Über Nacht war Lexi zur Heldin geworden.
Als der Bericht von ihrer gewagten Kletteraktion, die Matt das Leben gerettet hatte, die Runde machte, konnte Jenna keine zwei Schritte mehr tun, ohne von jemandem angehalten und zu ihrer mutigen Tochter beglückwünscht zu werden. Jedes Mal, wenn sie die Haustür öffnete, lag ein neues Geschenk auf der Schwelle. Frisches Obst. Kuchen. Schokolade. Handgestrickte Socken für Lexi …
„Es erwartet doch hoffentlich niemand von mir, dass ich diese Dinger anziehe!“ Entsetzt musterte Lexi die lila-grün gestreiften Strümpfe. „Darin will ich nicht mal beerdigt werden. Am besten, du erschießt mich gleich.“
„Du wirst sie tragen“, entgegnete Jenna ruhig, woraufhin Lexi sich vor Abscheu schüttelte.
„Das sind echte Liebestöter, Mum! Wenn ich gewusst hätte, was für ein Rummel wegen dieser Sache veranstaltet wird, hätte ich Matt ertrinken lassen.“ Sie setzte ihre Baseballkappe auf und zog den Schirm tief ins Gesicht. „Wenigstens kann ich mir jetzt vorstellen, wie ätzend es sein muss, ein Promi zu sein. Gestern haben mich zwei Leute auf der Straße fotografiert. Wenn sie die Bilder auf Facebook posten, kann theoretisch jeder den Megapickel auf meinem Kinn beglotzen.“
Jenna hörte ihr lächelnd zu. Es half gegen den Schmerz und die Leere in ihr, die viel größer waren als nach Clives Abgang.
„Ryan hat übrigens angerufen“, teilte sie Lexi in beiläufigem Tonfall mit. „Er dachte, du würdest gern erfahren, dass Matts Operation gut verlaufen ist. Die Chirurgen sagen, dass er nicht durchgekommen wäre, wenn er noch mehr Blut verloren hätte. Du bist also die Heldin der Stunde.“
„Der Held ist Ryan.“ Offenbar war Lexi zu dem Schluss gekommen, dass die Nachteile des Heldentums die Vorteile überwogen. Sie schob ihr iPod in die Hosentasche und schlenderte zur Tür. „Ich treffe mich mit Fraser am Strand. Und bevor du mich dazu aufforderst: Nein, ich trage diese Socken nicht!“
„Du kannst sie im Winter anziehen.“
„Gibt es eine Chance, dass wir nach London zurückziehen, bevor es kalt genug dafür ist?“, maulte sie, bevor sie ihre Mutter mit einem breiten Grinsen umarmte. „Kleiner Scherz, Mum. Und was hast du heute noch vor?“
„Nichts besonders. Vielleicht mache ich einen Spaziergang.“
Zum Leuchtturm, fügte sie in Gedanken hinzu.
Es war Zeit, Ryan mitzuteilen, dass ihre Beziehung zu Ende war.
Ryan stand an den Klippen und starrte aufs Meer hinaus, als er das leise Knirschen von Schritten auf dem Weg hörte. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Jenna war. Und er kannte auch den Grund ihres Kommens.
Er drehte sich zu ihr um. „Ich hatte nicht erwartet, dass du heute vorbeikommst. Ich nahm an, du ruhst dich aus. Darum habe ich auch angerufen, anstatt persönlich aufzutauchen.“
Sie trug Jeans, und ihr Haar wehte im Wind. Sie sah aus wie ein junges Mädchen, nicht wie eine Mutter. „Lexi ist spazieren gegangen, und ich muss mit dir reden.“
Ryan spürte den Impuls, sie mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen. Er wollte nicht, dass sie die Worte aussprach, die fast greifbar in der Luft lagen. Aber was hätte das geändert? Verleugnung hatte noch nie etwas gebracht.
„Wie geht es euch nach gestern? Habt ihr irgendwelche Krankheitssymptome?“
„Keine, die ein heißes Bad nicht kurieren könnte. Ryan …“
„Ich weiß, was du mir sagen willst, Jenna.“
„Tust du das?“
„Du willst es beenden, nicht wahr?“
Sie schwieg so lange, dass er sich schon fragte, ob er sich getäuscht hatte. Dann gab sie einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Seufzen und Schluchzen lag.
