Logans Haus lag im Dunkeln.
Ob er schon ins Bett gegangen war? Es war später geworden, als sie gedacht hatte, aber es hatte einige Zeit gedauert, ehe Sonia gut in der Klinik untergebracht und der Papierkram erledigt war. Aus Angst, Kirsty zu wecken, klopfte Evanna nicht an die Haustür, sondern ging ums Haus herum und öffnete das Gartentor.
Wenn nirgends Licht brannte, würde sie eben wieder nach Hause gehen. Zuerst allerdings wollte sie sich davon überzeugen, dass es Logan gut ging. Die Geburt der kleinen Rachel Evanna hatte ihn sehr mitgenommen, und er sollte Gelegenheit bekommen, sich auszusprechen.
Merkwürdig, im ganzen Haus gab es kein Lebenszeichen. Nur im Flur brannte eine kleine Lampe.
War Logan vielleicht ausgegangen?
Wahrscheinlich hatte er einen Babysitter für Kirsty organisiert und feierte mit den anderen die Ankunft der neuen Erdenbürgerin im Pub.
Als sie den Garten durchquerte, entdeckte sie Logan in der Hängematte am Ende des Gartens. Im Mondschein konnte sie ihn gerade noch erkennen. Hielt er eine Flasche Bier in der Hand?
„Logan?“ Vielleicht wollte er einfach seine Ruhe haben. Es war so friedlich in diesem bezaubernden Garten, und vom Meer wehte eine frische Brise. Genau die richtige Atmosphäre zum Nachdenken. Vermutlich kreisten seine Gedanken um Catherine.
Evanna fühlte sich wie ein Eindringling. Am liebsten hätte sie unbemerkt den Rückzug angetreten. Doch dazu war es zu spät.
„Wieso feierst du nicht mit den anderen im Pub?“, fragte Logan mit seiner tiefen, unglaublich sexy Stimme.
Langsam kam sie näher.
„Mir war nicht nach Feiern zumute.“
„Wieso nicht?“ Er trank einen Schluck. „Du hast gute Arbeit geleistet.“
„Du auch.“
„Ich?“ Sein Lächeln war spöttisch. „Nein, das warst ganz allein du.“
„Ich bin ja schließlich die Hebamme. Hättest du übernommen, hätte ich auf der Stelle gekündigt. Ich habe ja nur selten Gelegenheit, auf dieser Insel einem Kind auf die Welt zu helfen. Deshalb mache ich auf dem Festland jedes Jahr eine Fortbildung mit, sonst würde ich alles vergessen.“ Sie seufzte. „Schluss mit den Artigkeiten, lass uns ehrlich zueinander sein, Logan. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Deshalb bin ich hier. Die Situation vorhin muss schrecklich für dich gewesen sein. Und ich konnte dir nicht helfen, weil ich mich um Sonia kümmern musste. Dabei wusste ich die ganze Zeit, wie du dich fühlen musstest, und hätte dich gern in den Arm genommen. Und jetzt bin ich hier, um mich zu überzeugen, dass mit dir alles in Ordnung ist.“ Evanna war schrecklich nervös. Nach dem Badezimmervorfall hatten sie kein privates Wort mehr miteinander gewechselt. Ihre Beziehung hatte sich seitdem offenbar völlig verändert. Wollte Logan überhaupt noch mit ihr reden?
Er verlagerte das Gewicht, und die Hängematte begann zu schaukeln. „Tut mir leid, dass ich dich bei Sonia erschreckt habe, statt dich zu unterstützen, wie es sich gehört hätte.“
„Du hast mir sogar sehr geholfen“, behauptete Evanna schnell.
Er lächelte nun voller Selbstverachtung. „Ich stand unter Schock. Wenn du mich nicht so energisch angesehen hättest, hätte ich mich wahrscheinlich umgedreht und wäre fortgelaufen. Zum ersten Mal, seit ich diesen Beruf ausübe, bin ich in Panik geraten.“
„Das war ja kein Wunder. Die Situation wäre für jeden in deiner Lage schwierig gewesen, Logan.“
Nach längerem Schweigen stellte er die Flasche auf den Rasen und streckte eine Hand aus. „Setz dich zu mir, Evanna.“
Misstrauisch beäugte sie die hin und her schwingende Hängematte. „Da soll ich mich hineinsetzen?“
„Klar, hier ist genug Platz für zwei.“
„Aber nur, wenn einer von ihnen ein Kleinkind ist.“
„Klettere vorsichtig hinein, sonst falle ich heraus.“ Mit sanfter Gewalt zog er sie an sich, sodass sie das Gleichgewicht verlor und auf ihm landete.
