Es war eine Romanze voller gestohlener Momente und geheimer Verabredungen – und der bittersüßen Gewissheit, dass sie nicht ewig dauern konnte.
Oft hatte Jenna Schuldgefühle, weil sie ihre Beziehung zu Ryan vor Lexi geheim hielt, doch nachdem ihre Tochter auf Glenmore Fuß gefasst hatte und sich wohlfühlte, wollte sie nicht riskieren, sie in eine neue Krise zu stürzen.
Sie trafen sich in der Mittagspause beim Leuchtturm, liebten sich bis zur Erschöpfung und kehrten dann getrennt und einige Minuten zeitversetzt wieder in die Praxis zurück. Die ständigen Ausreden und Tricksereien entsprachen überhaupt nicht Jennas Naturell, trotzdem war sie so glücklich wie noch nie in ihrem Leben.
„Ich bin Clive inzwischen richtig dankbar“, sagte sie an einem sonnigen Nachmittag. Sie und Ryan waren zu den Klippen am Leuchtturm spaziert und hatten sich an einer grasbewachsenen Stelle niedergelassen, von wo aus sie den Blick aufs Meer genossen.
Ihre Hände waren ineinander verschränkt. Sie spürte, wie sich bei ihren Worten der Druck seiner warmen Finger verstärkte.
„Hätte er nicht getan, was er getan hat, wäre ich jetzt nicht hier und wüsste immer noch nicht, zu was für unglaublichen Empfindungen ich fähig bin.“ Jenna seufzte. „Eigentlich ist es erschreckend. Man lebt in einer Beziehung und sagt sich: So muss es wohl sein. Einfach, weil man keine Vergleichsmöglichkeiten hat. Man nimmt es hin, und doch ist da immer das Gefühl, als würde etwas fehlen.“
„Das Leben macht manchmal sehr eigenwillige Umwege.“ Ryan drehte den Kopf zur Seite und sah Jenna an. „Hast du Lexi von uns erzählt?“
Ein Schatten zog über ihr glückliches Gesicht. „Nein. Bis jetzt noch nicht.“
„Du hast Angst vor ihrer Reaktion?“
Jenna nickte. „Sie war völlig fertig, als Clive gegangen ist und sie erfuhr, dass er sich in eine andere Frau verliebt hat. Neben allen anderen guten Gründen für ihre Verstörtheit kam noch hinzu, dass es ihr wie den meisten Teenagern schwerfällt, ihre Eltern als atmende, sexuelle Wesen zu sehen.“
Und was genau sollte sie ihrer Tochter überhaupt sagen? Dass sie sich einen Liebhaber zugelegt hatte? Dass sie im Begriff war, sich auf eine neue Beziehung einzulassen? Wie lautete die korrekte Definition für das, was sie und Ryan verband?
Er rollte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen, um sie besser ansehen zu können. „Ich will mit dir zusammen sein, Jenna. Und damit meine ich mehr als nur verstohlene Treffen zur Lunchzeit oder am Sonntagnachmittag, wenn Lexi mit ihren Freunden unterwegs ist.“
Ein einziger Blick in seine blauen Augen genügte, um Jennas Herz verrücktspielen zu lassen.
„Wie viel mehr?“, fragte sie mit angehaltenem Atem.
Ryan berührte sanft ihre Wange. „Ich liebe dich.“ Er sagte es in einem staunenden Tonfall, als wäre er gerade erst zu dieser Erkenntnis gelangt. „Ich glaube, ich liebe dich schon, seit du von der Fähre gestiegen bist und so zerbrechlich und mitgenommen aussahst, als wärst du die letzte Überlebende eines Schiffsunglücks.“
„Du liebst mich?“ Jenna konnte es nicht fassen. Sie musste einfach nachfragen, um sicherzugehen, dass sie sich nicht verhört hatte.
Er lächelte und wirkte dabei so gelassen und entspannt, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. „Ist das wirklich so eine Überraschung für dich?“
„Ich hätte es nie zu hoffen gewagt. Ich dachte, es wäre nur …“ Sie sprach es nicht aus, plötzlich von abergläubischer Furcht ergriffen, es könnte diesen wunderbaren Traum zerstören. „Ich liebe dich auch“, gestand sie ihm stattdessen. „Noch nie hatte ich für einen Mann solche Gefühle. Ich wusste ja nicht einmal, dass es sie überhaupt gibt.“
„Mir geht es genauso.“ Ryan küsste sie zärtlich und strich ihr mit leicht bebenden Fingern übers Haar. „Du hast mich nie nach meiner Ehe gefragt oder dem Grund, warum ich hier gelandet bin. Dabei muss es doch vieles geben, was du von mir wissen willst.“
„Ich habe immer gedacht, dass du mir schon alles erzählen wirst, wenn der richtige Zeitpunkt für dich gekommen ist.“
Kopfschüttelnd betrachtete er sie. „Du bist eine ungewöhnliche Frau, weißt du das? Du kannst mich lieben, ohne meine Vergangenheit zu kennen?“
„Deine Vergangenheit hat nichts mit den Gefühlen zu tun, die ich für dich habe.“
Er holte tief Luft. „Connie – meine Ex-Frau – war sehr ehrgeizig. Sie wusste schon sehr früh, was sie im Leben erreichen wollte, und war entschlossen, jedes Hindernis zu beseitigen, das ihr dabei im Weg stand. Wir hatten schon an der Uni eine kurze Affäre gehabt und begegneten uns Jahre später als Ärzte am selben Krankenhaus wieder. Im Rückblick scheint es offensichtlich, dass unsere Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, aber damals habe ich überhaupt nicht darüber nachgedacht.“
Jenna nickte. „Das kommt mir irgendwie bekannt vor.“
Sein Lachen klang angespannt und freudlos. „Ich war voll damit beschäftigt, mich die Karriereleiter hinaufzuarbeiten, und konnte dabei keine Frau gebrauchen, die mich jeden Tag fragte, wann ich abends zu Hause sein würde. Connie tat das nie. Es war ihr völlig egal, wann ich nach Hause kam, weil sie genauso wie ich von dem Gedanken besessen war, es beruflich bis ganz nach oben zu schaffen.“
Jenna saß ruhig da und ließ ihn reden. Allmählich formte sich in ihrer Fantasie das Bild einer schönen, erfolgreichen Frau. Einer Frau, wie Jenna sie sich immer an Ryans Seite vorgestellt hatte. Klug und brillant, genau wie er. Ein goldenes Traumpaar.