„Ja“, bestätigte sie leise. „Nicht, weil ich es will, sondern weil mir keine andere Wahl bleibt. Ich muss an Lexi denken. Sie hat schon schwer unter Clives Egoismus gelitten. Wenn ich jetzt auch noch mein Glück über ihres stelle, wird sie glauben, dass sie niemandem etwas bedeutet. Gestern auf dem Felsen hat sie mir gesagt, wie sehr sie es liebt, dass es nur uns beide gibt. Ich bin ihr Ruhepol. Das Einzige, was sich in ihrem Leben nicht verändert hat und was ihr Sicherheit gibt. Ich kann und will das nicht bedrohen.“
„Natürlich nicht.“ Ryan fühlte sich wie betäubt und seltsam losgelöst. „Du weißt, dass ich dich liebe, oder?“
„Ja. Ich liebe dich auch, und das ist der andere Grund, warum ich keine Beziehung mit dir eingehen kann. Du willst Kinder, und selbst wenn Lexi unsere Beziehung mit der Zeit akzeptieren würde und ich noch einmal schwanger werden könnte, kann ich ihr das nicht antun. Sie würde sich aufs Abstellgleis geschoben fühlen …“ Jenna hielt inne und legte ihm ihre bebende Hand auf den Arm. „Aber was rede ich da? Ich fasele von Kindern und einer gemeinsamen Zukunft, dabei hast du nie gesagt, dass du das überhaupt willst.“
„Ich will dich.“ Wenn es irgendetwas gab, was Ryan mit Sicherheit sagen konnte, dann war es das. „Hast du mit Lexi darüber gesprochen?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Vielleicht solltest du das.“ Ryan merkte, dass er nicht bereit war, sie einfach kampflos aufzugeben. Von einer inneren Macht getrieben, die stärker war als alles andere, küsste er sie mit einer Leidenschaft, die an Verzweiflung grenzte. Als er ihre salzigen Tränen auf der Zunge schmeckte, fragte er sich, ob er durch diesen Kuss nicht alles noch schlimmer für sie machte.
Abrupt löste er sich von ihr und sah sie schuldbewusst an. „Tut mir leid. Das war nicht fair.“
„Nein, du hast nichts falsch gemacht, Ryan.“ Jenna wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange. „Aber wir sind erwachsen, und Lexi ist noch ein Kind. Der Verrat ihres Vaters war furchtbar für sie. Ich würde alles tun, um das zu ändern, aber ich kann es nicht. Ich kann nur versuchen, sie nicht noch tiefer zu verletzen …“ Ihre Stimme brach. „Sie … ist noch nicht so weit, um einen neuen Mann im Leben ihrer Mutter zu verkraften.“
„Heißt das, dass du nie wieder eine Beziehung haben wirst, um Lexi zu schonen?“
„Vielleicht eines Tages, aber noch nicht jetzt. Es ist einfach zu früh. Ich könnte unsere Beziehung weiter vor ihr verheimlichen, aber das will ich nicht. Wir verdienen etwas Besseres, als eine Lüge zu leben.“ Kopfschüttelnd sah sie ihn an. „Das ist doch lächerlich, oder? Ich bin dreiunddreißig und benehme mich wie eine Siebzehnjährige. Ich hätte das nie anfangen sollen … dich nie so verletzen dürfen.“
„Du warst immer ehrlich mit mir, und mehr verlange ich nicht.“
Die Hoffnungslosigkeit der Situation machte den Moment noch intensiver. Sie küssten sich mit einer Gier, als wäre es das Letzte, was sie in ihrem Leben taten. Wie von Sinnen sanken sie ins Gras und liebten sich in dem schmerzhaften Bewusstsein, dass dies der endgültige Abschied von einer Liebe war, die gerade erst begonnen hatte.
Danach lagen sie still im Gras, denn es gab nichts mehr zu sagen.
Als Jenna aufstand und ging, hielt Ryan sie nicht auf.
