Nach einer schlaflosen Nacht stand Evanna am nächsten Morgen müde und mit schmerzendem Kopf auf, als es an der Tür klingelte.
Draußen stand Craig, der mit ihr die Umbaupläne fürs Badezimmer besprechen wollte.
„Es ist noch nicht einmal acht Uhr, Craig“, sagte sie heiser und schob sich das wirre Haar aus dem Gesicht. „Und heute ist Sonntag. Hast du kein Zuhause?“
„Ich bin gestern bei Murray fertig geworden und dachte, ich könnte hier am besten sofort anfangen. Daheim habe ich sowieso keine Ruhe, weil Molly schon ganz früh das ganze Haus aufweckt.“ Er trug einen schmutzigen Overall, und Evanna bat Craig in die Küche, wo sie Wasser aufsetzte.
„Ohne meinen Kaffee am Morgen, bringe ich keine drei Worte heraus“, sagte sie, löffelte Kaffee in eine Kanne und goss das heiße Wasser dazu. Ein wunderbar belebendes Aroma erfüllte die Küche. „Wann wacht Molly denn auf?“
„Um fünf.“ Craig verzog das Gesicht.
„Das ist aber wirklich sehr früh.“
Craig rieb sich die müden Augen. „Das sieht sie anders. Wir wechseln uns ab mit dem Aufstehen um die Zeit.“
„Mit zwei Jahren sollte sie eigentlich länger schlafen. Warum lasst ihr sie nicht einfach noch liegen, wenn sie wach ist? Vielleicht schläft sie wieder ein.“
„Annie bricht es aber das Herz, sie weinen zu hören. Sowie Molly anfängt zu weinen, ist sie schon bei ihr.“
Evanna holte zwei Becher aus dem Küchenschrank. „Ihr solltet sie wirklich einige Minuten in Ruhe lassen. Logan hatte das gleiche Problem mit Kirsty. Sie hat nicht geweint, sondern sich nur gemeldet. Als er nicht gleich darauf reagiert hat, ist sie wieder eingeschlafen.“
„Wirklich? Und du meinst, das funktioniert auch bei unserer Molly?“
„Warum nicht? Ihr müsst es ausprobieren. So, und nun her mit dem Koffein.“ Sie reichte ihm einen vollen Becher. „Das können wir jetzt beide gebrauchen.“
„Habe ich dich geweckt? Ich dachte, du wärst schon auf.“
„Ja, war ich auch.“ Geschlafen hatte sie jedenfalls nicht, sondern nur an die Decke gestarrt und an Logan gedacht. Die Kopfschmerzen waren auch noch da. Das würde ein langer Tag werden. „Willst du dir das Badezimmer noch mal ansehen?“
„Ja, deswegen bin ich hier.“
Gemeinsam gingen sie in den ersten Stock. „In zehn Tagen werden die Jungs und ich das wohl schaffen“, sagte Craig schließlich, nachdem er sich umgesehen und einige Notizen gemacht hatte. „Vorausgesetzt, alles läuft glatt.“
„In meinem Leben läuft nichts glatt.“ Evanna sah Craig an. „Zehn Tage sind in Ordnung. Kann ich mich während der Zeit waschen, oder bleibt das Wasser abgestellt?“
„Nein, wenn es nicht unbedingt nötig ist, lassen wir das Wasser an.“ Craig betrachtete die Decke. „Soll die im gleichen blauen Farbton gestrichen werden?“
„Ja.“
„Schön, dann wird das ein richtiges Meeresbadezimmer.“ Er zog ein Maßband aus der Tasche. „Für diese Ecke muss ich die Bretter zurechtsägen. Ist das Material inzwischen eingetroffen?“
„Es liegt alles in der Garage.“
„Prima, dann können wir morgen anfangen. Wir beeilen uns, damit du dein Badezimmer bald wiederhast. Inzwischen kannst du ja bei Kyla duschen.“ Prüfend strich er über eine Wasserleitung. „Die werden wir verkleiden. Das sieht besser aus.“
„Wie du meinst, Craig. Aber es muss genauso aussehen wie auf dem Foto, das ich dir gezeigt habe. Wie du das machst, ist deine Sache.“