„War sie schön?“
Auch Ryan setzte sich auf. „Nein“, erwiderte er. „Aber wir waren auf derselben Wellenlänge, und das hatte einen größeren Reiz für mich als regelmäßige Gesichtszüge und eine perfekte Figur. Wir hatten verrückte Arbeitszeiten, und in unserer knapp bemessenen Freizeit schrieben wir Artikel für medizinische Fachzeitschriften. Um uns nicht gegenseitig in unserer Konzentration zu stören, hatten wir zwei Arbeitszimmer.“ Er starrte grüblerisch in die Ferne und schüttelte dabei langsam den Kopf. „Wie konnte ich unser Verhältnis nur jemals als Ehe bezeichnen?“
Eine Weile herrschte Stille.
„Und wie ging es dann weiter?“, drängte Jenna vorsichtig.
„Ich wollte, dass wir eine Familie gründen.“
„Oh.“ Bisher war ihr nie in den Sinn gekommen, dass er ein Kind haben könnte. „Habt ihr …“
„Eines Abends sprach ich das Thema an“, fiel er ihr ins Wort. Um seine Lippen lag jetzt ein harter Zug. „Ich hatte eine Woche zuvor meine Approbation als Facharzt für Notfallmedizin erhalten, daher schien es mir der perfekte Zeitpunkt dafür zu sein.“
„Und sie war nicht einverstanden?“ Es klang eher wie eine Feststellung als wie eine Frage.
„Sie hat mir eröffnet, dass sie sich schon vor Jahren hatte sterilisieren lassen.“
Jenna stieß einen geschockten Laut aus. „Sie hat … Du lieber Himmel, das ist …“ Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die plötzlich trockenen Lippen und versuchte, das Ungeheuerliche zu verdauen, das Ryan ihr gerade erzählt hatte.
„Sie hatte sich bereits während ihrer Ausbildung dazu entschieden“, fuhr er mit ausdrucksloser Stimme fort. „Sie wollte eine Karriere und keine Kinder. Also hat sie das Problem mit ihrer gewohnten Effizienz ein für alle Mal aus dem Weg geschafft. Dummerweise vergaß sie, mich darüber zu informieren.“
Seine Stimme klang so rau wie Sandpapier. Jenna sah ihn an und wusste, dass er noch nie mit jemandem darüber gesprochen hatte. Das Wissen, dass er ihr etwas so Intimes anvertraute, gab ihr das Gefühl, gerade ein kostbares, zerbrechliches Geschenk erhalten zu haben. Sie wagte es jedoch nicht, einen Kommentar dazu abzugeben. Es hätte das Falsche sein und ihn seine Offenheit bereuen lassen können.
Schließlich sprach sie einfach aus, was ihr Bauch sagte. „Es war unverzeihlich, dir das zu verschweigen.“
Ryan verzog leicht die Lippen. „Das stimmt, aber zum Teil war es auch meine Schuld. Ich habe einfach vorausgesetzt, dass wir eines Tages Kinder haben würden, ohne sie je danach zu fragen. Man kann mir also durchaus männlichen Chauvinismus vorwerfen.“
„Trotzdem. Sie hätte es dir sagen müssen.“ Jenna schlang die Arme um ihre Knie und stützte ihr Kinn darauf. „War das der Grund für eure Scheidung?“
Er nickte. „Meine Karriere lief zwar glänzend, aber mein Privatleben war ein Desaster. Ich hatte mich lange nicht mit der Frage beschäftigt, was ich eigentlich wollte, und als es mir klar wurde, stellte ich fest, dass ich es nicht hatte. Ich wollte eine richtige Familie, und dazu gehören für mich auch Kinder. Connie fand das lächerlich. Ihre Worte waren in etwa: Du würdest deinem Sprössling doch nicht ein einziges Mal die Windeln wechseln, und ich habe auch keine Lust dazu. Wozu sollten wir also Kinder in die Welt setzen?“
„Sie wollte also keine Scheidung?“
Sein Lächeln war zynisch. „Die Ehe mit mir machte sich gut in ihrer Vita und hat ihr eine Menge Türen geöffnet.“
Das klang nicht gerade nach der großen Liebe. Für Jenna bedeutete Liebe in erster Linie der Wunsch, den geliebten Menschen glücklich zu sehen. So war es bei ihr mit Lexi, und so war es auch mit Ryan. Sie wollte, dass er glücklich war.
In einem Anflug von Zärtlichkeit umarmte sie ihn und schmiegte kurz ihr Gesicht an seinen Hals.