Am nächsten Tag kam Jenna eine halbe Stunde zu spät, weil sie alle paar Meter von jemandem angesprochen wurde, der sie über ihr Abenteuer am Devil’s Jaws ausfragen oder ihr den neuesten Klatsch erzählen wollte. Sie antwortete wie fremdgesteuert, während ihre Gedanken unaufhörlich um Ryan kreisten.
„Vielen Dank, das ist wirklich nett von Ihnen.“
„Ja, es geht uns gut.“
„Nein, zum Glück hat niemand einen bleibenden Schaden davongetragen.“
Die Fassade aufrecht zu halten, war so kräftezehrend, dass es wie eine Befreiung war, als sie endlich die gläserne Eingangstür der Praxis aufstieß. Sie eilte durch den Empfang und wurde stürmisch von einer Frau in die Arme gerissen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
„Schwester Jenna, wie kann ich Ihnen nur danken?“
„Ich …“ Hilfesuchend blickte Jenna zum Empfangstresen und begegnete Janets amüsiertem Blick.
„Das ist Pam, Matts Tante. Es gibt auf der Insel vier davon. Du solltest dich also auf weitere Überfälle einstellen.“ Janet reichte einer Patientin ein Rezept und griff mit der anderen Hand nach dem Telefon. „Übrigens wartet schon eine Horde Menschen auf dich, Jenna.“
Matts Tante umklammerte immer noch ihren Arm. „Es ist Ihrem Mädchen zu verdanken, dass unser Junge noch lebt. Ich hörte, dass sie zu ihm hinuntergeklettert ist und Sie ihr an einem Seil gefolgt sind.“
„Lexi war sehr mutig, das stimmt, und ich bin sehr stolz auf sie. Dr. McKinley hat ebenfalls Großartiges geleistet, aber ich selbst habe gar nichts getan.“ Verlegen über den Wirbel um ihre Person löste Jenna sich aus dem Griff der Frau, doch als sie das Wartezimmer betrat, ging der Rummel erneut los.
„Unglaublich, dass Sie sich an einem Seil hinuntergelassen haben …“
„Ist Lexi wirklich ohne Hilfe da hinuntergestiegen?“
„Wer immer behauptet, dass Teenager zu nichts nütze sind, hat nie einen aus Glenmore kennengelernt.“
„Jaja, der Devil’s Jaws … da gab es mehr Tote als irgendwo sonst auf der Insel.“
Jenna dröhnte der Kopf. „Ich bin einfach nur froh, dass Matt wieder in Ordnung kommt“, sagte sie und machte eine entschuldigende Handbewegung. „Es tut mir leid, dass ich so spät bin. Wenn Sie bitte alle etwas Geduld haben würden.“
„Machen Sie sich darüber keine Sorgen.“ Kate Green, der der Souvenirladen am Hafen gehörte, lächelte ihr herzlich zu. „Ein bisschen Warten wird uns nicht umbringen. Können wir irgendetwas tun, um zu helfen? Wir stellen gerade einen Rotationsplan auf, um Matts Familie mit Essen zu versorgen, wenn sie vom Festland zurückkehrt. Sie sollte sich jetzt nicht mit solchen Dingen belasten.“
Jenna blickte in die Runde. Sah die freundlichen Gesichter, die ihren Eifer ausdrückten, einander in einer Krise zu unterstützen. In ihrem alten Job in London hatten sich die Patienten schon beschwert, wenn sie länger als zehn Minuten warten mussten. Jeder lebte in seiner eigenen Parallelwelt, während auf Glenmore die Leben miteinander verflochten waren. Man achtete aufeinander, statt stur geradeaus zu schauen. Bemerkte es, wenn mit jemandem etwas nicht stimmte. Und half.
Jemand reichte ihr etwas.
„Meine Mum dachte, Sie hätten vielleicht keine Zeit fürs Frühstück gehabt, darum hat sie die für Sie gemacht.“
Jenna blickte in die Tüte, die ihr das kleine Mädchen gegeben hatte. Der Anblick der frisch gebackenen Muffins gab ihr den Rest. Unfähig, dem Ausmaß an Güte und liebevoller Aufmerksamkeit noch länger standzuhalten, brach sie in Tränen aus.
