7. KAPITEL

„Sonia leidet immer noch an Bluthochdruck. Sie hat sich Montag zur Untersuchung in der Klinik angemeldet.“ Mit abgewandtem Blick legte Evanna einige Formulare auf Logans Schreibtisch, spürte jedoch, wie Logan sie anschaute.

„Gut. Am liebsten wäre es mir, wenn sie Sonia bis nach der Geburt dabehalten würden.“

Seit dem „Badezimmervorfall“ waren zwei Tage vergangen. Logan und sie hatten das Thema bisher sorgfältig ausgeklammert. Sie gingen höflich, aber distanziert miteinander um.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn er die Sache ins Lächerliche gezogen hätte, um die angespannte Atmosphäre aufzulockern, doch er schwieg und sah kaum auf, wenn Evanna in sein Sprechzimmer kam.

Ihr Selbstbewusstsein näherte sich dem Tiefpunkt. „Janet lässt fragen, ob du noch einen Kaffee möchtest.“

„Ja, bitte. Ich brauche das Koffein, um mich wach zu halten. Ich habe wieder die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht.“

Evanna überlegte. Vor dem Vorfall hätte sie besorgt gefragt, woher denn die plötzlichen Schlafstörungen kämen, doch jetzt traute sie sich nicht. Wer weiß, was er antworten würde.

„Ich bitte Janet, dir noch einen Becher zu bringen.“ Gesagt, getan. Anschließend kehrte sie in ihr Behandlungszimmer zurück, kümmerte sich noch um einige Patienten, sorgte dafür, dass alles wieder an seinem Platz lag, und verließ den Raum erst, als sie sicher sein konnte, dass Logan zu seinen Hausbesuchen aufgebrochen war.

„Logan sieht furchtbar aus.“ Janet schüttelte besorgt den Kopf. „Vier Becher Kaffee hat er heute Morgen getrunken und gestern auch. Ein Wunder, dass seine Hände nicht gezittert haben.“

„Wahrscheinlich hält Kirsty ihn wach“, sagte Evanna und legte einige Aufzeichnungen, die sie sich geliehen hatte, zurück auf den Tresen.

„Dass er schlecht schläft, erkennt man an den dunklen Augenringen. Aber ich glaube nicht, dass Kirsty daran schuld ist.“ Janet blätterte im Terminbuch, um zu sehen, wer sich für die Nachmittagssprechstunde angemeldet hatte. „Sie schläft inzwischen durch. Das hat er erst gestern ganz stolz erzählt.“

„Was hält ihn dann wach?“, fragte Evanna und suchte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel.

„Ich dachte, das könntest du mir sagen. Du bist doch seine einzige Vertraute. In den vergangenen Monaten, als er nach Catherines Tod so schwere Zeiten durchgemacht hat, hat er immer alles mit dir besprochen.“

Evanna hielt inne. Janet hatte recht. Logan hatte sich tatsächlich mit allem an sie gewandt. Doch seitdem sie nackt vor ihm aufgetaucht war, hatten sie kein privates Wort mehr miteinander gewechselt.

Offensichtlich war ihm der Vorfall genauso peinlich wie ihr. Das ist einfach lächerlich, dachte sie, winkte Janet zu, verließ die Praxis und nahm sich vor, die Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Wenn Logan die Sprache nicht darauf bringen würde, dann musste sie das eben tun.

Logan fuhr mit offenem Verdeck, weil er hoffte, die frische Brise würde ihn wach halten.

Kaffee und kaltes Wasser hatten ihn kaum belebt. Er beschloss, am Abend früh ins Bett zu gehen.

Aber ob er dann schlafen konnte? Tag und Nacht sah er immer nur Evanna vor sich – nackt. Auf ihrem wunderschönen Körper glitzerten Wassertropfen. Das nasse Haar fiel ihr über die Schultern. Dieses Bild hatte sich in seinem Hirn eingebrannt, und er konnte nichts dagegen tun.

Selbst jetzt – auf der Fahrt zu seinen Patienten – erregte ihn das Bild. Wütend wechselte er den Gang, dass es nur so krachte.

Wenn Evanna sein Zimmer betrat, konnte er nicht aufstehen, weil sie sonst sehen würde, wie sie auf ihn wirkte. Diese heftige Reaktion war ihm selbst schleierhaft.