„Schade, dass wir den Umbau nicht durchführen konnten, als du auf dem Festland warst. Dann wäre jetzt schon alles fertig.“ Er sah sich einen Riss in der Decke näher an. „Dr. MacNeil ist bestimmt froh, dass du wieder da bist. Er hat erzählt, wie sehr Kirsty dich vermisst hat.“
Evanna zuckte zusammen. „Ja, sie wächst sehr schnell.“
„Das ist wohl wahr.“ Er ging in die Hocke und betrachtete den Fußboden. „Der muss raus. Diese eleganten Fliesen aus Italien machen bestimmt etwas her.“
„Danke, Craig. Ich gebe dir einen Schlüssel mit, dann kannst du kommen und gehen, während ich in der Praxis bin.“
Er stand auf. „Ganz ohne Staub und Schmutz wird es nicht gehen, wenn wir das alte Badezimmer hinausbefördern. Aber ich klebe den Teppich ab.“
Evanna nickte dankbar, gab ihm den Schlüssel und begleitete Craig hinaus. Sie freute sich auf ihr neues Luxusbadezimmer, auch wenn der Einbau mit Unannehmlichkeiten verbunden war.
Es war noch nicht einmal neun Uhr, und Evanna wusste nicht, wie sie den Tag herumbringen sollte. Unter anderen Umständen wäre sie zu Logan gegangen und hätte mit Kirsty gespielt. Doch damit täte sie heute keinem einen Gefallen.
Überhaupt war es besser, sich rar zu machen, damit Logan sich darum bemühte, jemanden zu finden, der für ihn und Kirsty da war.
Er hatte so traurig ausgesehen, als sie vor einigen Tagen bei ihm Mittag gemacht hatte. Wer könnte zu ihm passen? Catherine war ungestüm und abenteuerlustig gewesen. Das war also der Typ, der Logan anzog. Ihr fiel keine Frau ein, auf die die Beschreibung gepasst hätte.
Es tat ihrer Seele nicht gut, über eine geeignete Partnerin für Logan zu grübeln. Evanna trank zwei Becher Kräutertee, aß Obst und ging in den Garten.
Die Sonne brannte schon zu dieser frühen Stunde vom Himmel. Das würde wieder ein heißer Tag werden. Evanna beschloss zu joggen, bevor es zu heiß wurde, schlüpfte in Shorts und Joggingschuhe, verließ das Haus durch die Hintertür und lief los.
Es regte sich kein Lüftchen, die See war spiegelglatt.
Sie verschärfte das Tempo und behielt es eine halbe Stunde lang bei. Ihr wurde immer heißer. Links von ihr ragten die Klippen hinauf, rechts erstreckten sich von der Sonne ausgedorrte Wiesen, auf denen Schafe weideten. Weiter landeinwärts befand sich das Paradies für Spaziergänger und Bergkletterer.
Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Die Luft duftete nach Sonne und Sommer. Obwohl der Boden unter ihren Füßen hart war, lief sie weiter, um ihre traurigen Gedanken zu verscheuchen. Von Natur aus ein fröhlicher Mensch, war es ungewohnt für sie, Trübsal zu blasen.
Ihr Puls raste, ihre Lungen begannen zu protestieren. Daher beschloss sie, sich eine kurze Pause zu gönnen, und ließ den Blick übers Meer gleiten. Einige Segeljachten schaukelten auf dem Wasser. In der Flaute bewegten sie sich kaum. Abgesehen vom gelegentlichen Kreischen einer Möwe drang kein Laut an ihr Ohr. Es war ein ruhiger, fauler Sonntag. Die Touristen würden die Strände erst später bevölkern. Noch war alles friedlich.
Als sie den Blick auf den vor ihr liegenden Pfad richtete, entdeckte sie Logan – mit Kirsty auf seinen Schultern.
Evanna stöhnte frustriert. Das war wirklich typisch. Warum musste ausgerechnet er auch schon zu so früher Stunde unterwegs sein? Und wieso hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie so eine weite Strecke zurückgelegt hatte?