„Na, na, wer wird denn deswegen gleich weinen …“ Wie eine besorgte Mutterhenne führte Kate Green sie zum nächsten Stuhl.
„Das sind die Nachwirkungen des Schocks“, meinte eine Patientin. „Schließlich war es ihr Kind, das sein Leben für Matt riskiert hat. So etwas würde jede Mutter erschüttern.“
„Das ist wahr“, stimmte eine andere ihr zu. „Die ganze Aufregung muss sie völlig erschöpft haben.“
„Es tut mir so leid …“ Jenna versuchte verzweifelt, die Fassung wiederzugewinnen, und kramte auf der Suche nach einem Taschentuch in ihrer Tasche. Eine Sekunde später wurde ihr eins in die Hand gedrückt. „Geben Sie mir einfach eine Minute Zeit. Ich bin nur gerade etwas …“
Oh Gott, sie stand kurz vor einem Zusammenbruch! Mitten in dem überfüllten Wartezimmer voller netter, fürsorglicher Menschen.
Von Janet alarmiert, kam Evanna aus ihrem Behandlungszimmer. „Jenna! Bist du okay?“
Jenna schnäuzte sich und lächelte unter Tränen. „Ja. Ich benehme mich nur gerade wie ein Kleinkind. Dabei liege ich schon weit hinter meinem Terminplan zurück.“
„Dann kann es jetzt vielleicht endlich losgehen? Ich bin die Nächste.“ Mrs. Parkers scharfe Stimme durchschnitt wie eine Sense das mitfühlende Palaver. „Dies ist weder das erste noch das letzte Drama, das wir auf Glenmore hatten, und ich bin zu alt, um ewig auf diesem unbequemen Stuhl herumzusitzen.“
Alle verstummten betroffen. Die Empörung über den gefühllosen Kommentar lag deutlich spürbar in der Luft. Selbst die sanfte Evanna knirschte mit den Zähnen, aber Jenna war einfach nur dankbar, dass der „Drache von Glenmore“ diesen Zirkus so resolut beendet hatte.
„Natürlich, Mrs. Parker“, sagte sie und stand auf. „Bitte kommen Sie mit mir.“ Sie blickte noch einmal in die Runde und versprach, so schnell zu arbeiten, wie sie konnte.
Als Jenna ihrer Patientin, die bereits forsch vorangegangen war, über den Korridor zum Behandlungszimmer folgte, machte sie sich auf eine Strafpredigt gefasst.
Stattdessen bekam sie eine Umarmung. „Diese Leute denken, Sie würden helfen, dabei machen sie mit ihrer Aufdringlichkeit alles noch schlimmer, habe ich recht?“ Mrs. Parkers Stimme schwankte leicht. „Ich verbringe schon mein ganzes Leben hier, und es gab Zeiten, da hätte ich sie alle umbringen können. Sie müssen sich fühlen wie ein Stück Brot, um dass sich ein ganzer Schwarm Möwen zankt.“ Mit einem kurzen Schnauben ließ sie Jenna, die plötzlich einen dicken Kloß im Hals hatte, wieder los.
