Zähnen knirscht, stellt sich schnell Ernüchterung ein. Ich würde lieber im Garten zu Abend essen.“ Sie sah auf, um Logan etwas zu erzählen, da sah sie Ethan näher kommen. Die Worte blieben ihr im Hals stecken.
„Du lässt das Essen auf die Decke fallen, Kyla“, sagte Evanna.
Nervös sah Kyla nach unten. Ihre Hände bebten so, dass die angebissene Tomate auf die Decke gefallen war. „Entschuldigung.“ Niemand hatte ihr gesagt, dass Ethan auch kommen würde. Ihr Herz pochte heftig vor Aufregung.
Die ganze Woche lang war sie ihm aus dem Weg gegangen, hatte ihn nicht beim Joggen und Schwimmen beobachtet, und selbst den Kuss hatte sie von Zeit zu Zeit vergessen.
Eigentlich war sie auf einem guten Weg gewesen.
Doch ihr aufgeregt pochendes Herz belehrte sie eines Besseren. Sie war noch lange nicht über Ethan hinweg!
„Tut mir leid, dass ich zu spät komme.“ Er trug abgeschnittene Shorts und ein weites ausgewaschenes T-Shirt. Ein blauschwarzer Schatten an Kinn und Wangen verriet den starken Bartwuchs. Den Augen sah man die Müdigkeit an. Doch Kyla hatte den Eindruck, in ihrem ganzen Leben noch nie einen so sexy Mann gesehen zu haben.
„Spät? Das ist auch wieder so eine typische Bemerkung eines Städters. Wie kann man zu einem Strandpicknick zu spät kommen?“ Logan reichte ihm ein Bier. „Hier, für dich. Trink ruhig, ich habe heute Abend Bereitschaftsdienst.“
Dankbar griff Ethan nach dem Bier. „Hoffentlich ist deine Nacht ruhiger als meine gestern.“
Logan lächelte nur und betrachtete vielsagend seine Tochter. „Davon kann ich nur träumen, aber aus anderen Gründen. Dich haben sie letzte Nacht mehrmals herausgerufen, oder?“
„Ja. Ich hätte nicht gedacht, dass auf dieser kleinen Insel so viel los ist.“ Ethan nahm einen Schluck, und Kyla beobachtete ihn dabei.
Mit diesem Mund hatte er sie geküsst. Mit diesen Händen hatte er …
Ethan fing ihren verträumten Blick auf und setzte die Flasche ab. Ein erotisches Knistern lag in der Luft. Die beiden Menschen hatten nur noch Augen füreinander. Es war unmöglich, den Blick abzuwenden. Erst als Kirsty auf Kylas Schoß kletterte und sie an den Haaren zog, brach der magische Zauber.
„Au!“ Behutsam öffnete Kyla das zur Faust geballte Händchen der Kleinen und befreite die Haarsträhne. „Es wird Zeit, dass du dir mal was Neues einfallen lässt, du kleines Monster“, sagte sie lächelnd.
Zu ihrem Erstaunen beugte Ethan sich über Kirsty. „Ich nehme sie“, sagte er, ging in die Hocke und lächelte der Kleinen zu.
„Hast du Lust, im Wasser zu paddeln?“
Kirsty sah ihn unsicher an. Als Ethan sie behutsam hochhob, drehte sie sich Hilfe suchend zu Logan um.
„Sie ist mir treu“, sagte Logan stolz und strich seiner Tochter beruhigend über die seidigen blonden Löckchen, während Ethan auf das Kind einsprach und ihm eine vorbeifliegende Möwe zeigte. Kirsty lächelte vergnügt.
Sie hatte die Vorbehalte gegen den großen dunkelhaarigen Mann vergessen und zog ihm begeistert am Haar.