„Ich werde mit Lexi reden“, sagte sie entschlossen. „Ich denke, sie ist inzwischen alt genug, um es zu verstehen.“ Das Gespräch mit Ryan hatte ihr Kraft gegeben, und sie spürte, dass es richtig war, es zu tun.
„Bist du sicher, dass du das willst?“
Jenna erwiderte ernst seinen Blick. „Ganz sicher. Sie muss lernen, dass das Leben in ständiger Bewegung ist und dass Veränderungen nicht immer schlecht sind. Ich bin sicher, dass sie dich akzeptieren wird, solange sie spürt, dass sich an meiner Liebe zu ihr nie etwas ändern wird, egal wie wir leben.“
Ryan strich ihr liebevoll mit den Fingerspitzen über die Wange. „Du bist der selbstloseste Mensch, dem ich je begegnet bin. Wer hat dich eigentlich unterstützt, als dein Mann sich aus dem Staub gemacht hat? Waren Freunde für dich da?“
„Eine Weile schon. Dann habe ich herausgefunden, dass sie alle schon seit Jahren über Clives Abenteuer Bescheid wussten.“ Unwillkürlich zog sich Jenna ein Stück von Ryan zurück. „Von da an fand ich den Kontakt mit ihnen schwierig. Vor allem, wenn sie mir so tolle Ratschläge gaben wie Am besten tust du so, als würdest du nichts bemerken oder Wirf dich in ein sexy Outfit und erobere ihn zurück.“
In Ryans Augen funkelte es belustigt. „Ich nehme an, du hast dir besonders den letzten Vorschlag zu Herzen genommen?“
„Na klar“, ging Jenna auf seine Witzelei ein. „Ich bin eine Woche lang mit Netzstrümpfen und einem durchsichtigen Body vor ihm herumgetänzelt, aber leider hat es nichts genützt.“ Es war ein gutes Gefühl, sich über ein Thema lustig zu machen, das sie bisher überhaupt nicht komisch gefunden hatte. „Ehrlich gesagt, wollte ich ihn gar nicht zurück.“
Geistesabwesend wickelte Jenna sich eine Haarsträhne um den Finger. „Als ich erfuhr, dass er mich praktisch unsere ganze Ehe hindurch betrogen hat, ist etwas in mir gestorben. Am schlimmsten war, wie er sich gegenüber Lexi verhalten hat, nachdem er seine aktuelle Flamme kennengelernt hatte. Als wollte er plötzlich nichts mehr mit seiner eigenen Tochter zu tun haben …“
„Vergiss Clive“, murmelte Ryan rau und zog sie zurück in seine Arme. „Er war deine Vergangenheit. Ich bin deine Zukunft.“
Sie fragte sich, was genau er damit wohl meinte. Dachte er bei dem Wort Zukunft an einige Wochen oder Monate oder mehr? Was war seine Definition von Liebe?
„Jenna, ich weiß, dass das ein bisschen schnell kommt, aber …“ Das Klingeln seines Handys unterbrach Ryan mitten im Satz. Er fluchte unterdrückt und zog das Telefon hervor. „Es ist Logan“, meinte er nach einem kurzen Blick aufs Display. „Tut mir leid, aber ich habe das Gefühl, ich sollte diesen Anruf annehmen.“
Während er mit Logan sprach, löste Jenna sich behutsam aus seiner Umarmung. Sie hätte gern gewusst, was er ihr hatte sagen wollen, doch wie es schien, würde sie es nicht so bald erfahren. Noch während Ryan telefonierte, sprang er auf die Füße und zog seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche. Seine angespannte Miene ließ keinen Zweifel daran, dass es um etwas Ernstes ging.
„Ich mache mich sofort auf den Weg.“ Er suchte Jennas Blick. „Sie ist gerade hier. Ich nehme sie mit und … nein, mach dir keine Sorgen. Zusammen schaffen wir das schon.“
Als Jenna begriff, dass sie Ryan assistieren sollte, erhob sie sich ebenfalls eilig und streifte die Grashalme ab, die sich in ihrem Rock verfangen hatten.
„Hast du schon einmal auf einer Notfallstation gearbeitet?“ Er war bereits unterwegs zu seinem Wagen.
„Wie bitte?“ Jenna hatte Mühe, mit seinen Schritten mitzuhalten. Sie konnte kaum glauben, wie schnell die entspannte Nachmittagsstimmung umgeschlagen war. Sogar das Wetter hatte sich verändert. Der eben noch wolkenlose Himmel hatte sich bedrohlich zugezogen. Das Meer schillerte in einem düsteren Bleigrau. Zweifellos war ein Unwetter im Anzug.