„Ach, Mrs. Parker …“
„Jetzt werden Sie mir bloß nicht wieder sentimental, junge Frau.“ Mrs. Parker ließ sich auf dem Behandlungsstuhl nieder. „Das mag in bestimmten Momenten in Ordnung sein, aber es löst keine Probleme. Ich vermute, Ihre Tränen haben weder etwas mit Ihrer tollkühnen Rettungsaktion noch mit Schlafmangel zu tun. Wollen Sie darüber reden?“
Jenna putzte sich erneut die Nase. „Ich sollte jetzt besser Ihren Verband wechseln.“
„Sie sind eine patente Frau. Wollen Sie mir weismachen, dass Sie nicht reden und gleichzeitig einen Verband wechseln können?“
Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wusch Jenna sich die Hände und legte die Utensilien auf den Instrumententisch. „Es ist nur eine Reaktion auf gestern, da bin ich sicher. Ich bin etwas erschöpft, aber mehr ist wirklich nicht.“
„Ich bin eine alte Frau, aber nicht so alt, dass ich vergessen hätte, wie es ist, von einem Mann aus der Bahn geworfen zu werden. Sie sind als alleinstehende Mutter hierhergekommen, und ich vermute, dass Sie gerade darüber nachdenken, diesen Zustand zu beenden.“
Jennas Hände zitterten, als sie den alten Verband abnahm. „Nein, ganz sicher nicht. Lexi und ich sind ein eingespieltes Team.“
„Dann lassen Sie also einen starken, beeindruckenden Mann wie Dr. McKinley einfach laufen?“
Jenna wollte es gerade abstreiten, doch dann begriff sie, dass es zwecklos wäre. „Weiß es denn jeder?“
Mrs. Parker seufzte. „Natürlich. Dies ist Glenmore. Was wir nicht wissen, ist, warum Sie nicht einfach einen Termin in der Kirche reservieren. Pfarrer King würde Sie sehr gern trauen, auch wenn Sie geschieden sind. Das hat er mir ausdrücklich bestätigt.“
„Sie haben …“ Jenna schnappte nach Luft. „Aber Sie können doch nicht einfach …“
„Sie haben eine Tochter. Da ist es wichtig, für einen respektablen Rahmen zu sorgen. Eine gescheiterte Ehe sollte sie nicht davon abhalten, es noch einmal zu versuchen.“ Als Jenna etwas einwenden wollte, musterte Mrs. Parker sie scharf. „Was denn? Finden Sie es etwa richtig, wenn Ihre Tochter glaubt, es wäre in Ordnung, mit jedem herumzupoussieren, der einem gefällt? Sie müssen ihr mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn Sie Dr. McKinley genug mögen, um sich mit ihm in seinem Bett zu vergnügen, mögen Sie ihn auch genug, um ihn zu heiraten. Sie sollten Ihre Antwort parat haben, wenn er Ihnen einen Antrag macht.“
„Sie würde Nein lauten.“
Mrs. Parker erwiderte ihren Blick mit ungewohnt sanfter Miene. „Da wir jetzt seit fast zwei Monaten zusammen Tee trinken, wären Sie vielleicht so nett, mir eines zu erklären: Warum sagen Sie Nein zu einem Mann, für den die meisten Frauen töten würden?“
Jenna spürte, dass sie mit jemandem reden musste, und Mrs. Parker hatte sich im Lauf ihrer Bekanntschaft als erstaunlich gute Zuhörerin erwiesen. „Es ist wegen Lexi“, sagte sie leise, und dann brach alles aus ihr heraus. Ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Befürchtungen … einfach alles.
Mrs. Parker unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Erst als Jenna fertig war, faltete sie die Hände im Schoß und sah sie mit einem Blick an, in dem sich die Weisheit des Alters spiegelte. „Haben Sie die Absicht, Ihre Tochter vor allem zu schützen, was das Leben an sie heranträgt?“
„Nein, natürlich nicht. Das könnte ich auch gar nicht. Aber ich liebe sie, und ich möchte, dass sie glücklich ist.“
„Ist es Ihnen je in den Sinn gekommen, dass es ihr gefallen könnte, wieder einen Mann im Haus zu haben?“
„Ich denke, das würde sie eher verstören.“ Jenna deutete auf ihr Bein. „Ist der Verband bequem?“
Mrs. Parker stand vom Behandlungsstuhl auf und verlagerte ihr Gewicht auf das kranke Bein. „Er ist perfekt wie immer.“ Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie wie gewohnt auf dem Boden abgestellt hatte. „Sie sind nicht die Einzige, die lieben kann, wissen Sie? Und wenn Liebe bedeutet, dass man sich das Glück des anderen wünscht, sollten Sie zur Abwechslung auch einmal Lexi die Chance dazu geben.“
„Mrs. Parker, ich …“
„Denken Sie einfach darüber nach. Ich würde es sehr bedauern zusehen zu müssen, wie Sie sich von etwas abwenden, was einem im Leben nicht allzu oft passiert. Ich schicke jetzt den nächsten Patienten herein, wenn Sie einverstanden sind.“ An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Ehe ich es vergesse – mir ist zufällig bekannt, dass Pfarrer King im Dezember noch einen freien Termin hat. Meiner Ansicht nach sind Winterhochzeiten die romantischsten. Und ich erwarte eine Einladung. Ich habe nämlich einen sehr schönen Mantel und hatte in den letzten zwanzig Jahren keine Gelegenheit, ihn zu tragen.“
„Er hat sich in irgendwas Ekligem gewälzt, und jetzt stinkt er wie die Pest. Hey, Mum, hörst du mir überhaupt zu? Der Hund stinkt!“ Stirnrunzelnd nahm Lexi eine Tüte Kartoffelchips aus dem Schrank und wedelte damit vor Jennas Nase herum. „Junkfood-Alarm, Mrs. Richards! Höchste Zeit, an Ihrer Tochter herumzunörgeln!“
Mit den Gedanken meilenweit weg, starrte Jenna aus dem Fenster. Wie sollte sie das, was sie zu sagen hatte, am besten formulieren?
