2. KAPITEL

Die Straße folgte dem Küstenverlauf. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf die kleinen Buchten, die nur zu Fuß erreichbar waren und die Einheimische während der Wikinger-Invasion erbittert verteidigt hatten. Umsichtig achtete Evanna auf Touristen am Steuer, die eventuell durch die Schönheit der Landschaft abgelenkt waren. Rechts erhob sich die Burgruine, in der Fraser vor Kurzem festgesteckt hatte. Links glitzerte der Ozean, die Wellen brachen sich an zerklüfteten Felsen. In einiger Entfernung konnte man die Silhouette des Festlands erahnen.

Glenmore war einzigartig. Leider war Evannas Vorfreude, wieder zu Hause zu sein, wie weggeblasen. Stattdessen war sie enttäuscht und ärgerte sich über sich selbst. Einen Monat lang hatte sie sich eingeredet, sie wäre über Logan hinweg. Doch kaum begegnete sie ihm, gerieten ihre Gefühle wieder in Aufruhr. Warum konnte er ihr nicht gleichgültig sein?

Ihre Laune hob sich erst, als sie den Wagen vor ihrem kleinen weißen Cottage mit den blauen Fensterläden parkte. Sie konnte direkt aufs Meer blicken. Schon als Kind hatte sie sich gewünscht, einmal in diesem verwunschenen, von Rosen umrankten Häuschen zu wohnen. Als es dann vor drei Jahren zum Verkauf stand, hatte sie nicht lange gezögert.

Mit Feuereifer widmete sie sich der Innenausstattung. Auf dem Parkettboden lagen Teppiche in freundlichen Farben, vor den Fenstern bauschten sich weiße Gardinen, der Tisch war stets mit einem üppigen Blumenarrangement dekoriert. Außerdem hatte sie große Glasgefäße mit Muscheln gefüllt, die sie am Strand gefunden hatte.

Wenn sie morgens aufwachte, blickte sie direkt aufs Meer. Konnte es etwas Romantischeres geben? Schade nur, dass sie das Bett mit niemandem teilte.

Evanna schloss die Haustür auf und bücke sich nach der Post auf der Fußmatte. Dann ging sie in die in sonnigem Gelb gestrichene Küche und sah die Post durch. Reklame verschwand sofort im Papierkorb, die Rechnungen legte sie zur Seite und öffnete einen weißen Umschlag, der ein Angebot zur Renovierung des Badezimmers enthielt, um das sie gebeten hatte.

Entschlossen griff sie zum Telefon und wählte. „Hallo, Craig, hier ist Evanna. Dein Angebot liegt hier vor mir.“

Fünf Minuten später waren sie sich einig, und sie stellte einen Scheck für die Anzahlung aus. Für die Renovierung gingen ihre gesamten Ersparnisse drauf, aber das war es ihr wert. Sie freute sich darauf, das altertümliche Badezimmer in eine Wellnessoase verwandeln zu lassen.

Evanna duschte und machte sich auf den Weg in die Praxis zur Nachmittagssprechstunde.

Janet, die Kollegin am Empfang, erwartete sie bereits und reichte ihr einen Computerausdruck und einen Stapel Briefe. „Du hast heute volles Programm. Die Patienten können deine Rückkehr kaum erwarten. Und Lucy möchte, dass du nach der Sprechstunde einen Hausbesuch bei ihr machst. Der Nabel des Babys ist verklebt. Du sollst dir das bitte mal ansehen. Man merkt sofort, dass sie zum ersten Mal Mutter geworden ist. Was meinst du, wie oft sie bei jeder Kleinigkeit schon bei Logan angerufen hat? Er hat unendlich viel Geduld mit ihr.“

Logan hat eben für jeden ein offenes Ohr, dachte Evanna. „Natürlich kümmere ich mich um Lucy und das Baby. Wer ist der erste Patient?“

„Sandra King. Sie sitzt im Wartezimmer und sieht sehr verträumt vor sich hin. Es ist also ziemlich klar, warum sie hier ist.“ Janet zwinkerte vielsagend.