„Logan!“ Verlegen rollte sie sich von ihm hinunter und legte sich zu ihm. Plötzlich war sie ihm so nah, dass es ihr fast den Atem verschlug. Dann sah sie zum funkelnden Sternenhimmel hinauf und lachte begeistert. „Welch ein überwältigender Anblick!“
„Hast du noch nie bei Nacht in der Hängematte gelegen?“
„Nein, das weißt du ganz genau.“
„Im Haus ist es so heiß, dass ich am liebsten hier draußen übernachten würde, aber ich muss ja auf Kirsty achten, falls sie aufwacht. Weshalb bist du wirklich hier, Evanna?“
„Ich wollte sehen, wie es dir geht.“
„Ich bin aber nicht einer deiner Patienten.“
„Ich …“ Was wollte er denn hören? „Das weiß ich, aber du bist mir eben wichtig.“
„Und deshalb wolltest du mich in den Arm nehmen?“ In seinen blauen Augen erschien ein gefährliches Glitzern. „Ich bin dir also wichtig? Alle Menschen sind dir wichtig, Evanna. Schon in der Schule hast du Auseinandersetzungen geschlichtet und beruhigend auf deine Mitschüler eingeredet. Jeder Konflikt ist dir ein Gräuel. Du hast es eben gern harmonisch.“
Sein Gesicht war ihrem ganz nah. Ahnte er, was sie für ihn empfand? Hatte er sie durchschaut? „Natürlich bist du mir wichtig, Logan“, flüsterte sie. „Du bist uns allen wichtig.“
Nach kurzem Schweigen fragte er: „Dann behält die gesamte Inselgemeinschaft mich also im Auge, oder?“
„So würde ich das nicht ausdrücken.“
„Wie denn?“
Seine Wimpern waren wirklich lang und dunkel. Welch ein Kontrast zu seinen blauen Augen! „Sie bemitleiden dich nicht. Niemand würde so einen starken, in sich ruhenden Mann bemitleiden. Aber sie nehmen Anteil an deinem Leben und möchten dich vor weiterem Schmerz bewahren. Die Situation bei Sonia hat alles wieder aufgerissen. Es muss ein schwerer Tag für dich gewesen sein.“ Sie spürte seinen muskulösen Schenkel an ihrem und spürte sofort Schmetterlinge im Bauch.
„Die Leute haben eine falsche Vorstellung von mir“, sagte er mit harscher Stimme.
„Wie meinst du das?“
Logan lächelte wehmütig. „Die Leute sehen mich als Vollblutarzt, als trauernden Witwer, als alleinerziehenden, liebevollen Vater.“
„Kann sein. Aber das bist du ja auch.“
Er sah ihr tief in die Augen, bevor er den Blick himmelwärts richtete. „Tatsächlich?“
Was sollte sie dazu sagen? „Offensichtlich geht es dir nicht gut. Warum sprichst du nicht mit mir darüber?“, fragte sie schließlich.
Er lachte spöttisch. „Du weißt doch, dass Männer nicht sehr kommunikativ sind.“
„Du schon, wenn du willst. Wie oft verbringst du eine halbe Ewigkeit mit einem Patienten, um ihm die Angst zu nehmen? Du bist unglaublich einfühlsam und kannst sehr gut zuhören.“
„Aber ich rede nicht so gern.“
Evanna schluckte. „Mit mir hast du aber immer geredet.“
„Stimmt. Komisch, oder? Dir vertraue ich Dinge an, die ich sonst nicht aussprechen würde.“ Wieder schwieg er lange, bevor er Evanna ansah und fortfuhr: „In Wirklichkeit empfinde ich nicht das, was man von mir erwartet.“
„Niemand erwartet etwas von dir, Logan.“
„Bist du sicher? Ich müsste eigentlich am Boden zerstört und in tiefer Trauer sein, aber …“ Er fluchte unterdrückt und fuhr sich nervös übers Gesicht. „Natürlich denke ich noch an Catherine, aber seit Kurzem …“
„Ja?“
Nach fast unmerklichem Zögern umfasste er Evannas Hand. „Na ja, wie soll ich es ausdrücken? Also, viele Dinge haben sich vor Kurzem geändert.“
Evanna war hin und her gerissen. Sollte sie ihm die Hand entziehen oder seine ganz festhalten? So eng beieinander in der Hängematte zu liegen, war doch sehr intim. Selbst wenn Logan mit der Berührung nur ihre Freundschaft symbolisieren wollte.
Trotz der späten Stunde war es noch immer unglaublich warm in dem vor Blicken geschützten Garten. Sie waren von einer tiefen Stille umgeben, die nur ab und zu von einem bellenden Hund auf dem Bauernhof jenseits der Felder und Wiesen durchbrochen wurde.