„Du hast sie erobert, Ethan“, sagte Evanna fröhlich und griff nach einem Baguette. „Sie zerrt nur am Haar von Menschen, die sie gern hat.“
Ethan verzog schmerzvoll das Gesicht und befreite sein Haar aus dem Klammergriff. In seinen dunklen Augen blitzte es amüsiert auf. „Darf ich sie mit ans Wasser nehmen?“
„Klar, das macht ihr Spaß.“ Logan wandte sich ab. „Hast du dein berühmtes Erdnusshähnchen gemacht, Evanna?“ Suchend ließ er den Blick über die Köstlichkeiten auf der Decke gleiten und nahm sich einen frischen Mangoschnitz. „Das sieht lecker aus.“
„Das ist karibischer Obstsalat und als Nachtisch gedacht. Finger weg! Immer isst du meine Picknicks in der falschen Reihenfolge.“
Kyla beschloss, die beiden einen Moment allein zu lassen, stand auf und folgte Ethan und Kirsty ans Wasser. Nicht so sehr, um bei Ethan zu sein – nachher bildete er sich noch ein, sie hätte seine abweisende Haltung nicht verstanden –, sondern um Logan und Evanna Zeit für sich zu geben.
Es störte sie, dass sie sich plötzlich an ihrem eigenen Strand unsicher fühlte. Trotzdem ging sie weiter, blieb jedoch wenige Schritte von Ethan und Kirsty entfernt stehen und beobachtete sie.
Ethan hatte der Kleinen Schuhe und Strümpfe ausgezogen und beides in seine Shortstaschen gesteckt. Er hielt Kirsty fest umfasst und ließ ihre Füßchen in der Brandung baumeln. Das Mädchen kreischte vergnügt und strampelte.
Kyla lächelte zärtlich über ihre begeisterte Nichte und sah dann Ethan an. Sein Gesichtsausdruck zog sie in den Bann. Mit diesem zärtlichen Blick und so entspannt hatte sie ihn noch nie erlebt.
Jetzt hob er Kirsty höher, um sie vor der nächsten – höheren – Welle zu schützen. Er lachte und scherzte mit der Kleinen und schien sich sehr über ihre Gesellschaft zu freuen.
Gebannt beobachtete Kyla, wie die beiden miteinander spielten und sich prächtig unterhielten. Sie schluckte. Die anrührende Szene erschütterte sie. Dieser starke zurückhaltende Mann war wie ausgewechselt in Gesellschaft dieses unschuldigen Kindes.
Als er Kirsty schließlich zärtlich an sich drückte, entdeckte Kyla noch etwas anderes in seiner Miene – Sehnsucht und unendliche Traurigkeit.
Instinktiv ging sie auf ihn zu, blieb jedoch wieder stehen. Wie konnte sie ihn trösten und unterstützen, wo er sie doch abgewiesen hatte? Wahrscheinlich würde er ihre mitfühlende Geste falsch verstehen. Außerdem behielt er seine Gefühle ja sowieso lieber für sich, das hatte er oft genug bewiesen. Was wusste sie schon von ihm? So gut wie gar nichts.
„Kyla?“ Evannas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Ich habe dir einen Teller fertig gemacht. Kommst du bitte zum Essen?“
Nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf Ethan wandte sie sich ab und kehrte zum Picknick zurück.
Sie hatte keine Ahnung, was Ethan bedrückte, doch sie wusste, dass er ihr Mitgefühl nicht wollte. Ach, wäre sie doch nur nicht zum Picknick gekommen!
Eines Tages wäre Ethan vielleicht lediglich ein Kollege, vielleicht sogar ein Freund, mit dem sie lachen und ein Glas zusammen trinken konnte. Doch momentan war sie davon noch weit entfernt. Sie war sich seiner Nähe nur zu bewusst, und es kostete sie große Mühe, sich zusammenzureißen und ihn nicht die ganze Zeit anzuschauen.