Evanna, die an Kylas Bemerkung denken musste, lachte. „Na, dann wollen wir mal das Beste hoffen.“ Beschwingt machte sie sich auf den Weg zu ihrem Sprechzimmer, vergewisserte sich mit einem Blick, dass alles an seinem Platz war, und schaltete den Computer ein, bevor sie auf den Knopf drückte, um die erste Patientin zu sich zu rufen.

Kurz darauf klopfte Sandra an und kam mit ihrem Mann ins Sprechzimmer. „Ich bin schwanger, Schwester Duncan“, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Meine Periode ist ausgeblieben, und ich habe gestern einen Schwangerschaftstest gemacht. Er war positiv.“

Kyla ist wirklich eine gute Beobachterin, dachte Evanna anerkennend. „Das freut mich, Sandra. Herzlichen Glückwunsch.“

„Vor Aufregung habe ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich möchte das Kind hier auf der Insel zur Welt bringen – mit Ihrer Hilfe.“

Evanna lächelte nachsichtig. „Warum ist Ihnen eine Hausgeburt so wichtig?“

„Weil ich auch auf Glenmore geboren wurde.“

„Sie waren das dritte Kind. Erstgebärende sind in der Klinik besser aufgehoben, Sandra. Ich kann ja verstehen, dass alles so natürlich wie möglich verlaufen soll, aber das geht auch in der Klinik.“

„Ich bin doch jung und gesund. Oder macht eine Hausgeburt Ihnen zu viele Umstände?“

„Nein, darum geht es nicht, sondern um die Risiken. Kein Geburtshelfer würde einer werdenden Mutter empfehlen, zu Hause zu entbinden. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Glenmore so abgelegen ist. Auch wenn wir noch so umsichtig sind, kann es bei einer Geburt immer zu Komplikationen kommen. Und darauf ist eine Klinik viel besser eingerichtet.“

„Aber notfalls könnte der Rettungshubschrauber mich doch aufs Festland bringen.“

Erinnerungen stürmten auf Evanna ein. Der verheerende Sturm. Catherine, die um ihr Leben kämpfte. „Bei schlechtem Wetter fliegt der aber nicht“, gab sie leise zu bedenken.

Sandra sah sie an und begriff. „Entschuldigung, ich habe gar nicht nachgedacht. Sie haben gerade daran gedacht, was mit Dr. MacNeils Frau passiert ist, oder? Als es Catherine während der Geburt immer schlechter ging, wollten Sie sie ins Krankenhaus bringen, aber der Hubschrauber konnte wegen des Sturms nicht landen. Und sie ist gestorben.“

Der arme, verzweifelte, von Schuldgefühlen geplagte Logan hatte heroisch versucht, wenigstens das Baby zu retten.

Seine Tochter. Die kleine Kirsty, die aufgeweckt und gesund war und gerade ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte.

Evanna ließ sich ihre Trauer nicht anmerken. „Catherine MacNeil war ein äußerst seltener Fall. Wahrscheinlich hätte man sie auch in der Klinik nicht retten können.“

„Aber ihretwegen will Dr. MacNeil nichts von Hausgeburten wissen.“ Sandra atmete tief durch und sah ihren Mann an. „Vielleicht wäre es doch besser, in der Klinik zu entbinden. Was meinst du?“

Ihr Mann nickte – sichtlich erleichtert. „Ganz bestimmt wäre es besser. Du kennst ja meine Meinung. Ich war von Anfang an dafür.“

„Die Neugeborenenstation ist super. Ich war gerade eine Woche zur Fortbildung dort. Während der anderen drei Wochen habe ich im Kreißsaal ausgeholfen. Nach dem Umbau hat man den Eindruck, zu Hause zu sein. Man fühlt sich in der Abteilung sofort heimisch und gut aufgehoben. Es wird Ihnen gefallen.“

„Aber die Vorsorgeuntersuchungen können doch Sie und Dr. MacNeil vornehmen, oder?“, fragte Sandra besorgt.