Evanna fiel ein, dass sie ja hergekommen war, um Logan zuzuhören. Also ignorierte sie die Gefühle, die das intime Beisammensein in ihr entfesselte, und fragte: „Was genau hat sich denn geändert, Logan?“
Er lachte kurz auf. „Ich habe mich verändert.“
„Nach allem, was du durchgemacht hast, ist das ganz natürlich. Du musst einfach tun, was du für richtig hältst. Wir alle meistern unser Leben, so gut wir können, und du bist ein wahrer Meister.“
„Findest du? Sag mal, wie lange muss ein Mann nach dem Tod seiner Frau eigentlich wie ein Mönch leben? Ein Jahr? Zwei Jahre? Länger? Was meinst du?“
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“ Die Frage überraschte sie völlig. „Das hängt wohl von den Umständen ab. Du bist ein ganz normaler, gesunder junger Mann, Logan. Da ist es ganz natürlich, dass du, ich meine, du willst wieder …“
„Sex haben, meinst du?“ Noch immer hielt er ihre Hand fest. „Es ist also ganz natürlich, wieder eine Frau zu begehren? Ehrlich gesagt, haben mich diese Gefühle ziemlich überrascht.“
Sollte das heißen, dass er Sex mit jemandem haben wollte? Evanna war tief enttäuscht. Aber es ging ja nicht um sie, sondern darum, dass Logan glücklich war. Natürlich wollte er wieder mit einer Frau zusammen sein. Schließlich war er ein gesunder Mann in der Blüte seines Lebens. „Du interessierst dich also wieder für Frauen? Das ist …“, sie suchte nach Worten, „… prima. Das ist richtig prima. Du bist auf dem richtigen Weg.“
„Meinst du?“
„Natürlich.“
Er sah sie an. „Bist du nicht schockiert?“
„Darüber, dass du wieder eine Beziehung eingehen willst? Natürlich nicht. Ich freue mich für dich.“
Logan lächelte sexy. „Von einer Beziehung habe ich nichts gesagt“, sagte er leise. „Das könnte zu kompliziert sein. Ich spreche von Sex.“
„Ach so, ja, natürlich.“ Evanna war plötzlich ganz durcheinander. „Das ist okay. Es ist doch egal, wie du es nennst, Logan. Mehr als jeder andere verdienst du es, wieder glücklich zu sein.“ Trotz der Dunkelheit spürte sie, wie er sie anschaute.
„Du bist so süß und so großzügig“, sagte er mit sanfter Stimme und drückte Evannas Hand. „Du verurteilst niemanden, oder?“
Süß? dachte sie. Das war wohl ein Kompliment. „Was gibt es denn zu verurteilen?“
„Nicht alle Menschen sind so großherzig wie du.“
„Kümmert dich das?“
Er lachte leise. „Was meinst du?“
„Ich meine, dass es dir egal ist, was andere Leute von dir denken. Du hast schon immer getan und gelassen, was du wolltest, und das ist auch gut so.“ Sie verdrängte ihre eigenen Gefühle und gab sich freundschaftlich. „Gibt es denn jemanden, für den du dich interessierst? Woher käme sonst dein plötzliches Interesse an Sex?“ Sie gab sich völlig unbefangen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, sich über Sex zu unterhalten.
Die Ironie der Situation machte ihr zu schaffen. Hier lag sie in einer wunderschönen Sommernacht mit dem Mann, den sie liebte, in der Hängematte und fragte ihn, für welche andere Frau er sich interessierte.