Kirsty wedelte aufgeregt mit den Ärmchen. Bevor Evanna sich diskret verziehen konnte, hatte auch Logan sie entdeckt.
Ausgerechnet wenn ich völlig durchnässt bin, dachte sie. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Am Vorabend war sie ganz die Glamourkönigin gewesen, jetzt trug sie ihre ältesten Shorts und ein verwaschenes T-Shirt. Ich falle wirklich von einem Extrem ins andere, dachte sie und hätte laut gelacht, wenn sie nicht so bedrückt gewesen wäre.
Eigentlich war es völlig gleichgültig, wie sie aussah, Logan fand sie eben einfach nicht attraktiv. Trotzdem schob sie sich das feuchte Haar aus dem Gesicht, als Logan und Kirsty näher kamen. „Ihr seid aber früh auf.“
„Kirsty wacht jeden Morgen spätestens um sieben Uhr auf.“ Er setzte die Kleine ab. „Wir machen einen Spaziergang, um Appetit aufs Frühstück zu bekommen.“
„Gute Idee.“ Er sieht richtig sexy aus in Shorts, dachte sie. Logan hatte immer viel Sport getrieben, was seinem athletischen Körper anzusehen war. Aus dem Ausschnitt des Polohemds, das er zu den Shorts trug, lugten vorwitzig einige schwarze Härchen hervor. Evanna wandte rasch den Blick ab und konzentrierte sich auf Kirsty, spürte aber, dass Logan sie forschend ansah.
„Du bist gestern Abend so schnell wieder verschwunden. Kyla sagte, du hättest dich nicht gut gefühlt. Was ist los? Bist du krank?“, fragte er besorgt.
„Nein, mir war nur etwas … ich weiß auch nicht.“
„Du weißt nicht, wie du dich gefühlt hast?“
„Ich war nur müde.“ Sie ließ den Blick über die Bucht gleiten. „Das wird wieder ein heißer Tag heute.“
„Ja.“
Noch immer spürte sie seinen forschenden Blick. „Ich muss heute Nachmittag mein Badezimmer ausräumen, damit Craig morgen mit dem Umbau beginnen kann und …“ Sie verstummte. In einiger Entfernung schien etwas nicht zu stimmen. „Was ist denn mit denen los?“, fragte sie beunruhigt.
Logan wandte sich um und sah in dieselbe Richtung. „Meinst du das Paar? Ich bin vor zehn Minuten an ihnen vorbeigegangen. Es sind Touristen. Sie haben einen ganzen Stapel Zeitungen dabei und suchen wohl ein ruhiges Plätzchen zum Lesen.“
„Sie winken uns zu.“
„Warum denn das?“
„Keine Ahnung, aber es scheint etwas passiert zu sein. Der Mann ruft etwas.“
Logan setzte sich seine Tochter wieder auf die Schultern. „Also gut, dann wollen wir mal sehen, was da los ist.“
„Aus dieser Entfernung kann ich es nicht erkennen, aber die Frau liegt jetzt am Boden.“ Evanna war sehr beunruhigt und rannte los, gefolgt von Logan.
Als sie ankamen, sahen sie, dass die Frau sich an den Hals fasste.
Ihr Mann war bei ihr. „Das ist Alison, meine Frau. Sie ist gebissen worden“, erklärte er außer sich und suchte nach seinem Handy. „Ich muss Hilfe herbeirufen. Das kann doch alles nicht wahr sein!“
Evanna kniete sich neben die Frau. „Wo sind Sie gebissen worden?“ Sie legte der Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter, mit der anderen fühlte sie den Puls. „Hundertzwanzig, Logan.“
„Am Fuß. Sie ist über das verdammte Vieh gestolpert“, erklärte der Mann aufgeregt. „Ich schaff das nicht“, fügte er hinzu. Seine Hände bebten so sehr, dass er die Notrufnummer nicht eingeben konnte. Die Frau atmete schneller und stöhnte. „Tu doch was, Pete. Mein Mund ist ganz trocken. Mir ist schwindlig. Ich habe sie erst gesehen, als ich daraufgetreten bin.“
Logan hatte Kirsty heruntergehoben und hielt sie auf dem Arm. Er wagte nicht, sie abzusetzen, weil sie sich zu dicht an den Klippen befanden. Daher hockte er sich mit ihr hin und sprach beruhigend auf die Frau ein. „Bitte beruhigen Sie sich, Alison. Ich bin Arzt und kann Ihnen helfen. Bitte sagen Sie mir, was Sie gebissen hat? Ein Insekt?“
„Nein, eine Schlange“, antwortete sie angewidert.