Lexi knisterte demonstrativ mit der Tüte. „Vielleicht sollte ich noch ein bisschen Extrasalz darauftun, um sie noch würziger zu machen.“
Jenna zwang sich in die Gegenwart zurück und räusperte sich. „Hör zu, Lexi, ich muss mit dir sprechen. Über etwas … sehr Erwachsenes.“
„Wenn es darum geht, dass du mit Ryan Sex hast, möchte ich lieber keine Details hören.“ Lexis Hand verschwand in der Chipstüte. „Ich meine, ich liebe dich und finde es gut, dass wir über alles reden, aber dieses Thema sollten wir besser auslassen. Das wäre mir irgendwie zu krass.“
Jenna war wie vor den Kopf geschlagen. „Du …“
„Versteh mich nicht falsch, Mum. Ich hab kein Problem damit.“ Lexi knabberte grinsend an dem Chip, den sie aus der Tüte gefischt hatte. „Es freut mich sogar, dass du in deinem Alter noch ein bisschen Spaß hast. Aber gewisse Dinge will eine Tochter einfach nicht wissen.“
Jenna bewegte die Lippen, aber es kam kein Ton heraus.
Lexi sah aus dem Fenster. „Du solltest dich jetzt besser zusammenreißen, Mum. Dein Loverboy kommt nämlich gerade den Gartenweg hoch. Ich lass ihn mal rein, okay?“ Sie ging zur Tür. „Gut, dass Sie kommen, Ryan, meine Mutter braucht dringend einen Arzt. Ich habe vor ihren Augen eine halbe Tonne Kartoffelchips verspeist, und sie hat nicht mal mit der Wimper gezuckt. Normalerweise wäre sie ausgeflippt und hätte mir einen Vortrag über die Schäden gehalten, die zu viel Salz und Fett anrichten. Da stimmt doch was nicht, oder was meinen Sie?“
„Vielleicht solltest du uns kurz allein lassen“, schlug Ryan vor, aber davon wollte Lexi nichts wissen.
„Kommt nicht infrage“, sagte sie und warf sich auf einen Stuhl. „Ich habe nämlich keine Lust mehr, immer die Letzte zu sein, die erfährt, was hier abgeht. Wenn Sie mich loswerden wollen, müssen Sie mich schon mit einem Fußtritt vor die Tür befördern, und das wäre Gewalt an Kindern.“
Um Ryans Mundwinkel zuckte es. „Ich schätze, das wäre kein guter Start für unsere Beziehung.“
Lexi sah ihn nachdenklich an. „Sie stehen auf meine Mum, stimmt’s?“
„Alexandra!“ Jenna, die schlagartig wieder zu sich gekommen war, bedachte ihre Tochter mit einem entsetzten Blick.
„Für Erziehungsmaßnahmen ist es zu spät, Mum. Ich habe mir den Bauch bereits mit Chips vollgeschlagen.“ Lexi verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Ryan herausfordernd. „Es wäre cool, zur Abwechslung mal eine klare Antwort zu bekommen. Ich weiß, dass Sie scharf auf meine Mutter sind. Es ist also zwecklos, es abzustreiten.“
„Ich würde es nicht ganz so beschreiben“, erwiderte Ryan vorsichtig.