„Kann schon sein. Ich weiß es nicht. Ich bewege mich auf dünnem Eis.“
„Hast du Schuldgefühle wegen Catherine?“
„Nein, seltsamerweise nicht. Aber Catherine hat mir ja auch beigebracht, dass man das Leben genießen soll.“
„Ja, und sie hatte recht.“ Evanna lächelte wehmütig. „Sie hat das Leben in vollen Zügen genossen. Sie war ja sehr abenteuerlustig und ein wenig ungezügelt. Wahrscheinlich würde sie dich jetzt fragen, warum du so lange gebraucht hast. Aber was meinst du damit, dass du dich auf dünnem Eis bewegst? Was hält dich davon ab, dich der Frau zu offenbaren?“
Logan sah sie an. Noch immer hielt er ihre Hand. „Ich weiß ja gar nicht, ob sie sich auch für mich interessiert.“
„So ein Unsinn! Seit du laufen kannst, sind die Frauen verrückt nach dir. Und seit wann bist du so zurückhaltend? Warum fragst du sie nicht einfach?“
„Du meinst, ich sollte eine Frau fragen, ob sie mit mir schläft?“
Evanna lachte, um ihre Verlegenheit zu überspielen. „Etwas geschickter solltest du schon vorgehen, sonst kassierst du noch eine Ohrfeige.“
„Was rätst du mir denn?“
Ein Lächeln genügt, hätte sie fast gesagt. Jedenfalls wäre das bei ihr so. Wenn Logan lächelte, schwebte sie im siebten Himmel. „Wirf ihr einen verführerischen Blick zu. Keine Ahnung, du bist doch der Experte“, sagte sie leise. „Wer hat denn die Herzen seiner Mitschülerinnen gebrochen?“
„Das ist lange her. Als ich noch jung und wild war.“
Sie könnte ihn jetzt darauf hinweisen, dass er die Frauen noch reihenweise verführt hatte, bis er Catherine kennengelernt hatte, und das war schließlich erst zwei Jahre her, doch sie beschloss, das lieber für sich zu behalten. „Trotzdem hast du es sicher nicht verlernt. Es ist wie Rad fahren, das verlernt man auch nicht. Kandidatinnen gibt es genug. Wie wär’s mit Polly aus dem Pub? Oder Mary Simon, die bei Meg im Café arbeitet? Jede Frau würde sich darum reißen, mit dir auszugehen.“
„Meinst du?“
Sie spürte seinen Oberschenkel an ihrem, und wieder flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch. Sie schluckte. „Klar. Bist du anderer Meinung?“
„Na ja, wenn einem etwas sehr vertraut ist, übersieht man es manchmal. Man denkt, alles verläuft in geregelten Bahnen, und dann wacht man eines Tages auf, und alles ist anders. Daran muss man sich erst gewöhnen.“
Er spricht in Rätseln, dachte Evanna, die keine Ahnung hatte, worauf er hinauswollte. „Willst du damit sagen, dass Polly und Mary keine Notiz von dir nehmen? Dann irrst du dich, ich weiß nämlich …“
„Ich spreche nicht von Polly oder Mary.“ Logan sah ihr tief in die Augen, und ihr Magen schien Purzelbäume zu schlagen. Evanna ließ sich nichts anmerken. „Wenn du glaubst, alle sehen in dir den Witwer und nicht den Mann, dann täuschst du dich, Logan. Du hast gesagt, du interessierst dich für eine Frau, dann zeig ihr das auch.“
„Bist du sicher?“
„Absolut sicher.“ Auch wenn es mir das Herz bricht, dachte sie. Wie kam sie eigentlich dazu, dem Mann, den sie liebte, zu raten, mit einer anderen Frau anzubandeln? Aber es ging ja um ihn, um sein Glück, nicht um sie selbst. Er und Kirsty sollten wieder glücklich sein. Doch die Vorstellung, Logan in den Armen einer anderen Frau zu sehen, tat unendlich weh. „Warte den richtigen Moment ab, und dann fragst du sie.“
Als er den Blick zu ihrem Mund gleiten ließ, hatte sie einen verrückten Moment lang den Eindruck, Logan wolle sie küssen. Sie beugte sich ihm sogar etwas entgegen.
Doch dann fiel ihr ein, was sie sich vorgenommen hatte. Sie entzog ihm ihre Hand, kämpfte sich aus der Hängematte, wobei sie sich fast den Fuß verstauchte, und landete mit dumpfem Aufprall auf dem Po. „Es ist gar nicht so einfach, heil aus diesem Ding herauszukommen“, sagte sie mit erstickter Stimme. Entsetzt war ihr bewusst geworden, dass sie Logan beinahe geküsst hätte.
„Evanna, du musst doch jetzt nicht …“
„Es wird Zeit für mich“, widersprach sie betont fröhlich. „Ich wollte nur schnell sehen, ob es dir gut geht. Und du solltest auch gehen. Ins Haus, meine ich natürlich. Du bist ja schon zu Hause.“ Was redete sie denn da für einen Unsinn? Was sollte Logan von ihr denken? Kein Wunder, dass er sie nicht sexy fand. Sie hatte ja keine Ahnung, wie man einen Mann verführte.
Logan sah sie einfach nur ernst an. „Willst du jetzt wirklich gehen?“
Was erwartete er denn? Sollte sie ihm eine Liste möglicher Sexgespielinnen aufschreiben? „Es ist spät. Ich muss jetzt los, und du solltest …“
Logan hob die leere Bierflasche auf, stieg geschmeidig aus der Hängematte und sagte: „Ich sollte zu dem weiblichen Wesen in meinem Leben zurückkehren: meiner Tochter.“
Schweigend standen sie einander gegenüber. Evanna biss sich auf die Lippe. „Ich war dir keine große Hilfe, oder?“, fragte sie schließlich leise.