Evanna glaubte, sich verhört zu haben. „Eine Schlange? Sind Sie sicher?“
Logan verschwendete keine Zeit. Behutsam untersuchte er eine Stelle am Bein, die sich gerötet hatte.
„Das muss eine Natter gewesen sein. Wir müssen das Bein abbinden und eine Schiene anlegen, damit Alison das Bein stillhält, Evanna. Was könnten wir dazu nehmen?“
Evanna reagierte professionell, wie immer in einer brenzligen Situation. „Kirstys Jacke als Kompresse, deine Socken zum Abbinden und eine zusammengerollte Zeitung als Schiene.“
Logan nickte erleichtert. „Also los.“ Der Mann musste Kirsty auf den Arm nehmen, während Logan die Socken auszog. „Keine Angst, die habe ich gerade erst frisch angezogen“, sagte er zu Alison. „Sie falten bitte eine Zeitung so fest, dass ich sie als Schiene verwenden kann“, bat er dann deren Ehemann.
Kurz darauf war die Frau versorgt. Logan lieh sich das Handy des Mannes und erledigte zwei Anrufe – mit einem rief er den Rettungshubschrauber, der andere galt Jim, dem das Land gehörte, auf dem sie sich alle gerade befanden. Logan bat ihn, sie mit seinem Landrover abzuholen. Dann wären sie innerhalb von fünf Minuten in der Praxis.
Inzwischen sah Evanna besorgt um sich. Sie hatte fast ihr ganzes bisheriges Leben auf der Insel verbracht und noch nie eine Schlange gesehen. „Sollen wir nach ihr suchen? Vielleicht beißt sie noch einmal zu“, sagte sie, als Logan dem Mann das Handy reichte.
„Die ist längst über alle Berge. Nattern sind scheu. Normalerweise tun sie Menschen nichts. Wenn sie die Vibration von Schritten hören, schlängeln sie sich schnell fort.“
„Wahrscheinlich hat sie sich auf dem Weg gesonnt“, sagte der Mann, hob Kirsty auf Logans Arm und kniete sich neben Alison. „Du hättest doch Wanderstiefel statt Sandaletten tragen sollen“, sagte er. „Wir haben nur dieses fürchterliche Zischen gehört, dann hat das Biest auch schon zugebissen.“
„Ich bekomme keine Luft“, japste Alison. Logan hielt besorgt nach dem Landrover Ausschau. „Ganz ruhig, wir sind gleich in der Praxis. Dann gebe ich Ihnen etwas. Da ist Jim ja schon. Ich helfe Ihnen jetzt auf, Alison.“
Hoffentlich schafft sie es, dachte Evanna beunruhigt, als sie sah, in welchem Zustand die Frau sich befand. Logan würde sein Bestes geben, um ihr das Leben zu retten.
Als der Wagen eintraf, reichte Logan Kirsty an Evanna weiter und hob Alison ins Auto. Die anderen stiegen auch schnell ein. „Fahr, so schnell du kannst, zur Praxis“, bat er Jim, der sofort losraste, ohne Fragen zu stellen.
„Kirsty kann bei mir bleiben“, sagte Jim, als er vor dem Gebäude anhielt. Logan nickte und half Alison wieder hinaus.
Evanna hatte sich den Schlüssel geschnappt und rannte bereits ins Behandlungszimmer, schloss den Medikamentenschrank auf und holte Adrenalin heraus.