„Ich fragte, ob du Erfahrung in Notfallmedizin hast.“
Der Motor lief, als Jenna neben ihn auf den Beifahrersitz glitt. „Ja, aber das ist schon ein paar Jahre her.“ In ihrem Magen breitete sich ein nervöses Kribbeln aus. „Was ist denn eigentlich passiert?“
„Eine Gruppe Jugendlicher veranstaltet am Devil’s Jaws ein Kliffspringen. Wir sind gleich da, es ist nicht weit von hier.“
„Kliffspringen?“ Jenna kramte ein Gummiband aus ihrer Tasche und band sich das Haar zurück. „Was ist das?“
„Man stellt sich an den Rand einer Klippe und springt ins Meer.“ Ryan drosselte das Tempo, um eine scharfe Kurve zu nehmen. „Das Problem dabei ist, dass sich die Wassertiefe mit den Gezeiten ändert. Selbst bei Flut geht man ein hohes Risiko ein, beim Eintauchen auf Felsen zu stoßen. Außerdem ist der Devil’s Jaws eine mordsgefährliche Stelle. Die Klippen bilden dort eine enge Schlucht, sodass man bereits beim Hinunterspringen zu Tode kommen kann.“
„Unglaublich, dass Kids so etwas tun.“ Jenna bekam schon allein von der Beschreibung eine Gänsehaut. „Kann man die Klippen denn nicht absperren?“
„Das sind sie bereits. Außerdem hängen überall Warnschilder, die auf die akute Lebensgefahr hinweisen. Aber du weißt ja, wie Teenager sind.“ Er lenkte den Wagen in eine Ausbuchtung am Straßenrand und stellte den Motor ab. „Wir müssen von hier aus laufen. Hast du Höhenangst?“
„Keine Ahnung. Ich glaube nicht.“
„Pass auf, wohin du trittst. Die Felsen sind ziemlich bröcklig.“ Als Ryan den Kofferraum öffnete und Jenna den Inhalt sah, riss sie verblüfft die Augen auf. „Du hast ja eine komplette Bergsteigerausrüstung dabei!“
„Ich klettere manchmal“, antwortete er knapp. Er wählte einige Seile aus und packte diverse Ausrüstungsgegenstände in einen großen Rucksack. Dann öffnete er seinen Arztkoffer und nahm Medikamente und anderes Material heraus, das er ebenfalls in den Rucksack steckte. Seine Bewegungen waren rasch und konzentriert.
Jenna betrachtete die Medikamente. „Du nimmst Ketamin mit?“
„Ich ziehe es Morphium vor. Es löst weder Atemdepressionen noch Hypotonie aus und wirkt in analgetischen Dosen wie ein Bronchodilatator.“
„Könntest du das bitte auf Englisch wiederholen?“ Die Stimme gehörte Nick Hillier, dem Inselpolizisten. Als Jenna sich zu ihm umdrehte, stellte sie fest, dass er ausnahmsweise einmal nicht lächelte.
„Es bedeutet, dass es schmerzlindernd wirkt, ohne die Atmung zu beeinträchtigen.“ Ryan hob den Rucksack aus dem Kofferraum und hängte ihn sich über die Schulter. „Ist es so schlimm, wie Logan sagt?“
Nick rieb sich das Kinn. „Schlimmer. Zwei sind unten im Wasser, und einer hängt auf halber Höhe im Teufelsrachen fest. Dummerweise hat die Küstenwache ausgerechnet heute ein technisches Problem mit dem Hubschrauber. Sie sind dabei, es zu beheben, aber bis sie hier sind, kann es noch dauern.“ Er hielt kurz inne, um Luft zu holen. „Eine Bergung von den Klippen aus ist zu riskant, ich will keine weiteren Verletzten riskieren. Also können wir nur warten und beten, dass die Jungs den Hubschrauber in den nächsten zehn Minuten startklar bekommen.“
„Ich mache mir ein Bild von der Lage, dann entscheide ich, was zu tun ist.“ Ryan ging auf die Absperrung zu und warf seinen Rucksack über den Zaun, bevor er mit einer geschmeidigen Bewegung hinterhersprang. Nick kletterte ihm etwas zögerlicher hinterher und reichte Jenna anschließend eine helfende Hand.
Sie fragte sich, wer in dieser Sache wohl das letzte Wort haben würde. Das Gesetz oder der Arzt?
Nick schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen. „Hör zu, Ryan, du weißt, wie riskant das ist. Ein Kletterer ist diesen Sommer hier zu Tode gekommen, weil die scharfen Felskanten sein Seil durchtrennt haben.“
„Dann hat er es nicht an der richtigen Stelle befestigt. Da unten warten verletzte Kinder auf Hilfe, Nick. Was erwartest du von mir? Dass ich sie einfach ihrem Schicksal überlasse?“
„Natürlich nicht. Aber es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass wir die Rettungsaktion mit so wenig Verlusten wie möglich durchführen. Und dazu gehört nicht, dass du dich an einer steilen und noch dazu bröckelnden Felswand abseilst.“
Schon vom Zuhören bekam Jenna Herzrasen. Würde sie hier überhaupt von irgendeinem Nutzen sein? Sicher, sie hatte einige Monate in einer Notaufnahme gearbeitet, aber das war eine gut ausgestattete Krankenhausabteilung gewesen, die sie in keiner Weise darauf vorbereitet hatte, auf einer schroffen, windigen Klippe eine vorklinische Versorgung durchzuführen.
Als ihr Blick auf den Jungen fiel, der bleich und zitternd im Gras saß, machte ihr Magen einen Satz. Es war Fraser, und das konnte nur eines bedeuten: Lexi steckte im Rachen des Teufels! Ohne nachzudenken lief sie auf den Klippenrand zu, bis Ryan ihren Arm packte und sie mit eisernem Griff zurückhielt.