„Selbstverständlich.“

„Muss ich denn überhaupt vor der Entbindung in die Klinik?“

„Ja, zwischen der zehnten und dreizehnten und der achtzehnten und zwanzigsten Woche müssen Sie zum Ultraschall.“ Evanna griff nach einer Informationsbroschüre. „Vorausgesetzt, dass die Schwangerschaft komplikationslos verläuft, können wir die anderen Untersuchungen vornehmen. Heute nehme ich Ihnen Blut ab, um Ihre Blutgruppe zu bestimmen und einige Routinetests zu machen.“

Sie zählte alle möglichen Tests auf, und Sandra blickte erneut Hilfe suchend Ihren Mann an.

„Wir lassen alle Tests durchführen, oder? Ich möchte kein Risiko eingehen. Wir haben so lange auf ein Baby gewartet.“

„Stellen Sie sich bitte auf die Waage, Sandra.“ Evanna stand auf und griff nach dem Blutdruckmessgerät. „Zuerst stelle ich Ihr Gewicht fest, dann messe ich den Blutdruck, und zum Schluss nehme ich dann noch Blut ab. Am besten lassen Sie sich gleich einen Termin für nächste Woche bei Dr. MacNeil geben. Er bespricht dann die Ergebnisse mit Ihnen und horcht Herz und Lunge ab.“

„Wie viel ich wiege, möchte ich lieber nicht wissen. Allerdings war mir in der letzten Zeit dauernd übel. Vielleicht ist es doch gar nicht so schlimm.“ Sandra machte die Augen zu und verzog das Gesicht. „Wiege ich zu viel?“

„Nein.“ Evanna notierte das Gewicht. Später würde sie es in den Computer eingeben. „Haben Sie sich auch übergeben müssen?“

„Allerdings.“ Sandra stieg von der Waage und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. „Sowie ich morgens aufwache. Es ist schrecklich.“

„Am besten essen Sie vor dem Aufstehen einen Keks.“ Evanna schrieb das Ergebnis der Blutdruckmessung auf. „Prima. So, jetzt nehme ich Blut ab. Anschließend brauche ich noch eine Urinprobe. Und dann haben wir es für heute geschafft. Ich gebe Ihnen noch einige Informationen für Schwangere mit, die Sie zu Hause in Ruhe durchlesen können.“

„Darf ich weiter Gymnastik machen?“

„Selbstverständlich. Sie müssen fit bleiben. Denken Sie daran, dass eine Schwangerschaft keine Krankheit ist.“

Sandra lächelte. „Ich weiß. Es ist schrecklich aufregend, auch wenn mir ständig schlecht wird.“

„In den ersten Monaten ist das ganz normal. Sollte es allerdings schlimmer werden, melden Sie sich bitte. Wenn Sie nächste Woche den Termin bei Dr. MacNeil haben, kommen Sie bitte auch zu mir. Dann klären wir eventuelle Fragen, die sich aus der Lektüre der Broschüren ergeben. Ihre Daten werde ich schon mal an die Klinik weiterleiten und einen Termin für die Ultraschalluntersuchung vereinbaren. Die Klinik richtet es so ein, dass Inselbewohner am späten Vormittag oder am frühen Nachmittag bestellt werden. Dann können Sie die erste Fähre nehmen und mit der letzten zur Insel zurückkehren.“

„Danke, Schwester Duncan.“ Sandra schwebte förmlich aus dem Behandlungszimmer. Wehmütig blickte Evanna ihr nach. Was es wohl für ein Gefühl ist, ein Baby unter dem Herzen zu tragen?, überlegte sie.

Sie riss sich zusammen, stand auf und ging zu Logan. „Sandra war gerade bei mir. Sie ist schwanger und hätte gern einen Termin zur Vorsorgeuntersuchung.“

Logan saß am Computer und sah nicht einmal auf. „Die Hausgeburt hast du ihr hoffentlich ausgeredet.“

„Ja. Woher weißt du überhaupt davon?“

„Ich habe im Pub so ein Gerücht gehört.“ Er betätigte einige Tasten, und der Drucker fing an zu rattern. „Wieso sind auf der Insel plötzlich alle schwanger?“

„Das kommt dir nur so vor. Ich habe Sandras Befunde eingegeben. Dann hast du alles zusammen, wenn du ihre Patientendaten aufrufst, und brauchst deine Befunde nur noch hinzuzufügen.“

„Danke. Ethan hat gerade vom Krankenhaus aus angerufen. Sie behalten den kleinen Jason zur Beobachtung da.“