„Puls und Blutdruck“, sagte Logan, als er Alison auf die Untersuchungsliege legte. „Sie braucht auch Sauerstoff.“ Er gab ihr die von Evanna vorbereitete Adrenalinspritze und prüfte den Puls. „Hundertvierzig. Ich brauche mehr Adrenalin. Ach, Evanna, bring mir bitte das EKG-Gerät.“
„Der Blutdruck ist neunzig zu fünfzig.“ Evanna setzte der Frau eine Sauerstoffmaske auf, bevor sie geschickt die EKG-Messung vornahm.
„Das ist aber niedrig.“ Pete wurde bleich. „Aber Sie kriegen sie doch wieder hin, oder?“ Verzweifelt raufte er sich das Haar. „Wenn ich gewusst hätte, dass es in Schottland Schlangen gibt, hätte ich darauf bestanden, dass sie Wanderstiefel anzieht. Aber es war so heiß …“
„Schlangen sind hier sehr selten. Und ihr Biss ruft auch selten so eine extreme Reaktion hervor. Alison hat einfach Pech gehabt.“ Logan verabreichte eine zweite Adrenalinspritze. „Wir geben ihr noch ein Antihistaminikum und Hydrokortison. Außerdem lege ich sicherheitshalber einen Zugang.“
Evanna legte alles bereit. „Meinst du, sie benötigt ein Immunserum?“
„Wahrscheinlich. Das Gift ist offensichtlich bereits in die Blutbahn gelangt. So, das EKG scheint okay zu sein. Lass das Gerät aber eingeschaltet, bis wir die Patientin zum Hubschrauber bringen. Ach ja, und ruf doch bitte die Giftinformationszentrale an. Ich brauche umgehend nähere Informationen.“
„Ihr Blutdruck steigt“, sagte Evanna, bevor sie zum Telefon griff. Wie ruhig Logan bleibt, dachte sie bewundernd, während sie darauf wartete, dass sich jemand meldete. Es war ein Vergnügen, mit ihm zusammenzuarbeiten, weil er nie die Übersicht oder die Nerven verlor.
Logan entfernte Kirstys Baumwolljäckchen von der Bisswunde. „Das Bein schwillt an. Die Bissspuren am Fuß sind jetzt deutlich zu sehen. Wann hatte Alison die letzte Tetanusimpfung?“
Pete zuckte nur die Schultern.
Endlich hatte sich jemand in der Giftinformationszentrale gemeldet. „Hier ist dein Gespräch, Logan.“ Evanna reichte ihm den Hörer.
„Danke. Desinfizier und verbinde bitte die Wunde, Evanna.“
„Hallo, hier ist Logan MacNeil.“ Mit ruhiger, tiefer Stimme schilderte er den Fall und besprach mit dem Giftexperten die beste Behandlungsmethode, während Evanna sich um die Patientin kümmerte.
„Sie sieht schon viel besser aus“, sagte Pete.
Evanna, die gerade noch einmal den Puls gemessen hatte, nickte. „Ja, und sie atmet auch besser. In der ganzen Hektik haben wir noch nicht einmal Ihre Personalien aufgenommen. Wie heißen Sie mit Nachnamen?“
„Winchester. Wir sind Alison und Peter Winchester und haben ein Zimmer im Glenmore Arms gebucht. Wir sind erst gestern hier angekommen.“
Evanna machte sich Notizen. Logan beendete das Telefongespräch und wandte sich ihr zu. „Ich habe die Patientin im Krankenhaus angemeldet. Ich muss nur noch schnell aufschreiben, was wir ihr verabreicht haben.“
„Mir geht es besser.“ Alison versuchte, die Maske abzunehmen, doch Logan riet ihr davon ab.
„Es ist besser, wenn Sie die Maske aufbehalten. Die Medikamente, die wir Ihnen gespritzt haben, beginnen zu wirken. Das ist sehr gut. Wir fliegen Sie aber zur Sicherheit ins Krankenhaus.“
„Muss ich dort bleiben?“
„Vermutlich, aber nicht lange.“
„Fliegst du mit?“, fragte Evanna, die den Hubschrauber schon hören konnte.
„Das sollte ich tun.“ Logan druckte gerade den Begleitbrief ans Krankenhaus aus und sah fragend auf.