„Keinen Schritt weiter!“, befahl er mit stählerner Stimme. „Hier oben rennst du nicht planlos herum. Du bewegst dich mit kleinen Schritten und passt auf, wohin du deine Füße setzt. Ich hole sie, das verspreche ich dir. Aber das kann ich nur tun, wenn ich nicht befürchten muss, dass du irgendetwas Unüberlegtes tust.“
Jenna nickte, während Fraser sich hochrappelte. „Lexi ist nicht gesprungen, Mrs. Richards“, keuchte er mit panischer Stimme. „Sie wollte Matt davon abhalten, es zu tun. Ich habe es auch versucht, aber er hat nicht auf uns gehört …“
Er war ein Teenager auf der Schwelle vom Jungen zum Mann, aber in diesem Augenblick war er eindeutig mehr Junge. „Lexi ist runtergeklettert, um Matt zu retten. Wir haben gesehen, wie er immer tiefer ins Wasser rutschte, und hatten Angst, er würde ertrinken …“ Er fuhr sich schniefend mit dem Handrücken über die Nase. „Jamie hat als Erster versucht, Matt zu retten, aber auf halber Strecke plötzlich aufgehört, sich zu bewegen. Keine Ahnung, was mit ihm passiert ist. Er hat wohl auf einmal Panik gekriegt oder so was. Also hat Lexi es getan. Sie sagte, sie hätte mal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht und müsse zu ihm, um ihm zu helfen.“
„Sie ist da hinuntergeklettert?“ Eine eigenartige Note schwang in Ryans Stimme, während seine Hände schon im Rucksack kramten. „Hier, Fraser, halt das mal für mich.“
Fraser nahm das Seil, das Ryan ihm reichte. „Sie hätten sie sehen sollen. Sie war einfach unglaublich! Ist einfach so da runtergegangen, ganz langsam mit Händen und Füßen. Und dabei hat sie die ganze Zeit irgendwas von drei Kontaktpunkten vor sich hingemurmelt.“
„Sie hat letzten Sommer einen Kletterkurs gemacht“, sagte Jenna mit schwacher Stimme. Der hatte allerdings in einer Halle in London stattgefunden, in der es weder glitschige Felsen noch tosende Wellen gab.
Ryan warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich würde sagen, die Kursgebühr war gut angelegtes Geld.“
Fraser stand kalter Schweiß auf der Stirn. „Ich dachte, mir würde jeden Moment das Herz stehen bleiben, als ich ihr zusah. Seit meinem Unfall in der Burg komme ich nicht gut mit großen Höhen klar.“ Er warf Jenna einen zerknirschten Blick zu. „Tut mir wirklich leid, Mrs. Richards. Ich habe alles versucht, um sie davon abzuhalten.“
„Es ist nicht deine Schuld, Fraser.“ Jennas Lippen fühlten sich steif an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Du bist nicht für Lexi verantwortlich. Sie ist alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.“
Ryan war die Ruhe selbst. „Fraser, ich möchte, dass du hierbleibst und notfalls als Kontaktperson erreichbar bist. Funktioniert dein Handy?“
„Ja, der Empfang ist gut.“
„Lass es eingeschaltet. Dr. McNeil bringt mehr Ausrüstung aus der Praxis. Wenn der Hubschrauber sich verspätet, müssen wir Matts Verletzungen möglicherweise vor Ort behandeln.“ Ryan stieg in einen Klettergurt und zog die Schlaufen fest. „Halte die Telefonleitung frei. Wenn ich dich brauche, rufe ich an.“
Nick trat vor und packte Ryan am Arm. „Verdammt noch mal, Mann, ich sagte doch, dass wir auf den Hubschrauber warten.“
„Du verschwendest deine Zeit, Nick.“ Ryans Blick ging zu Jenna. „Es wird alles gut, vertrau mir.“
„Was kann ich tun?“ Ihr Mund war so trocken, dass sie die Worte kaum herausbrachte.
„Du kannst dich vom Klippenrand fernhalten. Nick, ich seile mich jetzt ab und möchte, dass du mir den Rest meiner Ausrüstung herunterlässt.“ Er justierte ein letztes Mal seinen Gurt und streckte die Hand aus. „Hast du ein Funkgerät für mich?“
Hinter der wettergegerbten Stirn des Polizisten arbeitete es sichtlich. Schließlich zog er widerstrebend eins aus seiner Jacke und gab es Ryan. Seine Miene verriet jedoch deutlich, was er von der Aktion hielt.
Jenna fühlte sich hilflos. „Ich will etwas tun. Wenn der Junge schwer verletzt ist, wirst du Hilfe brauchen. Ich kann mich auch abseilen.“
„Du bleibst hier“, erwiderte Ryan in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
„Das ist meine Tochter da unten!“
„Genau deswegen bleibst du hier. Deine Sorge um sie wird dich ablenken, so bist du mir keine Hilfe.“
„Hör auf, mich zu bevormunden!“ Wütend hob Jenna das Kinn. „Zwei Teenager drohen zu ertrinken, und der Junge in der Felswand kann jeden Moment abstürzen. Du kannst das alles nicht allein schaffen.“
Ryan dachte kurz nach. „Okay“, lenkte er dann sichtlich widerwillig ein. „Folgender Vorschlag: Ich gehe zuerst, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Wenn ich dich brauche, lässt Nick dich zu mir herunter. Hast du dich schon mal abgeseilt?“
Jenna schluckte. „Einmal. Während eines Feriencamps, als ich fünfzehn war.“
Um seine Mundwinkel zuckte es kurz. „Ich liebe deine Ehrlichkeit, aber keine Sorge. Falls es nötig werden sollte, was ich nicht hoffe, wird Nick dir genau erklären, was zu tun ist.“
Jenna blickte ihm nach, als er zum Klippenrand ging. Unwillkürlich fühlte sie sich in einen Actionfilm versetzt, in dem er die Rolle des wagemutigen Helden spielte. Sie entdeckte immer neue Seiten an Ryan, und je mehr sie davon kennenlernte, umso größer wurde ihre Bewunderung für ihn.
„Ich hätte ihn aufhalten sollen“, murmelte Nick.