Logan seufzte. „Doch, du bist mir immer eine Hilfe. Vielen Dank für deinen Besuch, Evanna.“
Sie nickte und stolperte rückwärts zum Gartentor. „Gern geschehen. Tut mir leid, dass ich … ich meine, hoffentlich hast du Erfolg.“ Sie hatte das Gefühl, alles noch schlimmer zu machen, wandte sich schnell um und stürmte aus dem Garten.
Ich muss den richtigen Moment abwarten.
Frustriert ging Logan in seinem Schlafzimmer hin und her. Hatte Evanna ihm das nicht geraten? Aber wann war der richtige Moment, einer Frau zu sagen, dass man sie ausziehen und wilden, ungezügelten Sex mit ihr haben wollte?
Evannas Leben verlief in geordneten Bahnen. Alles war sorgfältig geplant. Er hatte gesehen, wie sie errötet war, als er von Sex gesprochen hatte. Wie sie wohl erst reagiert hätte, wenn sie wüsste, dass sie die Frau war, für die er sich interessierte?
Jede andere Frau hätte die Signale aufgefangen, die er aussandte, aber nicht Evanna.
Sie hatte noch nie eine heiße Liebesaffäre gehabt. Sie war süß, konservativ und ein wenig schüchtern. Und sie errötete, wenn man sie nackt aus der Dusche kommen sah.
Das alles machte sie nur noch anziehender für ihn.
Mitten in der Nacht hatten sie in der Hängematte gelegen und sich über das Leben und die Zukunft unterhalten. Wieso hatte er die Gelegenheit nicht beim Schopf gepackt, Evanna seine Gefühle zu offenbaren? Wie ein verknallter Teenager beim ersten Date hatte er sich benommen und kein vernünftiges Wort herausgebracht.
Logan ging zum Fenster und schaute in den Garten hinaus.
Seit einem Jahr hatte er keinen Gedanken an Sex verschwendet, und plötzlich konnte er an nichts anderes mehr denken. Er interessierte sich für eine ganz bestimmte Frau, wusste aber nicht, wie er ihr das vermitteln sollte. Das war eine völlig neue Erfahrung für ihn.
Noch nie zuvor hatte er Hemmungen gehabt, sich einer Frau zu nähern – im Gegenteil. Er war immer ein Eroberer gewesen.
Aber bei Evanna war alles anders.
Verzweifelt fuhr er sich übers Gesicht und setzte sich in einen Sessel. Es stand so viel auf dem Spiel. Wenn er bei Evanna nur einen falschen Schritt machte, könnte das ihre lange, tiefe Freundschaft zerstören. Und auf Glenmore konnte man sich nicht aus dem Weg gehen. Wie sollten Evanna und er miteinander umgehen, falls sie ihm einen Korb geben würde? Denn das war ja durchaus möglich, oder?
War es das Risiko wirklich wert?
Wenn er die Wahl hätte zwischen Evanna als Freundin und Vertraute oder einem Leben ohne Evanna, wie würde er sich entscheiden?
Natürlich wollte er sie als Freundin behalten – keine Frage.
Die Situation war wirklich knifflig.
Ich muss vergessen, dass ich Evanna begehre, dachte er niedergeschlagen, stand auf und warf sich aufs Bett.
Irgendwie musste er ihre Beziehung wieder in die alten, vertrauten Bahnen lenken.
„Jenny Price steht mit Helen bei mir am Empfang“, sagte Janet am Telefon zu Evanna.
Helen Price? „Das ist ja ein Zufall. Erst kürzlich hat Ann Carne mich gebeten, mal nach ihr zu sehen. Du kannst sie gleich zu mir schicken. Hat die Kleine gesagt, welche Beschwerden sie hat?“
„Nein, und Jenny Price ist sehr ruhig und schüchtern. Aber sie scheint sich Sorgen zu machen. Irgendwas stimmt nicht mit der Kleinen.“
Evanna klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr, weil sie die Hände frei haben wollte, um einen Brief auszudrucken, den sie gerade geschrieben hatte. „Und was?“
„Sie ist sehr klein für ihr Alter.“
Evanna nahm den Brief aus dem Drucker. „Sie ist fünf Jahre alt. In dem Alter sind kleine Mädchen schon mal zart.“
„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.“
Evanna lächelte. „Wie gesagt, du kannst sie gleich reinschicken. Wenn ich Auffälligkeiten feststelle, soll Logan Helen untersuchen. Ist er noch in der Praxis, oder macht er schon Hausbesuche?“ Die ganze Woche über war sie ihm erfolgreich aus dem Weg gegangen. Verzweifelt versuchte sie auch, jeden Gedanken an ihn in den Armen einer glückseligen Frau zu verdrängen.