„Aha. Mir ist noch immer schleierhaft, wie man ein Kind im Spielzeugboot auf den Atlantik lassen kann. Offenbar schalten die Leute ihr Gehirn aus, wenn sie Urlaub machen.“

„Ja, den Eindruck habe ich auch.“ Logan rieb sich den Nacken. „Überall am Strand stehen Warnschilder, dass man keine Schlauchboote ins Wasser lassen darf. Wahrscheinlich hat Jasons Mutter die alle übersehen.“

„Der Säugling verhindert wohl, dass sie genug Schlaf bekommt“, antwortete Evanna nachdenklich. „Ich werde in den nächsten Tagen mal bei der Familie vorbeischauen. Hoffentlich erholt Jason sich vollständig von seinem Abenteuer. Ich mag gar nicht daran denken, wie lange er unter Wasser war.“

„Bis zu einem gewissen Grad schützt die Untertemperatur vor Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. In einigen Fällen haben Kinder, die länger als vierzig Minuten bewusstlos im kalten Wasser waren, ohne bleibende Schäden überlebt. Wenn die Kerntemperatur unter zweiunddreißig Grad Celsius sinkt, braucht das Gehirn weniger Sauerstoff. Da Kinder im Allgemeinen viel schneller auskühlen als Erwachsene, ist es möglich, dass sie diese niedrige Kerntemperatur erreichen, bevor das Gehirn durch Sauerstoffmangel Schaden nimmt.“

„Aber du bist trotzdem besorgt, sonst hättest du ja den Rettungshubschrauber nicht angefordert.“

„Ja, denn es kann immer noch zu Komplikationen kommen. Der Kleine ist im Krankenhaus besser aufgehoben. Sicher ist sicher.“ Logan stand auf. „Aber er hat ganz gute Chancen. Er war weniger als zehn Minuten unter Wasser, er ist jung, und seine Körpertemperatur betrug vierunddreißig Grad. Andererseits hat er Wasser eingeatmet. Er muss also unter Beobachtung bleiben. Die Familie wird nicht viel vom Urlaub haben.“

„Sie kann froh sein, dass sie Jason noch hat.“

„Ja. Ach, übrigens wegen Sonnabend, Evanna …“ Logan sah zu ihr hinüber. „Kyla und ich geben dir zu Ehren ein Grillfest. Sei bitte um achtzehn Uhr bei mir. Wir fangen früh an, damit Kirsty auch mitmachen kann. Ist dir das recht?“

Evanna freute sich. Sie konnte nicht anders. Dabei wäre es besser gewesen, die Einladung auszuschlagen. Es quälte sie schon genug, Logan in der Praxis zu sehen. Da musste sie ihm nicht auch noch privat begegnen. Allerdings würde es merkwürdig aussehen, wenn sie absagte. Sie musste sich eben einfach daran gewöhnen, dass aus Logan und ihr nie ein Paar werden konnte. „Ich … ja, danke. Ich komme gern.“

„Was ist eigentlich los?“ Forschend sah er sie an. „Besonders fröhlich wirkst du nicht gerade.“

Was sollte sie dazu sagen? Dass sie traurig war, weil sie mit aller Macht versuchte aufzuhören, ihn zu lieben? Wohl kaum.

Ihm entgeht aber auch nichts, dachte sie. Lediglich die unbedeutende Tatsache, dass sie ihn liebte. Vielleicht war das auch besser so. Wenn er wüsste, wie es um sie stand, würde ihre Freundschaft womöglich noch darunter leiden. „Mir geht’s gut, Logan. Die Fahrt war nur etwas anstrengend.“

Noch immer betrachtete er sie forschend. „Wahrscheinlich nicht nur die Fahrt, sondern auch das Großstadtleben. Das ist anstrengender, als man denkt. Bis Sonnabend wirst du dich wohl erholt haben. Meg, Kyla und jede Menge Cousinen kommen. Sie wären sehr enttäuscht, wenn du absagst. Und Kirsty hat dich schrecklich vermisst. Du hast einen ganz besonderen Draht zu ihr.“

Hast du mich auch vermisst, Logan? hätte sie am liebsten gefragt. Doch sie rang sich nur ein Lächeln ab. „Dann versuche ich zu kommen.“ Als sie Logans Sprechzimmer verließ, lief sie Kyla in die Arme, die sie sofort in den freien Behandlungsraum zog.

„Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Was ist los?“

Evanna sagte ihr die Wahrheit und lächelte müde. „Kannst du mir vielleicht sagen, was ich tun soll? Wenn ich ihm aus dem Weg gehe, dann sehe ich auch die anderen Menschen nicht mehr, die ich gernhabe, wie Kirsty, dich, Meg, deine Cousinen …“ Sie verstummte und biss sich auf die Lippe.

„Alles könnte so einfach sein, wenn ihm endlich bewusst würde, dass er dich liebt.“ Kyla setzte sich auf die Untersuchungsliege. „Da dein Plan, dir Logan aus dem Kopf zu schlagen, offensichtlich fehlgeschlagen ist, müssen wir zu einer anderen Taktik übergehen. Man muss Logan die Augen öffnen. Er soll dich bemerken. Wenn er das tut, wird ihm schlagartig klar werden, dass er dich schon immer geliebt hat.“

„Er hat aber Catherine geheiratet, und er war in sie verliebt.“

„Mag sein. Aber das Leben geht weiter. Zufällig weiß ich, dass du einfach perfekt für ihn bist.“

„Ach, jetzt hör doch auf!“ Evanna wollte sich abwenden, doch Kyla hielt sie am Arm zurück.

„Ich bin aber noch nicht fertig. Das Problem scheint zu sein, dass ihr beide zusammen aufgewachsen seid und du von jeher meine beste Freundin bist. Er ist daran gewöhnt, dich um sich zu haben. Für ihn bist du meine Freundin, seine Arzthelferin und Krankenschwester. Das müssen wir ändern.“

„Und wie sollen wir das anstellen?“

Kyla lächelte verschwörerisch. „Wir verpassen dir einen völlig neuen Look. Du siehst natürlich sowieso schon fantastisch aus, aber wir müssen deine Vorzüge etwas mehr herausstellen, damit mein begriffsstutziger Bruder endlich zu der Erleuchtung kommt, dass du mehr bist als die Frau, die sich für seine Patienten einsetzt.“

„Was schlägst du vor?“ Evanna hing zwar sehr an ihrer Freundin, verlor jetzt aber langsam doch die Geduld. „Soll ich mir ein Schild umhängen?“

„Im übertragenen Sinn, ja.“ Kyla sah sie fragend an. „Wollen wir morgen nach Praxisschluss einen Einkaufsbummel machen? Alison hat einige wirklich sexy Kleider im Laden, und sie schließt im Sommer erst um acht Uhr. Danach könnten wir im Café zu Abend essen. Komm, sag Ja!“

Evanna dachte an die Hypothek auf ihrem Haus und das neue Badezimmer. „Mein Kleiderschrank ist voll.“

„Aber mein Bruder sieht dich immer nur in Schwesterntracht oder in Jeans, weil das praktisch ist, wenn du dich um Kirsty kümmerst. Das rote Top steht dir sehr gut. Wie wär’s mit einem roten Kleid? Du musst richtig glamourös aussehen.“

„Logan lässt mich einsperren, wenn ich mit Tiara und Brillantcollier zum Babysitten auftauche.“

Kyla lachte. „Sonnabend brauchen wir keinen Babysitter. Du bist zu einer Party eingeladen. Und ich möchte, dass du sexy und verführerisch gestylt bist. Also keine Widerrede, ich hole dich nach Praxisschluss ab.“

„Kyla …“

„Einen Versuch ist es wert. Wenn Logan dann immer noch nicht anbeißt, gebe ich auf.“

„Du kannst genauso gut gleich aufgeben“, antwortete Evanna ausdruckslos. „Logan würde nicht einmal anbeißen, wenn ich splitterfasernackt vor ihm auftauchen würde.“

„Überlass das ruhig mir. Ich weiß, was ich tue.“ Kyla war sich ihrer Sache ganz sicher.

Auf dem Heimweg sah Evanna bei Lucy vorbei, die im Garten saß und den Kinderwagen neben sich auf und ab schob.