Hatte es etwas damit zu tun, dass er seit Catherines Tod keine Frau mehr angerührt hatte? Was sollte er tun? Er konnte Evanna doch wohl kaum vorschlagen, eine heiße Nacht mit ihm zu verbringen, oder? So nach dem Motto: Hallo, Schwester Duncan, Doug McDonalds Blutdruck ist wieder völlig normal, seit er die neuen Tabletten nimmt. Ach ja, und übrigens, hättest du heute Abend Lust, dich für mich auszuziehen und mit mir zu schlafen? Ich kann nämlich an nichts anderes mehr denken.

Jetzt war Logan so frustriert, dass er den Wagen auf den Seitenstreifen lenkte und den Motor ausstellte. Lange saß er einfach nur nachdenklich da und blickte hinaus aufs Meer. Welche Möglichkeiten hatte er?

Natürlich konnte er so tun, als wäre nichts geschehen. Doch das hatte er bereits zwei Tage lang vergeblich versucht. Er konnte Evannas verführerischen Körper nicht vergessen. Die Alternative war, ihr seine Gefühle zu offenbaren und sie einzuladen.

Wahrscheinlich würde sie ihn auslachen. Außerdem verbrachten sie sowieso schon viel Zeit miteinander. Sie kümmerte sich um Kirsty, nahm an den Familienfesten teil und war eigentlich ständig in seiner Nähe. Wie sollte er ihr vermitteln, dass er ihr freundschaftliches Verhältnis auf eine andere Ebene bringen wollte? Ging das überhaupt? Würde Evanna sich auf eine Liebesaffäre einlassen?

Wohl kaum. Schließlich hätte es dazu genug Gelegenheiten gegeben, als sie Teenager gewesen waren und am Strand herumgealbert hatten. Oder wenn sie bei Kyla übernachtet hatte. Oder als sie anfingen, gemeinsam zu arbeiten.

Würde Evanna etwas für ihn empfinden, dann wäre sie bestimmt nicht so entsetzt gewesen, dass er sie nackt gesehen hatte.

Seine Reaktion auf sie war ja nur zu offensichtlich gewesen.

Aber sie hatte weder geflirtet noch gelacht. Der Vorfall war ihr nur peinlich gewesen. Am liebsten wäre sie wohl im Erdboden versunken.

War das die Reaktion einer Frau, die an einer Liebesaffäre interessiert war?

Wohl kaum.

Wenn er ihr seine Gefühle offenbaren, sie ihn jedoch abweisen würde, dann wäre das Verhältnis so gestört, dass sie nicht einmal mehr zusammen arbeiten könnten.

Also blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste sich zusammenreißen und seine Gefühle verbergen. Und er durfte nicht mehr von ihrem sexy Körper träumen.

Was für ein Schlamassel! Da interessierte er sich seit Catherines Tod zum ersten Mal wieder für eine Frau, wollte wieder leben, statt nur zu funktionieren, und das Objekt seiner Begierde war ausgerechnet die einzige Frau auf der ganzen Insel, die ihm keine schönen Augen gemacht hatte.

„Evanna? Hörst du mir eigentlich zu? Hallo, jemand zu Hause?“

Evanna, die mit ihren Gedanken gerade ganz woanders gewesen war, zuckte zusammen und sah ihre beste Freundin fragend an. „Entschuldige, sprichst du mit mir?“

„Nein, ich führe Selbstgespräche, weil ich mich am Klang meiner eigenen Stimme erfreue.“ Kyla verdrehte die Augen. „Ich rede seit über zehn Minuten auf dich ein, und du starrst nur mit abwesendem Blick aus dem Fenster. Langweile ich dich wirklich so sehr?“

Evanna lächelte entschuldigend. „Tut mir leid. Ich hatte gerade … an etwas gedacht.“

„Aha. Dieses Etwas ist wohl ziemlich groß, hat blaue Augen und meine DNA?“

Diese Frage wurde geflissentlich überhört. „Was hattest du mir denn so Interessantes zu erzählen?“

„So interessant kann es ja nicht gewesen sein“, antwortete Kyla trocken. „Hier ist die Kurzfassung: Kommst du am Sonnabend zum Strandbarbecue?“

„Ach, das hatte ich ganz vergessen.“

„Wie kann man den Höhepunkt der Sommersaison auf Glenmore vergessen?“ Kyla lehnte sich zurück, damit Meg ihr einen riesigen Eisbecher servieren konnte. „Vielen Dank, darauf habe ich mich schon den ganzen Tag lang gefreut.“

„Wie machst du das nur? Du stopfst jede Menge Eis in dich hinein und nimmst kein Gramm zu.“ Evanna musterte ihre Freundin neidisch.