„Er kümmert sich gerade um seinen letzten Patienten.“
„Okay, dann warn ihn am besten schon mal vor.“
Kurz darauf tauchten Jenny und Helen in ihrem Behandlungszimmer auf. Jenny war schlank, nervös und unscheinbar. Sie wirkte blass und abgehetzt. „Bitte entschuldigen Sie, dass wir vorher keinen Termin vereinbart haben, Schwester Duncan, aber …“
„Schon gut, Mrs. Price.“ Evanna lächelte aufmunternd. „Das macht überhaupt nichts. Auf Glenmore geht es nicht so steif und förmlich zu.“
Jenny verzog das Gesicht. „Wo wir vorher gewohnt haben, hatten wir Glück, wenn wir nur vierzehn Tage auf einen Termin warten mussten.“
„Bis dahin ist man wahrscheinlich entweder tot oder geheilt.“ Evanna lächelte verständnisvoll. „Wo drückt denn der Schuh?“
„Das weiß ich auch nicht so genau.“ Besorgt musterte Jenny ihre Tochter. „Sie gerät manchmal schrecklich außer Atem, wenn sie herumtollt.“
„Okay, ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“
„Im Winter hat sie ständig gehustet.“ Jenny biss sich auf die Lippe. „Ich frage mich, ob sie an Asthma leidet. Miss Carne hat empfohlen, zu Ihnen in die Praxis zu kommen, weil Sie und Ihre Kollegen sich um Asthmapatienten kümmern.“
„Das ist richtig. Allerdings werden alle Patienten zunächst von einem der Ärzte untersucht. Wenn die Diagnose feststeht, übernehmen wir alles Weitere.“
Helen zupfte ihre Mutter am Ärmel. „Ich hab Durst, Mummy.“ Sie war klein, blass, hatte blondes Haar und wirkte sehr zart.
Evanna betrachtete sie einen Moment lang und dachte darüber nach, was Ann und Janet gesagt hatten. „Ich hole dir ein Glas Wasser, Helen“, sagte sie freundlich und griff nach einem der bunten Pappbecher, die sie für Kinder bereithielt. „Könntest du dich schon mal auf die Waage stellen?“
Sie wog Helen, notierte sich das Gewicht und reichte der Kleinen dann einen Becher Wasser, bevor sie Jenny Fragen zu Helens Krankengeschichte stellte.
„Die Geburt verlief völlig komplikationslos, aber danach hatte Helen eine Bronchitis nach der anderen.“
„Hustet sie nachts?“
„Im Sommer nicht, nur wenn sie wieder eine Infektion hat.“
„Haben Sie schon einen Arzt konsultiert?“
„Ja, jeden Winter, aber bisher haben alle Ärzte gesagt, dass so eine Infektion im Winter normal sei.“ Ratlos zuckte sie die Schultern. „Aber ich merke doch, dass etwas nicht in Ordnung ist. Als Mutter hat man einen Instinkt dafür.“
Evanna betrachtete das kleine Mädchen, das jetzt seelenruhig in der Spielecke saß und spielte. „Sie leidet also häufig unter Atemnot.“
„Ich habe sie beim Spielen mit anderen Kindern beobachtet. Sie gerät schon außer Atem, wenn sie nur hin und her läuft. Und es wird immer schlimmer.“
„Hat sie auch Ausschlag?“ Evanna stellte noch eine Reihe weiterer Fragen, dann stand sie auf. „Ich sehe mal nach, ob einer unserer Ärzte noch da ist.“
Sie verließ den Behandlungsraum, sah den letzten Patienten aus Logans Sprechzimmer kommen und ging hinein. „Kannst du noch eine Patientin von mir annehmen?“, fragte sie.
„Um wen handelt es sich denn?“
„Um Helen Price. Die Familie ist im Frühjahr auf die Insel gezogen. Helen ist fünf Jahre alt und gerät schnell außer Atem. Ann Carne hat mich neulich schon auf sie angesprochen und fürchtet, die Kleine könnte Asthma haben. Die Mutter denkt das auch, aber …“
„Du nicht.“
„Nein, ich bin mir nicht sicher. Es wäre mir sehr lieb, wenn du sie untersuchen würdest. In der Familie sind keine Allergien oder Fälle von pfeifendem Atem und nächtlichen Hustenanfällen bekannt. Helen leidet jedoch jeden Winter an Bronchitis.“ Evanna lächelte entschuldigend. „Du bist der Arzt, ich habe nur so eine Ahnung, was es sein könnte.“
„Dann schick sie mal gleich herein.“ Er sah Evanna lange an. „Kannst du dabei sein, wenn ich sie untersuche?“
Sie nickte. „Klar. Übrigens sollten wir Jenny, ihre Mutter, zum Barbecue am Strand einladen. Ihr Mann ist viel unterwegs. Ich glaube, es wäre gut, wenn sie Anschluss finden würde.“
„Einverstanden.“
„Kommst du eigentlich auch?“ Normalerweise nahm er nicht teil, und es sollte ihr auch egal sein, ob er kommen würde oder nicht.