„Ich dachte, etwas frische Luft tut uns beiden gut“, erklärte die junge Mutter. „Als die Kleine angefangen hat zu quengeln, habe ich den Wagen hin und her geschoben. Das scheint sie zu beruhigen.“

„Ja, das hilft meistens. Janet sagt, Sie machen sich Sorgen wegen des Nabels.“

Lucy verzog das Gesicht. „Ja, er ist verklebt. Könnten Sie mal einen Blick darauf werfen?“

„Selbstverständlich. Bei der Gelegenheit würde ich auch gern Sie untersuchen. Wie fühlen Sie sich, Lucy?“

„Aufgeregt, nervös. Es ist ein beängstigendes Gefühl, zu wissen, dass ich für die Kleine verantwortlich bin. Ich traue mich kaum zu schlafen.“ Behutsam hob sie das Baby aus dem Kinderwagen. „Ihre Augen sind auch etwas verklebt. Logan hat mir Gaze mitgegeben. Die soll ich in abgekochtes Wasser tunken und damit die Augen reinigen.“

„Klingt gut. Können wir ins Haus gehen? Dann sehe ich mir Ihre Tochter an.“

„Es ist so schrecklich heiß heute. Ich habe vorhin schon alle Türen und Fenster geöffnet, um Durchzug zu machen. Sonst könnte es für die Kleine zu heiß sein.“

„Am besten legen Sie sie auf den Rücken und lassen das Fenster einen Spaltbreit offen“, riet Evanna, legte das Baby auf die Couch und zog es aus. „Na, meine Süße. Darf ich mir mal dein Bäuchlein ansehen?“, fragte sie leise.

Lucy beobachtete sie bewundernd. „Sie strahlen eine solche Sicherheit aus, Evanna. Ich wünschte, ich wäre nicht so nervös im Umgang mit der Kleinen.“

Evanna bemerkte den Stapel Babyratgeber auf dem Couchtisch und musste sich ein Lächeln verkneifen. „Das gibt sich mit der Zeit. Als Mutter ist man eben besorgt.“

„Ich weiß nicht, wie oft ich Logan schon angerufen habe, weil ich nicht weiterwusste. Wahrscheinlich wird er demnächst den Hörer auflegen, sobald er meine Stimme hört.“

„Das wird er ganz sicher nicht tun, Lucy. Der Nabel sieht übrigens gut aus. Ich habe Ihnen in der Klinik ja gezeigt, wie Sie ihn sauber halten. Es ist alles in Ordnung.“

„Er ist also nicht entzündet?“

„Nein. Aber befestigen Sie die Windel so, dass sie nicht am Nabel scheuern kann.“

„Okay. Es sind die kleinsten, die ich finden konnte. Trotzdem versinkt meine Tochter noch darin.“

Evanna knöpfte lächelnd das kleine Hemdchen zu. „Sie wird schnell aus ihnen herausgewachsen sein. Trinkt sie gut? Stillen Sie sie?“

„Ja, aber es tut ziemlich weh.“

„Legen Sie sie auch richtig an?“

„Ja, ich glaube schon. Aber wir haben ja beide keine Erfahrung. Es ist gerade ihre Zeit. Könnten Sie zusehen und mir sagen, ob ich alles richtig mache?“

„Gern. Setzen Sie sich bequem hin. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser. Wenn Sie stillen, müssen Sie viel trinken, besonders wenn es so heiß ist wie heute.“

Evanna holte ein Glas Wasser aus der Küche und stellte es auf den Tisch.

„Ich lege sie abwechselnd an – einmal rechts, bei der nächsten Mahlzeit links und so weiter. Au!“ Lucy zuckte zusammen, als das Baby zu saugen begann.