„Keine Ahnung. Ich genieße einfach das Leben. Also, wie sieht’s aus? Kommst du?“

Logan würde wahrscheinlich nicht kommen. Und sie selbst musste mal wieder unter Leute, um sich abzulenken. „Klar.“

„Super! Ethan und ich warten am Strand auf dich. Um sechs Uhr findet eine Vorführung des Rettungsboots statt.“

„Solange ich nicht die Ertrinkende spielen muss.“

„Keine Sorge.“ Kyla hatte ihr Eis in Rekordzeit aufgegessen. „Die Touristen sind so leichtsinnig, einer von ihnen wird sicher im richtigen Moment dem Ertrinken nahe sein und muss gerettet werden.“

„Wie kannst du nur so etwas sagen, Kyla!“

„Ist doch wahr. Du brauchst nur die Crew des Rettungsbootes zu fragen. So oft wie in diesem Sommer mussten sie noch nie zum Einsatz. Sag mal, ist das vielleicht dein Telefon, das da klingelt?“

Evanna suchte in ihrer Tasche nach dem Handy. „Schon aufgelegt. Wer mag das gewesen sein?“ Sie überprüfte die Nummer und runzelte die Stirn. „Es war Sonia. Was kann sie wollen? Ich war doch erst gestern bei ihr.“

„Du hast ihr deine Handynummer gegeben? Ach, Evanna, du hast wirklich ein Herz aus Gold. Pass auf, dass deine Patienten nicht bei dir einziehen.“

Statt eine passende Antwort zu geben, wählte Evanna Sonias Nummer. „Sie meldet sich nicht.“ Als sie es erneut versuchte, war die Leitung besetzt.

„Wahrscheinlich versucht sie wieder, dich zu erreichen“, vermutete Kyla.

„Sie hat Montag einen Termin in der Klinik. Ihr hoher Blutdruck bereitet Logan Albträume.“

Kyla verging das Lächeln. „Seit Catherines Tod sind Hochschwangere nicht gerade seine Lieblingspatientinnen.“

„Stimmt, aber deshalb können wir nicht alle Frauen, die hier schwanger werden, bis zur Geburt aufs Festland verbannen.“ Evanna warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stand auf. „Wenn ich mich beeile, schaffe ich vor der Nachmittagssprechstunde noch einen Hausbesuch bei Sonia. Vielen Dank für den Kaffee.“ Schon an der Tür wandte sie sich noch einmal um und winkte Meg zu. „Tschüs.“

Meg schnitt gerade eine Schokoladentorte auf. „Du kommst doch zum Strandbarbecue, oder?“

„Ja, sicher.“ Evanna war in Gedanken schon bei ihrer Patientin.

„Es wird bestimmt super. Ben und Nick haben ein Riesenfeuerwerk vorbereitet.“

„Ich freue mich schon darauf. Bis später, Kyla.“ Eilig verließ sie das Café und ging zum Kai. Die Mittagssonne brannte vom Himmel. Halbnackte Touristen standen an einem Bootsanleger Schlange oder drängten sich um die Eisbuden, um sich ein wenig abzukühlen.

„Guten Tag, Schwester Duncan!“

Als sie die Direktorin der Grundschule bemerkte, überquerte Evanna schnell die Straße. „Hallo, Miss Carne. Alles in Ordnung?“ Sie fühlte sich sofort wieder wie ein Schulmädchen und bückte sich schnell nach einem kleinen Hund, dem die Hitze offensichtlich auch zu schaffen machte. „Genießen Sie die Ferien?“

„Ja, danke. Meine Freundin Diana aus Glasgow und ich fliegen nächste Woche nach Venedig.“

„Dann viel Spaß. Und denken Sie daran, Ihr Asthmaspray mitzunehmen.“

„Ja, das packe ich zuerst ein. Ich habe schon alles mit Kyla abgesprochen, und Dr. MacNeil hat mir ein neues Rezept ausgestellt. Was ist mit Ihnen, meine Liebe? Verreisen Sie auch?“

„Nein, ich habe mir ein neues Badezimmer gegönnt. Jetzt muss ich erst mal sparen.“ Evanna lachte verlegen.