Kyla kniete sich auf die Picknickdecke und griff nach dem Teller. „Danke, Evanna. Ich esse schnell, dann muss ich weiter.“
„Warum so eilig?“, fragte Logan und reichte ihr ein Stück Baguette. „Wir haben dich die ganze Woche kaum gesehen. Und dunkel wird es noch lange nicht. Was ist eigentlich mit dir los? Du benimmst dich neuerdings so seltsam.“
„Gar nicht wahr.“
„Doch. Normalerweise würdest du jetzt schwimmen gehen.“
Normalerweise war Ethan auch nicht in der Nähe.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich in seiner Gesellschaft verhalten sollte. Wenn sie sich fröhlich und aufgeschlossen gab, könnte er sich einbilden, sie würde mit ihm flirten. Und wenn sie ihn einfach nicht beachtete, glaubte er womöglich, er hätte ihr das Herz gebrochen. Es war hoffnungslos. Am besten ging sie ihm einfach weiterhin aus dem Weg.
„Ich habe zu Hause einiges zu erledigen“, behauptete Kyla. „Ich bin die ganze Woche über nicht zum Aufräumen gekommen.“
Logan runzelte die Stirn. „Aber du kannst Aufräumen nicht ausstehen, und …“
„Sei still, Logan.“ Evanna unterbrach ihn schnell und reichte ihm einen Teller mit gebratenem Hähnchen. „Du kannst nicht immer über alle bestimmen. Kyla wird schon wissen, ob sie den Abend zu Hause verbringen muss oder nicht. Konzentrier du dich lieber aufs Essen. Für Kirsty ist das nichts, sie bekommt etwas anderes.“
Kyla war Evanna unendlich dankbar für ihr Taktgefühl. Als sie Logans forschenden Blick spürte, errötete sie jedoch verlegen. Er weiß Bescheid, dachte sie und lächelte ihm wehmütig zu.
Wenn es um seine Mitmenschen geht, ist Logan stets auf dem Laufenden, nur seine eigenen Gefühle lässt er unbeachtet. Wann merkt er endlich, dass Evanna die ideale Frau für ihn ist?, überlegte Kyla.
In diesem Augenblick kehrte Ethan mit Kirsty zurück und übergab sie ihrem Vater. „Sie kann vom Meer gar nicht genug bekommen.“
„Das ist auch gut so. Mit vier Jahren schwimmt sie bestimmt schon wie eine Nixe.“ Logan lächelte vergnügt. „Wie ihre Tante Kyla.“
„Ich konnte schon mit drei schwimmen.“
„Und du bist immer von den Klippen gesprungen. ‚Pass auf deine Schwester auf, Logan‘.“ Er ahmte seine Mutter nach und lachte. „Das höre ich noch heute. Du warst dir der Gefahr überhaupt nicht bewusst, Schwesterherz.“
„Man muss auch mal was wagen“, erklärte sie und aß ihren Teller leer. Sorgfältig mied sie Ethans Blick. Sie wäre gern geschwommen, doch das musste warten, bis Ethan verschwunden war. Von ihrem Cottage aus konnte sie sehen, wann die Gesellschaft aufbrechen würde. „So, ich muss los.“ Sie sprang auf und klopfte sich die Krümel von der Jeans. „Vielen Dank, Evanna, das Essen war köstlich. Bis morgen, Logan, und denk daran, Mum anzurufen. Sie möchte Tante Megs Geburtstag mit dir besprechen.“
Ethan beobachtete sie. Sie spürte seinen Blick, rang sich ein unpersönliches Lächeln in seine Richtung ab und verabschiedete sich. „Tschüs, Ethan, bis morgen.“
Das Gesicht tat ihr weh, so schwer fiel ihr das Lächeln. Geh schon, Kyla, mahnte sie sich, wandte sich um und machte sich auf den Weg zu ihrem Cottage.
Es gibt noch andere Männer, tröstete sie sich. Nette, unkomplizierte Männer.
Eines Tages würde sie so einen Mann kennenlernen.