Evanna wusste genau, worum es ging: Wer passte auf Kirsty auf? „Ich kümmere mich um Kirsty, ich hatte heute Morgen sowieso nichts vor.“
Er atmete erleichtert auf. „Danke, ich habe nicht gewagt zu fragen.“
„Du kannst mich jederzeit fragen, ob ich mich um Kirsty kümmern kann. Ich liebe sie, und wir haben viel Spaß.“ Erneut maß sie Alisons Blutdruck. „Schon wesentlich besser.“
„Kann ich mitfliegen?“, fragte Pete besorgt.
Logan nickte. „Kein Problem. Obwohl es wahrscheinlich besser wäre, mit dem Wagen nachzukommen, dann könnten Sie Ihrer Frau einige Sachen mitbringen.“
„Ja, bitte.“ Alison hob die Maske etwas an. „Ich brauche ein Nachthemd und meine Waschtasche. Und mein Schmuck liegt in der Nachttischschublade. Den solltest du auch mitbringen.“
Evanna brachte Alison und Logan zum Hubschrauber, dann ging sie zu Jims Landrover hinüber, um Kirsty abzuholen.
„Du hättest mir ruhig sagen können, dass sie einem die Haare ausreißt“, sagte Jim lachend. „Ich habe ihr das Fahren beigebracht, um sie abzulenken.“ Er hob ihr die Kleine entgegen, die sich sofort fröhlich an Evanna schmiegte.
„Könntest du Pete zum Glenmore Arms fahren, Jim? Er muss einige Sachen für Alison packen und sie ihr ins Krankenhaus bringen.“
„Gern. Soll ich dich auch schnell nach Hause fahren?“
„Nein, danke, das ist wirklich lieb gemeint, aber ich bleibe mit Kirsty hier. Ihre Spielsachen sind alle in Logans Haus. Damit kann ich sie eine Weile beschäftigen. Vielen Dank, bis später dann.“
Logan kehrte erst am Nachmittag zurück und fand Evanna und Kirsty in der Küche vor, wo sie auf dem Fußboden lagen und malten. Die Verandatür stand offen, um frische Luft ins Haus zu lassen.
„So, jetzt drückst du deine Hand auf das Papier“, sagte Evanna gerade zu Kirsty. „Ja, das machst du ganz prima.“
Amüsiert beobachtete Logan die Szene. Wie wunderbar Evanna mit seiner Kleinen zurechtkam! Sie hatte Zeitungspapier auf dem Küchenfußboden ausgebreitet und Farbe auf Untertassen geschüttet, sodass Kirsty ihre Hände und Füße hineintauchen und die Abdrücke auf Malpapier hinterlassen konnte. Kirsty liebte das neue Spiel. „Habt ihr schon mal davon gehört, dass man auch ein Buch lesen oder Puppen an- und ausziehen kann? Man kann euch beide nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.“
Evanna sah auf, stand auf und wandte sich Logan zu. Sie war etwas verlegen, denn sie trug noch immer ihre Joggingsachen und hatte nur die Schuhe ausgezogen. „Du weißt doch, wie gern sie malt. Und ich habe den Boden abgedeckt. Ich glaube also nicht, dass du eine neue Küche brauchst.“
„Du verwöhnst sie zu sehr“, sagte Logan leise und stellte seinen Arztkoffer ab. „Amy konnte Unordnung nicht leiden, weil sie hinterher alles wieder aufräumen musste. Außerdem hatte sie Angst, Kirsty könnte sie mit Farbe bekleckern.“
„Meinen alten Joggingsachen kann etwas Farbe nicht schaden, und das Aufräumen macht mir auch nichts aus.“ Behutsam hob sie die Bilder auf, legte sie draußen zum Trocknen auf den Gartentisch und stellte leere Marmeladengläser darauf, damit die Bilder nicht wegflogen, falls doch Wind aufkommen sollte. „Wie geht es Alison?“
„Sie werden ihr wohl Immunserum verabreichen. Puls und Blutdruck haben sich stabilisiert, sie atmet auch besser, klagt aber über Schmerzen. Wie es aussieht, werden sie sie einige Tage dabehalten. Die Kollegen stehen Schlange an ihrem Krankenbett, weil es so ein ungewöhnlicher Fall ist.“
„Ich konnte zuerst gar nicht glauben, dass es sich wirklich um einen Schlangenbiss handelt.“ Evanna schob eine Zeitungsseite zurecht, damit keine Farbe auf den Boden kleckste.