„Aber an Ihrem Badezimmer können Sie sich das ganze Jahr über erfreuen.“

„Irgendwann mal, hoffe ich. Im Moment muss ich mir noch einen Weg durch Staub und Bauschutt bahnen.“

Miss Carne rückte ihre Brille zurecht, so wie sie es stets zu Beginn einer Unterrichtsstunde tat. „Kommen Sie zum Strandbarbecue am Sonnabend?“

Wieso interessierte sich plötzlich alle Welt dafür, ob sie da sein würde oder nicht? „Ja, wahrscheinlich.“ Evanna schob sich eine Strähne aus der Stirn. „So, jetzt muss ich aber weiter. Vor der Nachmittagssprechstunde will ich noch kurz zu Sonia.“

„Ich will Sie auch gar nicht aufhalten, aber ich habe eine Frage. Kennen Sie die kleine Helen Price? Die Familie ist im Frühjahr auf die Insel gezogen. Die Kleine geht zur Vorschule.“

Evanna erinnerte sich, dass Kyla sie vor einigen Wochen am Strand auf das Mädchen aufmerksam gemacht hatte. „Kennen ist zu viel gesagt. Weshalb fragen Sie?“

„Sie ist ein sehr zartes Kind“, sagte Ann Carne nachdenklich. „Beim Sportfest neulich war sie schrecklich außer Atem. Ich dachte, dass sie vielleicht auch unter Asthma leidet.“

„Haben Sie schon mit den Eltern gesprochen?“

„Nein, der Vater ist Journalist und ständig unterwegs, und die Mutter ist sehr schüchtern und lebt ziemlich zurückgezogen.“

„Meines Wissens war sie noch nicht bei uns in der Praxis. Nun bin ich allerdings auch einen Monat fort gewesen. Ich werde Kyla fragen und auch Logan darauf ansprechen.“ Geschickt wich Evanna einer Touristengruppe aus und setzte sich ans Steuer ihres kleinen Flitzers. „Tschüs, Miss Carne.“

„He, Parken ist hier verboten, Schwester Duncan.“ Nick Hillier, der Inselpolizist, steckte seinen Kopf durchs offene Seitenfenster. „Ich sollte Ihnen einen Strafzettel verpassen.“

„Warum denn das? Sie haben doch so viele andere Dinge zu tun.“ Evanna schenkte ihm ein betörendes Lächeln. Schade, dass sie ihn nicht attraktiv fand. Kyla behauptete, das läge daran, dass er ihre Zöpfe in der Schule zusammengebunden hatte. Doch Evanna wusste es besser: Wie konnte sie sich zu einem anderen Mann hingezogen fühlen, wenn sie verrückt nach Logan war?

„Spaß beiseite, Nick, sag mal, fühlst du dich auch immer in deine Schulzeit zurückversetzt, wenn du Miss Carne siehst?“

Er lachte verlegen. „Aber ja. Selbst wenn ich sie in Handschellen abführe.“

Evanna wollte sich ausschütten vor Lachen. Das musste ja ein Bild sein! „Irgendwie fühle ich mich in ihrer Gesellschaft unwohl.“

„Dazu hast du gar keinen Grund. Schließlich warst du immer ihr Liebling. Eigentlich warst du der Liebling aller“, fügte er so mürrisch hinzu, dass Evanna ihn erstaunt ansah.

„Nick …“

Er hob eine Hand und lächelte reumütig. „Keine Angst, ich werde dich nicht bitten, mit mir auszugehen. Du gibst mir ja doch einen Korb. Aber wir sehen uns doch Sonnabend beim Grillfest am Strand, oder?“

„Ja, sicher.“ Evanna ließ den Sitzgurt einschnappen und startete den Motor. „Aber ich wüsste gern, wieso mich das heute alle fragen.“

„Wahrscheinlich weil wir uns alle schon auf deine Schokokekse freuen.“ Lächelnd richtete Nick sich wieder auf. „Falls du ohne kommst, sehe ich mich gezwungen, dich an deine alte Schuldirektorin gefesselt in die Zelle zu werfen.“

„Selbst die Zelle wäre im Moment gemütlicher als mein Haus. Ich muss los, Nick. Vor der Sprechstunde will ich noch schnell zu Sonia.“

Nick runzelte die Stirn. „Ich habe sie vorhin gesehen. Sie wirkte etwas bleich.“

„Okay, dann mache ich mich jetzt lieber auf den Weg.“ Langsam wurde sie unruhig. „Pass auf dich auf, und verhafte alle, die sich nicht mit Sonnenschutz eincremen. Wir haben langsam genug von Patienten mit Sonnenbrand.“

Lachend ließ er sie ausparken und winkte ihr nach.

Evanna ließ den Hafen hinter sich und fuhr Richtung Inselmitte, wo Sonia wohnte. Sie wollte sich nur kurz überzeugen, dass alles in Ordnung war, dann konnte die Nachmittagssprechstunde beginnen.