Jenna zog eine Braue hoch. „Und wie?“
Er lachte kurz auf. „Gute Frage. Zum Glück ist er wenigstens ein erfahrener Kletterer. Lassen Sie mich Ihnen schon mal in den Gurt helfen, Jenna, damit wir für den Fall der Fälle vorbereitet sind.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass ich das tue.“
In diesem Moment ertönte knisternd Ryans Stimme aus dem Funkgerät. „Nick, kannst du mich hören? Ich brauche jetzt das Seil. Over.“
„Was er wirklich braucht, ist ein Wunder“, brummte Nick, während er das Seil zu Ryan hinunterließ und es an einem Felsstück sicherte.
Vorsichtig näherte sich Jenna dem Klippenrand. Als sie den steilen Abgrund unter sich sah, stockte ihr der Atem. An dieser Stelle fiel die Klippe fast senkrecht nach unten. Scharfe Zacken ragten aus dem Gestein wie Raubtierzähne, die nur darauf lauerten, jedem unvorsichtigen Kletterer das Fleisch zu zerschneiden. Was für eine grauenhafte Vorstellung, sich hier hinunterzustürzen!
Angespannt beobachtete sie, wie Ryan dem Jungen das Seil umlegte, der sich auf halber Höhe der Wand an das raue Gestein klammerte. Dann wanderte ihr Blick tiefer, und sie entdeckte Lexis kleine Gestalt. Sie kauerte auf einem aus dem Wasser ragenden Felsen und versuchte mit aller Kraft, Matt festzuhalten, während um sie her schäumende Wellen hochschlugen.
Bei dem Anblick wurde Jenna speiübel. Mit einem Gefühl totaler Hilflosigkeit wandte sie sich Nick zu. „Lassen Sie mich jetzt runter, Nick. Ryan wird mich gleich brauchen, ich weiß es. Wir würden nur Zeit verlieren, wenn wir noch länger warten.“
„Nein“, lehnte Nick entschieden ab. „Ich werde Sie keiner solchen Gefahr aussetzen, bevor Ryan mir bestätigt, dass es unbedingt nötig ist. Es ist schlimm genug, dass er da runtergeht, aber wenigstens weiß er, was er tut. Sie haben keine Erfahrung mit so etwas.“
„Ich bin ihre Mutter“, entgegnete Jenna mit eisiger Entschlossenheit. „Das zählt eine Menge, glauben Sie mir.“
In dieser Sekunde drang Ryans Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. „Lass Jenna jetzt runter, Nick. Es ist zum Glück ein einfacher Abstieg.“
Hin- und hergerissen zwischen Panik und der Erleichterung, endlich aktiv werden zu können, folgte Jenna Nicks Anweisungen. Wenn dies ein einfacher Abstieg war, wollte sie lieber nicht wissen, wie ein schwieriger aussah. Auf dem Weg nach unten gab es immer wieder Momente, in denen der Mut sie verließ, doch sie setzte unbeirrt einen Fuß hinter den anderen. Mach jetzt bloß nicht schlapp, befahl sie sich immer wieder. Und hör vor allem auf zu denken! Denken erzeugt Angst, und die kannst du jetzt nicht gebrauchen.
Als sie endlich festen Boden unter sich spürte, fingen starke Hände sie auf. Ryan löste den Clip, der das Seil mit ihrem Hüftgurt verband, und schon in der nächsten Sekunde schlug ihr eine Welle gegen die Beine. Das Wasser war so kalt, dass Jenna erschrocken aufkeuchte. Über ihr ragte die Klippe in den Himmel, der jetzt fast schwarz war. Ein eisiger Wind pfiff ihr um die Ohren. Wenn der Hubschrauber es nicht schnell schaffte, würde es zu spät sein. Das Unwetter würde hereinbrechen und einen Flug unmöglich machen.
Und dann?
So schnell sie konnten, liefen sie zu dem Felsen, auf dem Lexi mit letzter Kraft versuchte, den halb bewusstlosen Matt festzuhalten. Als Jenna den großen Blutfleck auf dem T-Shirt ihrer Tochter sah, blieb ihr fast das Herz stehen.
„Es ist nicht mein Blut, Mum“, rief Lexi ihr zu, die den entsetzten Blick ihrer Mutter richtig interpretierte. Sie deutete mit dem Kopf auf Matt. „Es ist seins. Seine Beine … Ich glaube, sie sind beide gebrochen. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Er ist so schwer …“ Ihre Lippen zitterten, während sie krampfhaft versuchte, die Tränen zurückzuhalten. „Bitte tu doch was, Mummy!“
Mummy.
So hatte Lexi sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr genannt. Jenna spürte, wie die Kraft in ihre wackligen Beine zurückströmte. Gestützt von Ryans starken Händen überwand sie die letzten Meter, die zwischen ihnen lagen. Die Flut kam jetzt schnell herein und ließ den Wasserspiegel zusehends steigen.
„Du bist jetzt schon ein Superstar, Lexi“, sagte Ryan, während er den Rucksack öffnete, um schnell an die Dinge zu kommen, die er gleich benötigen würde. „Aber ich brauche noch eine Minute deine Hilfe. Wirst du das schaffen?“
Lexi blickte vertrauensvoll zu ihm und nickte.
„Gut. Wir holen ihn jetzt zusammen aus dem Wasser.“ Ryan wandte sich Jenna zu. „Wenn wir ihn bis zum obersten Ende des Felsens ziehen können, haben wir genug Zeit, um seine Verletzungen zu prüfen und ihm ein Schmerzmittel zu geben.“ Über das Funkgerät informierte er Nick über den Stand der Dinge und teilte ihm mit, was er noch alles brauchte. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Matt, dessen untere Körperhälfte wie leblos im Wasser schlingerte.