Logan betrachtete sie forschend. „Wahrscheinlich.“
Hätte sie doch nur nicht gefragt! Beim Barbecue am Strand hätte er ja die perfekte Gelegenheit, die Frau anzusprechen, für die er sich interessierte. Im Vorjahr war er zu Hause geblieben, weil er noch um seine Frau getrauert hatte. Evanna war früh gegangen und hatte ihm etwas zu essen gebracht. Sie hatten gemütlich im Garten gesessen und sich über Gott und die Welt unterhalten. Immerhin hatte ihn das von seinen trüben Gedanken abgelenkt.
„Schön, dass du kommst.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Alle werden sich freuen, dich zu sehen.“ Sie wich zurück und überlegte, warum er sie so forschend ansah. „Ich hole jetzt Helen und ihre Mutter.“
Kurz darauf untersuchte Logan die Kleine gründlich und stellte Jenny Fragen. Schließlich legte er das Stethoskop aus der Hand, lächelte und gab Helen ein Malbuch und Buntstifte. „Hast du Lust, das für mich anzumalen, Helen? Ich möchte mich noch kurz mit deiner Mum unterhalten.“
Strahlend griff das kleine Mädchen nach Buch und Stiften. „Danke“, sagte es leise, legte sich dann bäuchlings auf den Boden und war im nächsten Moment völlig vertieft ins Malen.
Logan setzte sich an seinen Schreibtisch. „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass sie Herzgeräusche hat?“
„Herzgeräusche?“ Jenny sah ihn erstaunt an.
„Ja. Das habe ich eben beim Abhorchen festgestellt.“
„Wollen Sie damit sagen, dass etwas mit ihrem Herzen ist? Ach, du liebe Zeit.“ Jenny wurde bleich. „Und was sollen wir nun tun?“
„Ich würde Helen gern an einen Kardiologen überweisen, der sich auf Kinder spezialisiert hat. Dann wissen wir bald Genaueres.“
„Haben Sie denn einen Verdacht, was es sein könnte?“, fragte Jenny besorgt.
„Ein Verdacht hilft uns nicht weiter. Es müssen weitere Untersuchungen durchgeführt werden. Ein Echokardiogramm zum Beispiel, ein EKG, und wahrscheinlich wird der Brustkorb geröntgt.“
„Das glaube ich einfach nicht.“ Jenny atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Sie war den Tränen nahe.
Evanna borgte sich Logans Telefon und bat Janet, Helen abzuholen und ihr einige interessante Spielsachen zu zeigen, denn mit dem Malen war die Kleine bereits fertig.
Jenny warf Evanna einen dankbaren Blick zu.
Einen Moment später tauchte Janet auf und lächelte freundlich. „Kommst du mit, Helen? Ich muss alle Pflanzen gießen und könnte Hilfe gebrauchen.“ Strahlend hielt sie der Kleinen eine Hand entgegen.
Helen stand auf und sah ihre Mutter fragend an.
„Du kannst ruhig mitgehen, Schatz. Hilf Janet beim Blumengießen, ich komme gleich nach.“
Also schob Helen ihre kleine Hand in Janets und ließ sich hinausführen.