Doch dann sah sie im Rückspiegel einen Sportwagen mit einem dunkelhaarigen Mann am Steuer.

Logan! Und er betätigte die Lichthupe.

Beunruhigt stellte sie den Wagen vor Sonias Haus ab und stieg schnell aus. „Was tust du denn hier, Logan? Sonia hat versucht, mich zu erreichen, aber …“

„Ihre Fruchtblase ist geplatzt.“ Logan sah sie ernst an. „Steve hat mich vor fünf Minuten angerufen. In zehn Minuten legt die Fähre ab, die muss Sonia kriegen. Ich denke nämlich nicht daran, auf der Insel je wieder einem Baby auf die Welt zu helfen.“

„Beruhige dich erst mal“, sagte Evanna leise. In all den Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte sie ihn noch nie von Panik ergriffen gesehen. „Es ist ihr erstes Kind, also haben wir wahrscheinlich noch genug Zeit. Sie ist erst in der sechsunddreißigsten Woche. Ich bin auch dafür, dass wir sie aufs Festland bringen. Hat sie Wehen?“

„Steve sagt Nein.“ Logan war die Anspannung anzusehen.

Beruhigend legte Evanna ihm eine Hand auf den Arm. „Das wird schon, Logan.“ Erst als die Worte gefallen waren, wurde ihr bewusst, was sie da eigentlich gesagt hatte. Bei Catherine war es ja leider schiefgegangen. „Entschuldige.“

„Schon gut. Sie muss so schnell wie möglich auf die Fähre. Es sei denn, das Köpfchen ist schon zu sehen, dann alarmiere ich den Rettungshubschrauber.“

„Nun reiß dich bitte zusammen, Logan.“ Evanna hatte Schwierigkeiten, ihn zu beruhigen. In diesem Moment erschien Steve mit dem Handy in der Hand an der Tür.

„Gut, dass ihr da seid. Die Wehen haben eingesetzt.“ Auch ihm war die Panik ins Gesicht geschrieben. „Sie kommen im Abstand von einer Minute.“

Evanna griff nach ihrer Hebammentasche und sprintete ins Haus. „Wo ist sie?“

„Oben im Schlafzimmer. Sie hatte sich gerade hingelegt, als es losging.“ Steve fuhr sich durchs Haar. „Ihre Tasche ist gepackt. Soll ich Sonia in die Klinik bringen?“

„Ja. Hol den Wagen aus der Garage“, sagte Logan angespannt.

Evanna schritt ein. „Warte, wir sehen uns erst mal an, wie weit sie ist.“ Sie schaute Logan mit festem Blick an. „Kann ich jetzt zu ihr?“

Steve nickte. „Natürlich, du kennst ja den Weg. Erste Tür rechts.“

Sie rannte die Treppe hoch und fand Sonia auf dem Boden, die Ellbogen aufs Bett gestützt, das Haar feucht.

„Da bist du ja, Evanna. Ich hatte versucht, dich anzurufen.“

„Ich weiß, deshalb bin ich hier. Ist dir heiß? Ich lege dir gleich ein kühles Tuch auf den Kopf.“ Evanna stellte die Tasche ab und kniete sich neben Sonia. „Alles wird gut, keine Sorge. Ich wasche mir jetzt die Hände, und dann untersuche ich dich. Danach entscheiden wir, was zu tun ist. Darf ich dein Badezimmer benutzen?“

„Natürlich.“ Sonia zeigte auf eine Tür, dann schrie sie vor Schmerz auf und barg den Kopf in den Händen. Steve eilte herbei und legte tröstend den Arm um sie.

„Alles prima, Liebling. Du machst das wunderbar“, sagte er betont fröhlich.

Als Evanna aus dem Badezimmer zurückkehrte, hörte sie gerade noch, wie Sonia ihn abschüttelte. „Lass mich in Ruhe!“

Beruhigend legte sie dem armen, verunsicherten Steve eine Hand auf den Arm. „Wenn Frauen in den Wehen liegen, sagen sie schon mal Dinge, die sie nicht so meinen.“ Erneut kniete sie sich dann neben Sonia und massierte ihr die Schultern.

„Ich will ihr doch nur helfen.“ Steve wirkte verzweifelt.

„Ich weiß. Könntest du bitte einen Krug mit eiskaltem Wasser holen? Und ein feuchtes Tuch für die Stirn. Die Hitze ist wirklich unerträglich.“

Ich habe extra den Ventilator auf Sonia gerichtet, aber das hat sie sich wütend verboten“, erklärte Steve.