„Die sind hier auch extrem selten.“ Logan holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. „Und stellen eigentlich keine Gefahr für Menschen dar. In seltenen Fällen kann es allerdings zu allergischen Reaktionen kommen, wie es augenscheinlich bei Alison der Fall gewesen ist. Zu dumm, dass ich ausgerechnet heute kein Adrenalin bei mir hatte. Im Sommer habe ich eigentlich immer eine kleine Erste-Hilfe-Tasche bei mir, wenn ich unterwegs bin, seit dem Wespenstich vor einigen Jahren. Aber Kirsty und ich wollten ja nur ein paar Schritte gehen, um frische Luft zu schnappen, da habe ich die Tasche nicht extra mitgenommen. Ich bin froh, dass Alison es auch so geschafft hat. Einen Moment lang hatte ich das Schlimmste befürchtet.“
„Man hat dir nichts angemerkt. Im Gegenteil, du warst unglaublich ruhig. Das hat Alison die Angst genommen. Bist du fertig, meine Süße? Das ist ein sehr schönes Bild. Prima, Kirsty.“ Evanna nahm die Kleine auf den Arm. Es war ihr ganz gleichgültig, ob sie nun mit Farbe beschmiert wurde.
Logan trank einen Schluck Wasser und betrachtete die beiden andächtig. Evanna hatte so unendlich viel Geduld mit seiner kleinen Tochter.
Jetzt wischte sie die Farbe mit einem Stück Küchenkrepp von Kirstys Händen und Füßen, so gut es ging, und warf es in den Mülleimer, während Logan die leere Wasserflasche in den Wiederverwertungseimer warf.
„Sag mal, haben wir etwas Essbares im Haus? Ich bin halb verhungert.“
„Das habe ich mir schon gedacht. Deshalb habe ich Hähnchensalat gemacht.“ Evanna holte eine große Schale aus dem Kühlschrank. „Ich habe extra eine große Portion zubereitet, weil ich wusste, dass du Frühstück und Mittagessen verpasst hast.“
Logan lief das Wasser im Mund zusammen. „Ist das dein berühmtes Hähnchen in Honig-Zitronen-Marinade?“
„Genau.“
„Mein Lieblingsgericht. Habe ich dir schon gesagt, dass du eine begnadete Köchin bist, Evanna Duncan?“
Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Danke.“
„Hast du schon gegessen?“
Evanna setzte Kirsty auf dem Boden ab. „Eigentlich muss ich jetzt nach Hause. Craig kommt morgen, und das Badezimmer muss noch ausgeräumt werden.“
Sehr merkwürdig, dachte Logan. Schon wieder hatte er das Gefühl, Evanna liefe vor ihm davon. „Bitte bleib zum Abendessen.“
Sie überlegte noch, als Kirsty auf die weißen Küchenschränke zukrabbelte. „Nein, mein Engelchen, erst werden die Hände gewaschen.“ Lächelnd hob sie die Kleine hoch und hielt die Händchen unters Wasser, das sich schnell blau und gelb färbte. „So ist es schon besser. Komm, noch schnell abtrocknen, dann bist du erlöst.“ Erneut setzte sie Kirsty auf den Boden und begann, die restlichen Malsachen wegzuräumen. Als sie sich wieder umdrehte, erlebte sie eine Überraschung. „Oh!“
Der merkwürdige Tonfall machte Logan neugierig. Als er sich umwandte, fiel sein Blick auf Kirsty, die ganz allein aufgestanden war. Fasziniert sahen Evanna und er zu, wie sie schwankend ihren ersten Schritt machte. Dann plumpste sie wieder auf den Po und lachte zufrieden.