„Meine Beine …“, stöhnte er leise. „Sie tun so weh …“
„Ja, ich weiß.“ Ryan drückte ihm kurz die Schulter, bevor er ihm zur Sicherheit eine Nackenstütze umlegte. „Wir holen dich jetzt aus dem Wasser, und dann gebe ich dir etwas gegen die Schmerzen.“
Sobald sie es mit vereinten Kräften geschafft hatten, ihn auf den Felsen zu hieven, begann Ryan mit der Untersuchung. „Beide Oberschenkelknochen sind gebrochen …“ Er arbeitete schnell, suchte nach weiteren Verletzungen und sah sich erst dann die klaffende Wunde an Matts linkem Bein genauer an. „Jenna, wir müssen die Blutung stoppen und einen Druckverband anlegen. Hol ein paar Kompressen und den breiten Verband aus dem Rucksack. Ich gebe ihm Ketamin, das wird seine Schmerzen lindern.“
„Ich werde sterben“, murmelte Matt. „Ich weiß, dass ich …“
„Du wirst nicht sterben“, sagte Jenna fest, als sie Lexis entsetzten Blick sah.
Matt gab einen undefinierbaren Laut von sich. „Wenn der Schmerz mich nicht umbringt, wird meine Mutter es tun.“
Jenna drückte seine Hand. „Deine Mum wird einfach nur froh sein, dass du okay bist.“ Sie begegnete Ryans Blick, der ihr bestätigte, was sie gerade selbst gedacht hatte. Matt war weit davon entfernt, okay zu sein. Er hatte zwei gebrochene Beine und verlor immer noch Blut. Rasch inspizierte sie den Inhalt von Ryans Rucksack und fand, was sie brauchten. „Hast du deine Digitalkamera dabei, Lexi?“
„Was?“ Durchnässt und bibbernd starrte das Mädchen seine Mutter an, als hätte diese den Verstand verloren. „Matt blutet sich zu Tode, und du willst, dass ich ein Foto von der Landschaft mache?“
„Er blutet sich nicht zu Tode, und ich will auch kein Foto von der Landschaft. Du sollst Matts Beine fotografieren, das wird dem Rettungsteam helfen.“
„Guter Gedanke.“ Ryan gab Matt die Ketaminspritze, die Jenna vorbereitet hatte. „Was ist, Lexi? Hast du die Kamera dabei oder nicht?“
„Ja, sie ist in meiner Jackentasche.“ Lexi schüttelte ihre Verwirrung ab und holte sie heraus. „Und was soll ich jetzt tun?“
„Mach ein paar Bilder von den Verletzungen. Ich kann es auch machen, wenn du willst.“
Jenna wollte ihr den unschönen Anblick ersparen, doch ihre Tochter biss die Zähne zusammen und machte schnell einige Aufnahmen. „Okay, ist erledigt“, sagte sie, nachdem sie die Bilder auf ihre Brauchbarkeit überprüft hatte.
„Sehr gut.“ Nachdem sie nun Fotos hatten, verband Jenna gemeinsam mit Ryan zuerst die große Wunde an Matts Bein und anschließend mehrere kleinere, die zwar ebenfalls stark bluteten, aber nicht unmittelbar gefährlich waren. „Jetzt müssen sie ihm im Krankenhaus auch nicht die Verbände abnehmen, um zu sehen, was darunter ist.“
„Okay, ich glaube, jetzt hab ich’s kapiert.“ Lexi, die den beiden wie gebannt zusah, war noch eine Spur blasser geworden.
„Okay, Jen, das war’s.“ Ryan übergab Lexi das Funkgerät. „Nimm Kontakt zu Nick auf und frag ihn, ob Logan schon da ist.“
„Alles klar. Wird gemacht.“
„Super.“ Ryan schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln, dann beugte er sich wieder über den Jungen. „Hör zu, Matt, du hast dir beide Beine gebrochen. Ich werde dir gleich eine Schiene anlegen, weil das die Blutung reduziert und gegen die Schmerzen hilft, okay?“
Matt wimmerte schwach und versuchte zu nicken.
„Dr. McNeil ist da“, verkündete Lexi. „Er will wissen, was Sie brauchen.“
„Eine Sager-Schiene, sonst irgendeine andere Traktionsschiene. Und frag Nick, ob es schon eine ungefähre Ankunftszeit für den Hubschrauber gibt.“
Lexi führte auch diesen Auftrag aus, als wäre sie bereits als Funkerin zur Welt gekommen.
„Sager?“ Jenna reichte ihm einen Venenkatheter, den Ryan in die Vene an Matts Armbeuge einführte.
„Es ist eine amerikanische Schiene, die ich für die beste halte.“
„Sie lassen die Sachen jetzt herunter“, rief Lexi. „Ich hole sie.“
Besorgt blickte Jenna ihr nach, wie sie über die schlüpfrigen Felsen zur Klippe lief, während von allen Seiten tosende Wellen nach ihr schnappten. Lieber Gott, lass sie bitte nicht ausrutschen! betete sie im Stillen und spürte gleichzeitig, wie ihr mütterliches Herz vor Stolz schwoll.
Lexi löste den Rucksack vom Seil und kehrte geschwind wie eine Gämse zu ihnen zurück. In weniger als drei Minuten hatte Ryan die Schiene ausgepackt und ihre Einzelteile zusammengesteckt. Er positionierte sie zwischen Matts Beinen und zog die Gurte fest.
„Okay, das war’s“, sagte er, und im selben Moment hörten sie das Dröhnen des Hubschraubers über sich.