„Jetzt erzähl doch nicht überall herum, dass ich launisch bin.“ Die Wehe verebbte, und Sonia stöhnte. „Das ist kaum auszuhalten. Wieso steht nichts davon in den Büchern, was das für Schmerzen sind? Dieser ganze Unsinn darüber, den Schmerz wegzuatmen, und wenn er dann kommt, ist er so schlimm, dass ich gar nicht atmen kann.“

„Wie oft kommt der Schmerz?“

„Eigentlich scheint er die ganze Zeit da zu sein. Nachdem die Fruchtblase geplatzt war, schien alles in Ordnung, aber dann ging es richtig heftig los.“

„Evanna!“ Logans Tonfall war scharf, und sie sah, dass Logans Knöchel weiß hervortraten. „Sie muss ins Krankenhaus. Jim wartet mit der Fähre auf sie.“

„Ich hole den Wagen.“ Steve wollte sich gerade auf den Weg machen, doch Evanna hielt ihn zurück.

„Wir können sie nicht mehr verlegen. Das Kind scheint sich schon im Geburtskanal zu befinden. Ich muss Sonia jetzt untersuchen.“ Hoffentlich macht Logan mir jetzt nicht schlapp, dachte sie, als sie sah, wie bleich er geworden war. Er musste ja Höllenqualen leiden. Am liebsten hätte sie ihn tröstend in den Arm genommen und alles in Ruhe mit ihm besprochen, doch Sonia stöhnte wieder und wand sich vor Schmerz.

„Einatmen, Sonia. So ist es gut. Wie du es im Kurs gelernt hast.“ Äußerlich erschien Evanna die Ruhe in Person, doch sie machte sich große Sorgen. Wenn die Geburt glatt verlief, könnten sie und Sonia es allein schaffen, das Baby auf die Welt zu bringen, aber es durften keine Komplikationen auftreten, bei denen ein Arzt einschreiten musste. So wie er im Moment aussah, wäre Logan keine große Hilfe.

Als die Wehe vorbei war, streifte Evanna sich Handschuhe über und überlegte, ob sie Sonia eher in die Klinik hätte schicken sollen. Nein, sie hatte alles richtig gemacht, sich an die Empfehlungen gehalten, sich mit der Klinik abgesprochen, Sonia regelmäßig untersucht. Aber jede Schwangerschaft verlief anders, und das Unvorhergesehene konnte eintreten und das Kind einen Monat zu früh auf die Welt kommen.

Sie sah sich kurz um. Logan war noch immer kreidebleich. Es tat ihr schrecklich leid, was er jetzt durchmachen musste. Wenn wir nachher unter uns sind, schwor sie sich, werde ich in aller Ruhe mit ihm reden. Sie hatte ganz vergessen, dass ihr Verhältnis ja momentan etwas merkwürdig war.

Bevor sie Sonia untersuchen konnte, kam die nächste Wehe. Evanna war sicher, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Es blieb nicht einmal Zeit, Ethan, den anderen Arzt auf der Insel, zu rufen.

Dann muss ich da jetzt allein durch, dachte sie. Aber immerhin wollte sie es so aussehen lassen, als würde Logan helfen, sonst würde es nur üble Gerüchte auf der Insel geben.

„Ich will das nicht mehr. Ich habe es mir anders überlegt.“ Sonia fing an zu weinen und bearbeitete Steve mit zu Fäusten geballten Händen. „Das ist alles deine Schuld. Ich hasse dich. Du warst es doch, der unbedingt Kinder wollte.“

„Du hast gesagt, du willst auch welche, Sonia.“ Der arme Mann war völlig verzweifelt und wollte Sonia tröstend in den Arm nehmen, doch sie stieß ihn sofort weg.

„Geh weg! Fass mich nicht an! Jedenfalls wird das ein Einzelkind bleiben, das verspreche ich dir.“ Erschöpft ließ Sonia sich zurückfallen.

„Ich weiß, dass das jetzt schwer für dich ist, Sonia.“ Mitfühlend strich Evanna ihr das feuchte Haar aus der Stirn. „Aber so wie es aussieht, hast du es bald geschafft.“

„Ich habe solche Angst“, schluchzte Sonia. „So war das nicht geplant. Ich weiß, dass es gefährlich ist.“ Verzweifelt hielt sie Evannas Hand umklammert.