„Sie läuft!“ Vor Begeisterung klatschte Evanna in die Hände. „Logan, sie läuft! Du bist ein cleveres Mädchen, Kirsty MacNeil. Ich bin gespannt, ob sie noch einen Versuch wagt.“ Sie kniete sich hin und streckte die Arme aus. „Komm zu Evanna, Kirsty! Komm her, steh auf!“
Kirsty gehorchte, schwankte, machte zwei Schritte und plumpste wieder hin. Sie strahlte.
„Sieh doch nur, wie stolz sie ist.“ Evanna lachte und hob das kleine Mädchen hoch in die Luft. „Meine clevere Kirsty.“
„Von jetzt an haben wir sicher keine ruhige Minute mehr.“ Logan war ganz hingerissen von Evannas freudestrahlendem Lächeln. Sie ist eine wunderbare Freundin, dachte er und stellte Salat und Teller auf den Tisch. Wer hätte sonst seinen freien Tag aufgegeben und ihn damit verbracht, den kleinen Wildfang zu hüten?
Evanna warf einen Blick auf den gedeckten Tisch. „Ich sollte mich jetzt wirklich auf den Weg machen.“
„Erst wird gegessen. Du hast schon den ganzen Tag für mich geopfert, da bin ich dir wohl wenigstens eine Mahlzeit schuldig. Zumal du sie selbst zubereitet hast.“
„Du hast ja selbst deinen freien Tag geopfert, Logan“, gab sie zu bedenken und holte Bestecke aus einer Schublade. „Ich habe wenigstens meinen Spaß mit Kirsty gehabt, aber du hast richtig gearbeitet.“
„Wir essen gemeinsam. Das ist eine ärztliche Anweisung.“ Vergnügt zwinkerte er ihr zu und wunderte sich, wieso sie plötzlich errötete.
„Wenn das so ist … Aber dann lass uns im Garten essen. Bitte deck den Tisch draußen, ich komme mit den Getränken nach.“
Kurz darauf saßen sie im Garten – Kirsty auf Evannas Schoß. Die Kleine wurde mit Brot und Hähnchen gefüttert. „Sie hat wirklich einen gesunden Appetit. Und sie liebt mein Hähnchen.“
„Wir alle lieben dein Hähnchen.“ Logan nahm sich Nachschlag. „Bei Amy gab es immer nur Fischstäbchen.“
Nach einer Weile wurde Kirsty quengelig.
„Sie ist müde“, erklärte Evanna. „Ich wollte sie zum Mittagschlaf hinlegen, aber sie war viel zu aufgekratzt.“
„Du siehst auch müde aus.“ Logan betrachtete sie forschend. Sie erschien ihm blasser als sonst. „Ist alles in Ordnung mit dir, Evanna?“, fragte er beunruhigt.
„Klar, mir geht es bestens.“
Wieso weicht sie meinem Blick aus? überlegte Logan. „Wenn du krank bist …“
„Mir geht es wirklich gut, danke.“ Sie stand auf, reichte ihm Kirsty und lächelte flüchtig. „Jetzt muss ich aber wirklich los.“
„Du bist so nervös, Evanna. Bedrückt dich etwas? Wir sind doch Freunde, mir kannst du alles sagen. Ich bin immer für dich da.“
„Du siehst Gespenster. Alles ist gut. Das Badezimmer wartet darauf, ausgeräumt zu werden. Du weißt ja, dass Craig morgen mit dem Umbau beginnt.“
„Ich fahre dich schnell.“
„Nein, ich würde lieber zu Fuß gehen. Ich habe doch heute früh mein Jogging abgebrochen und brauche noch etwas Bewegung.“
Logan machte sich jetzt wirklich Sorgen um sie. Aber Kirsty wurde immer quengeliger, und so beschloss er, das Thema auf sich beruhen zu lassen und Kyla bei nächster Gelegenheit zu fragen, was mit Evanna los sei. „Aber Mittwochnachmittag hütest du Kirsty, oder?“
„Natürlich. Es wird eine Wohltat sein, von der Baustelle zu flüchten.“ Evanna war bereits auf dem Weg zum Gartentor. „Bis morgen in der Praxis, Logan. Gute Nacht, Kirsty.“