Von da an ging alles ganz schnell.
Zuerst holten sie den mit einem Seil gesicherten Jamie von der Felswand, dann nahmen sie Matt an Bord. Beides war nicht ganz einfach, da der Rettungsmann jedes Mal in den engen Spalt hinuntergelassen werden musste, den die Klippen an dieser Stelle bildeten.
Bei seiner zweiten Tour besprach er sich kurz mit Ryan. Beide schienen der Ansicht zu sein, dass es besser wäre, wenn ein Arzt den Transport begleitete, doch Ryan hatte sichtlich Probleme bei der Vorstellung, Jenna und Lexi zurückzulassen. Also beschloss Jenna, ihm die Entscheidung zu erleichtern.
„Du solltest mitfliegen“, ermutigte sie ihn. „Matt braucht dich, und im Gegensatz zu ihm sind Lexi und ich topfit. Wir werden auf den Felsen da drüben klettern.“ Sie streckte die Hand aus, um ihn Ryan zeigen. „Dort sind wir in Sicherheit, bis der Hubschrauber zurückkommt, um uns zu holen.“
Ryans Gesicht war feucht vom Seewasser. Dicke Tropfen lösten sich aus seinem nassen Haar. „Ich sehe leider keine andere Lösung“, sagte er rau.
„Ich auch nicht.“ Jenna hob das Kinn und befahl sich, jetzt auf keinen Fall irgendwelche Gefühle aufkommen zu lassen. Dafür war später noch genug Zeit. „Und nun verschwinde“, forderte sie ihn betont forsch auf. „Sie warten schon auf dich.“ Um zu verhindern, dass sie in letzter Sekunde doch noch sentimental wurde, legte sie Lexi einen Arm um die Schultern und machte sich mit ihr auf den Weg zu dem kleinen Felsplateau.
„Sie kommen so schnell wie möglich zu uns zurück“, versprach sie und drückte ihrer Tochter einen zärtlichen Kuss auf den Scheitel. „Du hast es so gut gemacht, Lexi. Ich könnte vor Stolz auf dich platzen.“ Sie rieb ihr kräftig den Rücken, um sie zu wärmen. „Meine Güte, du zitterst wie Espenlaub, du musst ja halb erfroren sein. Wie lange warst du denn überhaupt im Wasser?“
„Wird Matt sterben, Mum?“ Lexis Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Das lange Haar fiel ihr in nassen Strähnen um die Schultern. „Da war so viel Blut …“
Jennas Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen, als sie die Angst in ihrer Stimme hörte. „Er wird nicht sterben, mein Schatz. Er ist ernsthaft verletzt und wird sicher eine Weile im Krankenhaus bleiben müssen, aber er wird wieder gesund. Und du hast ihn gerettet.“
„Nein, das war Ryan.“ Lexi schmiegte sich an sie. „Er ist so cool, und du warst es auch, Mum. Ich hab dich noch nie bei der Arbeit gesehen und hatte keine Ahnung, dass du so … großartig bist.“
Jenna war zu erschöpft, um mehr als ein schwaches Lächeln zustande zu bringen, aber das Lob ihrer Tochter beglückte sie zutiefst. „Es ist erstaunlich, wozu man fähig ist, wenn die Flut hereinkommt“, meinte sie trocken, um ihre Rührung zu kaschieren.
„Du und Ryan kommt gut miteinander klar, oder? Ihr wart ein richtig tolles Team.“
Hatte Lexi gemerkt, dass ihre Beziehung zu Ryan sich zu etwas Tieferem entwickelt hatte?
„Ja, wir arbeiten gut zusammen“, bestätigte sie, worauf Lexi den Kopf hob und ihr gerade in die Augen sah.
„Magst du ihn?“
Es war der perfekte Moment, um etwas zu sagen.
Jenna schluckte gegen die Trockenheit in ihrem Mund an. „Und was ist mit dir, Liebes? Magst du ihn?“
„Klar. Und ich mag auch Evanna und ihre Kinder, Fraser und noch einen ganzen Haufen anderer Leute. Ehrlich gesagt, hätte ich nie gedacht, dass es hier so cool sein würde.“ Lexi drückte sich noch etwas enger an sie. „Ich habe mich voll an Glenmore gewöhnt. Und weißt du, was das Beste ist?“
Ryan, dachte Jenna. Er ist das Beste.
„Sag mir, was für dich das Beste ist, Lexi.“
„Dass es nur noch uns beide gibt. Nach dem ganzen Stress mit Dad liebe ich es geradezu.“
Da schluckte Jenna die Worte, die ihr schon auf der Zunge gelegen hatten, wieder hinunter. Vor weniger als einer Stunde hatte Ryan sich entscheiden müssen: entweder sie und Lexi oder der verletzte Junge. So war das Leben, oder? Es forderte einem ständig harte Entscheidungen ab, und nur selten liefen die Dinge so, wie man es sich wünschte.
Nach dem, was Lexi ihr gerade gestanden hatte, konnte sie ihr unmöglich erzählen, dass sie sich in Ryan verliebt hatte. Und überhaupt – was könnte sie ihm schon bieten? Er wünschte sich eine Familie. Kinder. Selbst wenn sie rein biologisch in der Lage wäre, noch welche zu bekommen, könnte sie das Lexi niemals antun. Ein neues Baby im Haus würde ihr das Gefühl geben, endgültig aufs Abstellgleis geschoben worden zu sein.
Genau betrachtet musste Jenna gar keine Wahl treffen. Die Entscheidung war bereits gefallen.