Jenny zog ein Taschentuch aus der Handtasche. „Danke, das war sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie leise. „Man versucht, seine Kinder vor allem zu beschützen, und dann passiert so etwas. Entschuldigung, aber das ist ein Schock für mich.“
„Das ist nur zu verständlich“, erklärte Logan mitfühlend. „Aber ich würde Sie bitten, sich keine Sorgen zu machen. Wir wissen ja noch nicht einmal, um was für eine Erkrankung es sich handelt. Ich weiß, dass das leichter gesagt als getan ist. Wenn man Kinder hat, lebt man ja in ständiger Sorge.“
„Haben Sie auch Kinder?“
Logan lächelte stolz. „Ja, meine Tochter ist gerade ein Jahr alt geworden.“
„Herzlichen Glückwunsch.“ Jenny lächelte unter Tränen. „Und wie geht es jetzt mit Helen weiter?“
„Ich veranlasse die Untersuchungen beim Herzspezialisten. Er ist ein guter Freund von mir und genießt einen ausgezeichneten Ruf. Danach kommen Sie zur Besprechung wieder in meine Praxis.“
„Und Sie sind sicher, dass sie etwas am Herzen hat?“
„Ja. Aber sie ist ja ein fröhliches kleines Mädchen und hat sich bisher gut entwickelt. Vielleicht lässt sich das Problem ganz leicht beheben. Vielleicht müssen wir auch erst mal abwarten, bevor etwas unternommen wird.“
„Bobbie, mein Mann, ist im Ausland. Ich kann ihn im Moment gar nicht erreichen.“
Logan umfasste tröstend ihre Hand. „Sie können jederzeit zu uns kommen.“ Er warf Evanna einen Blick zu. „Wirklich jederzeit.“
Jenny lachte spöttisch. „Ich kann doch hier nicht auftauchen und Ihnen mein Herz ausschütten, weil ich mir Sorgen um Helen mache.“
„Doch, das können Sie. Als praktischer Arzt bin ich für die ganze Familie zuständig.“ Logan lächelte ihr aufmunternd zu. „Jetzt warten wir erst mal die Untersuchungsergebnisse ab, dann sehen wir weiter.“
„Sie sind unglaublich freundlich. Ich bin es gar nicht gewohnt, dass ein Arzt sich so sehr um uns kümmert.“
„Hier auf Glenmore kümmern wir uns alle umeinander. So ist das nun mal auf einer kleinen Insel. So, jetzt rufe ich den Kardiologen an. Haben Sie die Möglichkeit, Helen aufs Festland zu bringen, Jenny?“
„Ja, ich habe ein Auto und besuche meine Schwester sowieso jede Woche auf dem Festland.“
„Prima. Hier sind meine Privatnummer und die Handynummer.“ Logan schrieb die Nummern auf einen Notizzettel. „Rufen Sie an, wenn etwas ist. Ansonsten sehen wir uns zur Besprechung der Befunde.“
Jenny steckte den Zettel ein und stand auf. „Auch Ihnen ganz herzlichen Dank“, sagte sie zu Evanna.
„Keine Ursache.“ Sie begleitete Jenny hinaus, brachte sie zu ihrer Tochter und kehrte zu Logan zurück.
„Sagst du mir wenigstens, was du für einen Verdacht hast?“, bat sie.
„Wahrscheinlich handelt es sich um einen Vorhofseptumdefekt, den Herzgeräuschen nach zu urteilen.“
„Aber das hätte man doch schon längst feststellen müssen.“
„Nicht unbedingt. In den ersten Lebensjahren ist die Krankheit meist symptomfrei. Ich kann mich natürlich täuschen, aber bei Helen kommen ja noch die Atemnot, die ständigen Infektionen und die Tatsache hinzu, dass sie für ihr Alter viel zu leicht ist.“
„Normalerweise täuschst du dich nicht, Logan“, sagte Evanna leise, und er betrachtete sie lange forschend.
„Leitest du meinen Fanklub?“
„Du bist ein guter Arzt, das weißt du selbst. Wie geht es jetzt weiter? Muss Helen operiert werden? Oder schließt die Lücke sich von selbst?“
„Das ist in Helens Alter eher unwahrscheinlich. Wäre sie unter drei Jahre alt, würde ich sagen, die Lücke könnte sich noch von selbst schließen, aber sie ist ja schon fünfeinhalb.“
„Dann muss sie also operiert werden.“
„Nicht unbedingt. Vielleicht genügt auch ein Kathetereingriff.“
„Hoffentlich!“
„Ich rufe jetzt meinen Kollegen an.“ Logan suchte die Nummer im Telefonverzeichnis seines Computers. „Wir waren zusammen in London, er ist ein sehr guter Kardiologe. Vielleicht hat er diese Woche noch einen Termin frei. Hast du dich übrigens in der Klinik nach Sonia erkundigt?“
„Ja. Es ist so weit alles in Ordnung. Das Baby hat eine leichte Gelbsucht. Aber Mutter und Kind werden voraussichtlich Mitte der Woche entlassen.“
„Wunderbar.“ Logan griff nach dem Telefonhörer. Dann sah er auf. „Du hast vorhin gefragt, ob ich zum Barbecue am Strand komme. Bist du auch da?“
„Klar.“ Auch wenn es ihr das Herz brechen würde, Logan mit einer anderen Frau zu sehen. Aber der Strand war breit genug. Und man konnte Volleyball oder Fußball spielen oder schwimmen. Es war genug Ablenkung vorhanden. Sie konnte Logan also mühelos aus dem Weg gehen.