Jenna schlug das Herz bis zum Hals, aber Lexi ließ nicht locker.
„Wie würden Sie es denn beschreiben?“, hakte sie unerbittlich nach.
„Ich liebe deine Mutter.“ Ryan sagte es ganz ruhig und ohne jede Verlegenheit. „Ich liebe sie sogar sehr, aber die Situation ist kompliziert.“
„Was soll denn kompliziert daran sein? Sie ist geschieden und Sie …“ Lexi runzelte die Stirn. „Sie sind doch wohl hoffentlich nicht verheiratet?“
„Nein. Ich bin ebenfalls geschieden.“
„Dann verstehe ich nicht, wo das Problem liegt.“
Ryan setzte sich zu ihr an den Tisch. „Das Problem ist, dass ich mir nicht ganz klar über den Ablauf bin. Wie stellt man es an, wenn man Teil einer bereits existierenden Familie werden möchte. Sollte man zuerst der Frau oder der Tochter einen Heiratsantrag machen?“
„Bei mir können Sie sich die Mühe sparen“, erwiderte Lexi lässig. „Sie sind vielleicht ein heißer Typ, aber viel zu alt für mich. Wie alt sind Sie eigentlich genau?“
„Sechsunddreißig.“
Lexi erschauerte dramatisch. „Oh Gott, Sie würden ja sterben, wenn ich noch in der Blüte meines Lebens stehe. Obwohl … wenn ich genau darüber nachdenke, könnte das auch seine guten Seiten haben. Sind Sie reich?“
„Lexi!“, protestierte Jenna erneut, doch dieses Mal hatte ihre Stimme wieder Kraft. „Ryans finanzielle Situation geht dich gar nichts an.“
„Tatsächlich kann ich nicht über finanzielle Probleme klagen“, beantwortete Ryan Lexis Frage. „Warum ist das wichtig für dich? Denkst du über Bestechung nach?“
„Wieso nicht? Ich bin ein Teenager und muss für mein Erwachsenendasein üben. Die Kunst der Verhandlung ist eine wichtige Fähigkeit im Leben.“ Lexi nahm sich eine Weintraube aus der Obstschale und steckte sie in den Mund. „In welcher Größenordnung bewegt sich denn das Schmiergeld, über das wir gerade reden? Könnte ich mir einen pinkfarbenen Porsche leisten, wenn ich Ihnen erlaube, meine Mum zu heiraten?“
Ryan verzog das Gesicht. „Nein, bitte kein Pink!“
Ungläubig verfolgte Jenna den bizarren Dialog zwischen den beiden. „Könnten wir jetzt vielleicht mal vernünftig miteinander reden?“, meldete sie sich zu Wort.
„Das tun wir bereits.“ Lexi musterte Ryan. „Was für Musik mögen Sie?“
„Mein Geschmack ist sehr vielseitig.“
„Soll das heißen, dass Sie alles abnicken, was ich höre, um sich bei mir einzuschmeicheln?“
„Nein. Aber ich bin sicher, dass wir die eine oder andere Gemeinsamkeit entdecken würden.“
„Wenn ich Sie Mum heiraten lasse … bringen Sie mir dann das Klettern bei?“
Jenna wurde ganz schwach. „Lexi … Ryan … um Himmels willen!“
„Ich sehe nichts, was dagegenspräche.“
„Und Surfen?“
„Warum nicht? Es war ziemlich beeindruckend, wie du auf den rutschigen Felsen das Gleichgewicht gehalten hast. Und es scheint dir auch nichts auszumachen, mal von einer Welle überschwemmt zu werden.“
„Und Sie versprechen, mir nicht vorzuschreiben, wann ich ins Bett gehen soll, und nerven mich auch nicht mit Ernährungsratschlägen?“
„Ich wüsste nicht, warum ich dir da irgendwelche Vorschriften machen sollte.“
Lexi fummelte an den Autoschlüsseln herum, die Ryan auf dem Küchentisch abgelegt hatte. „Muss ich Sie dann Dad nennen?“
Er zuckte lässig mit den breiten Schultern. „Du kannst mich nennen, wie du willst.“
„Hm … Ich habe nie darüber nachgedacht, wie es wäre, einen neuen Vater zu haben …“