Evanna eilte zu Hilfe. „Sie muss mehr von der Brust zu fassen bekommen. Sonst spielt sie nur mit der Knospe, und das tut Ihnen weh.“ Behutsam veränderte sie die Position des Säuglings und beobachtete, wie die kleinen Kiefer sich um die Brust schlossen. „So müsste es gehen. Tut es noch weh?“

„Nein.“ Lucy lächelte erleichtert. „Bitte ziehen Sie bei mir ein. Wenn Sie hier sind, geht alles gleich viel leichter.“

Evanna lachte leise. „Sie machen das schon. In ein paar Wochen ist das reine Routine. Haben Sie noch Blutungen?“

„Nein, nur noch ab und zu. Nichts Dramatisches.“

„Gut. Nach dem Stillen werde ich Sie kurz untersuchen. Ich möchte feststellen, ob die Gebärmutter sich richtig zusammenzieht.“

Eine Stunde später hatte Evanna unzählige Fragen beantwortet, sich davon überzeugt, dass mit Mutter und Kind alles in Ordnung war, und machte sich beruhigt auf den Heimweg.

„Es sitzt perfekt.“ Prüfend ließ Kyla den Blick über ihre Freundin gleiten.

„Viel zu kurz.“ Und zu teuer, fügte Evanna in Gedanken hinzu.

„Unsinn! Du hast fantastische Beine, und die sollst du auch zeigen.“

Kritisch betrachtete Evanna ihr Spiegelbild. „Ich bin zu alt für so ein kurzes Kleid.“

„Mit sechsundzwanzig? Ha ha! Du hast noch immer die Figur eines Teenagers. Keine Ausflüchte.“ Kyla reichte ihr ein Paar Schuhe. „Probier die mal an, die passen genau zum Kleid.“

„Auf den Absätzen komme ich keinen Schritt voran.“

„Das sollst du ja auch gar nicht. Du parkst vor dem Haus, dann musst du nur den Gartenpfad hinter dich bringen. Danach stellst du dich in Positur und siehst sexy aus.“ Sie zog ein scharlachrotes Top von der Stange. „Das kannst du zu deiner Jeans tragen – sehr sexy!“

Widerstrebend schlüpfte Evanna in die Schuhe. „In den Dingern werde ich mir die Beine brechen.“

„Jetzt hör auf zu nörgeln! Du siehst hinreißend aus.“

„Das Kleid ist zu kurz. Wahrscheinlich werde ich den ganzen Abend versuchen, den Saum hinunterzuziehen. Oh.“ Sie hatte ihr Spiegelbild entdeckt.

„Ja, genau!“ Kyla lachte triumphierend und löste den Clip aus Evannas Haar, das in dunklen Wellen über die Schultern fiel. „Wow! Das ist unglaublich sexy. Wenn Logan dich immer noch nicht als Frau wahrnimmt, wenn du so bei ihm auftauchst, dann gebe ich wirklich auf.“

Evanna musste zugeben, dass ihr gefiel, was sie im Spiegel sah – sehr sogar. Das Kleid schmiegte sich an ihren Körper und betonte ihre Kurven. Das Rot stand ihr ausnehmend gut. „Es ist aber viel zu aufgedonnert für ein Grillfest.“

„Im Gegenteil. Warum erfindest du immer neue Ausflüchte?“

„Vielleicht habe ich Angst. Ich befürchte einfach, erneut zurückgewiesen zu werden.“

„Aber du und Logan passt hervorragend zusammen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann ihm das endlich bewusst wird“, antwortete Kyla zuversichtlich.

Das Kleid stand ihr wirklich ausgezeichnet, und sie fühlte sich sehr weiblich und verführerisch darin. Allerdings konnte sie es sich finanziell gar nicht leisten. Betrübt zog sie es aus und schlüpfte wieder in Jeans und T-Shirt, bevor sie die Umkleidekabine mit Kleid und Schuhen im Arm verließ. „Die Sachen sind zu teuer, Kyla.“

„Alles ist heruntergesetzt“, sagte Alison, die Eigentümerin der Boutique, und nannte einen Preis, der Evanna staunen ließ.

„So günstig kann das gar nicht sein. Ich habe doch das Preisschild gesehen.“

„Betrachte es als kleines Dankeschön für das, was du für Mum getan hast, als sie krank war.“ Alison nahm ihr die Sachen ab.

„Das kann ich nicht annehmen.“ Evanna war verlegen.

„Doch.“ Geschickt packte Alison Schuhe und Kleid in eine Tüte. „Meine Mum sagt immer, dass du ein Engel bist. Und dann sollst du auch wie ein Engel aussehen.“