„Es ist nicht gefährlich. Viele Babys werden zu Hause geboren.“

„Aber nicht auf Glenmore. Dr. MacNeil wollte nicht, dass ich das Kind hier zur Welt bringe.“

„Ich weiß, aber deshalb wird er mir jetzt trotzdem assistieren, falls es nötig ist“, sagte Evanna energisch und sah sich nach Logan um, bevor sie Sonias Bauch abtastete. „Da kommt die nächste Wehe. Tief einatmen, Sonia.“

„Alles geht schief …“

„Im Gegenteil, alles ist völlig normal.“ Erneut drehte sie sich zu Logan um, der noch immer wie angewurzelt an der Tür stand. Irgendwie muss ich ihn aus seiner Trance befreien, überlegte sie. „Logan? Würdest du mir bitte die andere Entbindungstasche aus dem Auto holen?“

Keine Reaktion. Beunruhigt wiederholte sie die Bitte.

„Logan, der Kofferraum ist offen. Ich brauche die Tasche.“

„Ich habe den Rettungshubschrauber alarmiert“, sagte er rau. Evanna nickte lächelnd und versuchte, die Unterhaltung völlig normal wirken zu lassen.

„Gute Idee. Aber in der Zwischenzeit brauche ich die Tasche aus meinem Wagen. Bitte, Logan.“

„Dr. MacNeil?“ Sonia sah ihn bittend an. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie wirken etwas blass.“

Unauffällig zog Evanna ihr Handy hervor. So ging das nicht, sie musste Ethan rufen. Logan schien ein Totalausfall zu sein. Er wirkte elend. Seit Catherines Tod hatte sie ihn nicht mehr in diesem Zustand gesehen.

Auch Sonia schien das nicht entgangen zu sein. Ängstlich schluchzte sie auf. „Dr. MacNeil?“

Der angstvolle Tonfall war offensichtlich zu ihm durchgedrungen, denn Logan kam plötzlich näher. „Alles in Ordnung, Sonia“, sagte er schroff und setzte sich auf die Bettkante.

Sonia war völlig außer sich vor Angst. „Sie wollten nicht, dass ich das Baby zu Hause bekomme. Sie befürchten, dass …“

Nach fast unmerklichem Zögern umfasste Logan ihre Hand. „Ich befürchte gar nichts“, behauptete er heiser. „Natürlich sind mir Geburten in der Klinik lieber, weil dort viel mehr Apparate zur Verfügung stehen, die piepsen und aufleuchten. Nur dann sind wir Ärzte glücklich. Fragen Sie Evanna. Hebammen verzweifeln manchmal an uns, weil wir überall Komplikationen sehen, wo gar keine sind. Aber die Geburt ist etwas ganz Natürliches, und Evanna ist die beste Hebamme, die ich kenne. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Beruhigt schob Evanna das Handy in die Tasche zurück, ohne Ethan angerufen zu haben. „Na, dann passen Sie mal auf, wie man das macht, Dr. MacNeil“, sagte sie humorvoll. „Aber erst holen Sie mir die Sachen aus dem Wagen.“

„Natürlich.“ Logan drückte tröstend Sonias Hand und stand auf. „Bin schon auf dem Weg.“

Kaum hatte er das Schlafzimmer verlassen, da verzog Sonia erneut das Gesicht. „Es geht wieder los.“ Fluchend ließ sie die Wehe über sich ergehen. Steve war fassungslos. „So etwas habe ich aus ihrem Mund ja noch nie gehört“, sagte er zu Evanna.

„Mach dir darüber keine Gedanken.“

„Es kribbelt in meinen Füßen. Irgendwas stimmt da nicht.“

„Du atmest zu hastig“, erklärte Evanna. „Ganz ruhig, Sonia, atme ganz tief und langsam ein und aus. So ist es schon viel besser. Da ist Dr. MacNeil. Ich werde dich jetzt untersuchen. Ich muss mir nur noch mal schnell die Hände waschen.“

„Nein, bleib hier! Ich möchte pressen.“

Logan öffnete die Tasche. „So schnell kann das doch gar nicht gehen“, sagte er leise.

Evanna, die sich inzwischen erneut die Hände gewaschen und ein frisches Paar Handschuhe übergestreift hatte, lächelte nur mitleidig. „Babys lesen keine Lehrbücher, Logan, sie machen, was sie wollen. Noch nicht pressen, Sonia, du bist noch nicht weit genug geöffnet“, stellte sie nach kurzer Untersuchung fest. „Bitte bring saubere Handtücher und breite sie auf dem Boden aus, Steve.“

Sonia versuchte, ruhig zu atmen. „Ich habe unerträgliche Rückenschmerzen“, klagte sie.