Ein längeres Schweigen trat ein. Schließlich ergriff Ryan das Wort. „Wie wäre es mit einem neuen Freund?“
Langsam breitete sich ein Lächeln auf Lexis Gesicht aus. „Dagegen hätte ich nichts einzuwenden“, meinte sie und stand auf. „Und jetzt lasse ich euch allein. Ich möchte nämlich nicht danebensitzen, wenn Sie meine Mutter küssen. Das wäre bei aller Toleranz etwas viel verlangt. Ich werde mit Rebel an den Strand gehen und ihm dieses Zeug herunterwaschen, mit dem er sich das Fell verklebt hat. Es sieht ziemlich zäh aus, bestimmt brauche ich mindestens zwei Stunden, um ihn sauber zu bekommen. Also dann …“
Mit einem übermütigen Grinsen schnappte sie sich die Hundeleine und ging zu Jenna. „Sag Ja, Mum. Du weißt, dass du es willst.“ Über die Schulter hinweg warf sie Ryan einen Blick zu. „Und er ist echt cool für sein Alter. Ich glaube, wir werden gut zurechtkommen.“
Jenna fand nur mit Mühe ihre Stimme. „Lex …“
„Bald bist du zu alt, um noch ein Baby zu bekommen, also solltest du keine Zeit mehr verschwenden“, riet Lexi ihr und küsste sie auf die Wange.
„Lexi, wir werden nicht …“
„Ich hoffe, ihr werdet. Denk nur mal an das viele Geld, das ich mit Babysitten verdienen kann. Also dann, bis später.“ Noch ein kurzes Winken, dann war sie weg.
Jenna öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
Ryan stand auf und ging zu ihr. „Ich hatte heute Morgen einen unerwarteten Besucher.“
„Ach ja? Wer war es denn?“
„Pfarrer King.“ In seinen Augen lag ein belustigtes Funkeln. „Er wollte wissen, wann genau wir die Kirche am Heiligabend mieten wollen. Offenbar liegt bereits eine vorläufige Reservierung auf deinen Namen vor. Er schlug den Vormittag vor, sodass danach die ganze Insel auf unsere Kosten zu Mittag essen kann. Ich habe mich gefragt, was du davon hältst.“
Jenna blickte durchs Küchenfenster und beobachtete, wie Lexi Rebel an die Leine nahm und das Gartentor öffnete, um mit ihm an den Strand zu gehen. „Ich denke, dass das Leben einen immer wieder überrascht“, sagte sie heiser. „Kaum glaubt man, dass alles schiefgelaufen ist, stellt sich heraus, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Außerdem denke ich, dass ich sehr glücklich bin. Und du?“
Ryan umfasste ihre Schultern und drehte sie zu sich um. „Ich denke, dass wir nur zwei Stunden haben, bevor Lexi zurückkommt. Das ist nicht viel Zeit, besonders wenn wir noch ein Baby produzieren wollen, bevor wir beide zu alt dazu sind.“
Jenna lachte unter Tränen und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Und was, wenn es nicht klappt? Wenn ich tatsächlich schon zu alt dazu bin und dir deinen Traum von einer Familie nicht erfüllen kann?“
Zärtlich umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen. „Heirate mich, und du hast mir genau die Familie gegeben, die ich brauche.“
„Aber …“
„Manchmal weiß man am Anfang einer Reise noch nicht, wohin sie einen führt“, sagte er sanft und lehnte seine Stirn gegen ihre. „Manchmal haben wir nicht alle Antworten. Ich weiß nicht, was die Zukunft für uns bereithält, aber ich weiß, dass wir sie zusammen meistern werden. Du und Lexi und ich. Und Rebel, natürlich.“
„Ja“, antwortete sie heiser und hob den Kopf, um in seine hinreißenden blauen Augen zu schauen. „Das klingt gut für mich.“
– ENDE –