Evanna sah auf, als Steve die Handtücher ausbreitete. „Vielleicht könntest du Sonia den Rücken massieren. Hier unten, so ist gut.“ Jetzt vergewisserte sie sich, dass ihre Ausrüstung vollständig war, und untersuchte Sonia erneut. Das Köpfchen war schon zu sehen. „Das Baby hat es ziemlich eilig. Versuch, dich zwischen den Wehen zu entspannen. Prima, Sonia. Und jetzt hecheln. Nicht pressen, nur hecheln.“ Als sie das Köpfchen des Babys in der Hand hielt, spürte sie Logan an ihrer Seite und war sehr erleichtert.

„Nabelschnur“, sagte er leise. Evanna nickte und schob behutsam die um den Hals gewickelte Nabelschnur über den kleinen Kopf. „Ich injiziere jetzt Syntometrin, einverstanden? Das Risiko ist mir sonst zu groß.“

Evanna nickte. Er hatte völlig recht. „So, jetzt pressen, Sonia, gleich ist dein Baby ganz draußen“, sagte sie und hoffte, dass der Rest der Geburt reibungslos verlief.

Im nächsten Moment glitt das Baby in ihre Hände, und Evanna lachte erleichtert. „O Sonia! Sieh nur! Du hast ein kleines Mädchen. Ist sie nicht wunderschön?“ Die Kleine begann zu schreien, und Sonia schluchzte auf, als sie Evanna das Baby abnahm.

„Sieh doch, Steve!“ Sonia liefen die Tränen übers Gesicht. „Das ist unsere Tochter. Sie ist wunderschön. Einfach perfekt.“

Evanna wandte sich zu Logan um, der gerade die Spritze weglegte und erleichtert wirkte. Lächelnd nickte er. „Okay.“

„Okay.“ Evanna band die Nabelschnur ab. „Das war ja mal eine gelungene Geburt. Vielen Dank, Dr. MacNeil.“

„Ich habe doch gar nichts …“

„Das hast du wunderbar gemacht, Sonia. Jetzt leg dich ganz entspannt aufs Bett und kuschele mit deiner Tochter.“

In diesem Moment tauchte Kyla an der Tür auf. „Ich habe gehört, hier spielt sich ein Drama ab. Der Hubschrauber ist gelandet. Oh, zu spät.“ Sie sah zu, wie Evanna sich um die Nachgeburt kümmerte, und lächelte Sonia aufmunternd zu. „Jetzt hast du deinen Willen durchgesetzt. Du wolltest das Kind ja von Anfang an zu Hause auf die Welt bringen.“

Sonia lächelte unter Tränen. „Es war einfach perfekt.“

„Perfekt? Du musst verrückt sein!“ Steve musterte sie verständnislos. „Du hast gebrüllt wie eine Verrückte und geflucht und mich angeschrien, dass dies dein erstes und letztes Kind ist.“

„Tatsächlich?“ Zärtlich strich Sonia ihrer Tochter übers Köpfchen. „Sie muss gebadet werden. Und ich könnte auch ein Bad gebrauchen. Es ist so schrecklich heiß. Wieso muss ich ausgerechnet im August ein Kind bekommen? Das nächste hätte ich gern im Januar.“

Evanna lachte leise und half Sonia, das Baby anzulegen. Dann deckte sie Mutter und Tochter zu und drehte sich zu Logan um. „Wir sollten sie auf alle Fälle in die Klinik bringen. Sonia hatte ja Bluthochdruck, und das Baby ist vier Wochen zu früh gekommen. Ich werde sie begleiten.“

Logan nickte zustimmend. „Ich sage Bescheid. Du kümmerst dich dann um Mutter und Tochter.“

„Sie ist zu früh gekommen.“ Ergriffen betrachtete Sonia, wie die Kleine es sich schmecken ließ. „Ist alles in Ordnung mit ihr?“

„Wenn man nach ihrem Appetit urteilt, bestimmt. Wahrscheinlich wird sie sich demnächst bei Meg vollstopfen.“ Lachend half Kyla ihrer Kollegin beim Aufräumen. „Wie soll sie eigentlich heißen?“

„Wir konnten uns nicht einigen.“ Sonia lächelte ihrem Mann zu. „Entweder Emma oder Rachel.“

„Du warst für Rachel, warum also nicht Rachel?“, schlug Steve vor. „Oder was hältst du von Rachel Evanna?“

Gerührt sah Evanna auf. „Nein, das ist wirklich nicht nötig.“

„Doch, das ist eine ausgezeichnete Idee.“ Sonia strahlte. „Wir sind dir und Dr. MacNeil unendlich dankbar.“