„Normalerweise macht das immer Schwester Evanna. Sie weiß genau, wie mein Bein zu behandeln ist.“
Kann es noch schlimmer werden? fragte Jenna sich, als sie Mrs. Parkers Krankenblatt auf dem Computer aufrief. Nicht nur, dass ihre Tochter wütend auf sie war, auch die Patienten schienen sie nicht zu wollen. Und nach der peinlichen Szene an der Fähre war davon auszugehen, dass Dr. McKinley ihre Einstellung inzwischen ebenfalls bereute.
Sie konnte noch immer nicht fassen, dass ein einziger Blick in seine eisblauen Augen genügt hatte, um sie an Sex denken zu lassen. An Sex – man stelle sich das einmal vor! Als ob sie keine anderen Probleme hätte. Bei dem Gedanken, er könnte es ihr angesehen haben, krümmte Jenna sich innerlich zusammen.
Bestimmt hatte er es bemerkt.
Warum sonst hätte er sie so anstarren sollen?
Was mochte er in dem Moment wohl empfunden haben? Mitleid mit einer verzweifelt bedürftigen Alleinerziehenden, die seit einer Ewigkeit keinen Mann mehr gehabt hatte? Vermutlich legte er sich gerade eine passende Strategie zurecht, um sie sich vom Leib zu halten.
Sie musste ihm unbedingt klarmachen, dass sie nichts von ihm wollte. Dass eine Beziehung mit einem Mann das Letzte war, was zurzeit auf ihrer Wunschliste stand. Nur war dies nicht der geeignete Moment, um darüber nachzudenken.
„Ich verstehe, dass es verunsichernd ist, von einer fremden Person behandelt zu werden, Mrs. Parker.“ Jenna schob jeden Gedanken an Ryan McKinley beiseite und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Patientin. „Aber Schwester Evanna hat mir genaue Anweisungen gegeben. Wenn Sie den Eindruck haben, dass ich irgendetwas anders mache oder etwas tue, was Sie beunruhigt, können Sie es mir jederzeit sagen.“
„Sie haben eine Tochter im Teenageralter, habe ich gehört.“ Mrs. Parker stellte ihre Tasche auf dem Boden ab und schlüpfte aus den Schuhen. Ihre Strümpfe hatten die Farbe von dunklem Tee und ringelten sich leicht um ihre Knöchel.
Jenna ging zum Materialschrank, überprüfte mit raschem Blick den Bestand an Verbänden und nahm ein versiegeltes Päckchen heraus. „Neuigkeiten scheinen sich hier schnell zu verbreiten“, bemerkte sie und versuchte, dabei möglichst gelassen zu klingen. „Ich bin erst vor einer halben Stunde angekommen.“
„Auf Glenmore ist es schwierig, etwas geheim zu halten. Wir sind eine eng verbundene Gemeinschaft.“
„Genau darum bin ich hergekommen, Mrs. Parker.“ Jenna legte das Verbandspäckchen auf dem Instrumententisch ab und half der Frau auf den Behandlungsstuhl. „Ich schätze gute Nachbarschaft, und Geheimnisse habe ich nicht.“
„Wird Ihr Mann ebenfalls hierherziehen?“
„Ich bin nicht mehr verheiratet, Mrs. Parker.“ Jenna wickelte den alten Verband ab und fragte sich, warum sie sich bei diesem Satz wie eine Versagerin fühlte.
Als wollte sie die Empfindung noch verstärken, kniff Mrs. Parker missbilligend die Lippen zusammen. „Ich war zweiundfünfzig Jahre lang verheiratet. Zu meiner Zeit hat man seine Differenzen noch miteinander ausgetragen, anstatt einfach das Handtuch zu werfen.“
Na großartig! Eine Moralpredigt war genau das, was ihr noch gefehlt hatte.
„Ich bewundere Sie für Ihre Standhaftigkeit, Mrs. Parker. Wenn es in Ordnung für Sie ist, messe ich jetzt Ihren Blutdruck.“
„Warum das denn?“ Die alte Dame kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Ich bin doch nur gekommen, um meinen Verband wechseln zu lassen.“
„Ich weiß“, erwiderte Jenna ruhig. „Aber es ist wichtig, alle sechs Monate den Blutdruck zu überprüfen, und wie ich Ihrem Krankenblatt entnehme, ist das schon seit einer Weile nicht mehr geschehen.“
„Mag sein, aber ich verstehe trotzdem nicht, was mein Blutdruck mit dem Geschwür an meinem Bein zu tun haben soll.“
„Manchmal sind nicht venöse Probleme, sondern eine schlechte Durchblutung die Ursache dafür“, erklärte Jenna geduldig. „Darum möchte ich nicht nur an Ihrem Arm, sondern auch an Ihrem Knöchel eine Messung durchführen.“
Mrs. Parkers Argwohn legte sich etwas. „Also gut. Sie scheinen ja zu wissen, was Sie tun. Aber es muss schnell gehen, schließlich habe ich nicht den ganzen Tag Zeit.“
Jenna maß den Blutdruck. Du hast gewusst, dass es nicht leicht sein wird, erinnerte sie sich. Nicht für dich, und auch nicht für Lexi.
„Ihrem Aussehen nach zu schließen, müssen Sie noch zur Schule gegangen sein, als Sie schwanger wurden.“ Mrs. Parker schürzte die Lippen. „Nun ja, schließlich machen wir alle Fehler in unserem Leben.“
Jenna gab Datum, Uhrzeit und die gemessenen Werte in den PC ein, bevor sie antwortete. „Ich betrachte meine Tochter nicht als Fehler, Mrs. Parker.“
Es folgte ein Moment des Schweigens, dann lachte die alte Dame leise. „Sie haben den Mumm, für sich einzustehen. Das gefällt mir. Ich frage mich nur, was eine aufgeweckte junge Frau wie Sie auf unsere einsame Insel verschlagen hat. Sie könnten doch sicher in einer schicken Praxis in der Stadt arbeiten. Oder laufen Sie vor etwas davon?“
Jenna, der klar war, dass alles, was sie dieser Frau erzählte, bis zur Mittagszeit auf der ganzen Insel herum sein würde, entschied sich für eine zensierte Version der Wahrheit. „Meine Ehe war zu Ende“, sagte sie. „Ich brauchte eine Veränderung, und diese Praxis hat dank Dr. McNeil einen sehr guten Ruf.“
„Ja, er ist sehr fähig“, bestätigte Mrs. Parker. „Dr. McKinley natürlich auch, aber wir wissen alle, dass er nicht lange bleiben wird. Er ist ein Karrieretyp und war früher mal einer von diesen überbezahlten Notfallspezialisten.“
Ryan McKinley war Notfallarzt?
„Wie lange lebt er denn schon hier?“, fragte Jenna entgeistert.
„Er kam vor zwei Jahren und kaufte den alten Leuchtturm. Es gab auch vorher schon Interessenten, doch wegen der isolierten Lage sind sie am Ende alle abgesprungen. Ewan Kinaird hatte schon die Hoffnung aufgegeben, das Ding jemals loszuwerden, aber für Dr. McKinley schien es genau das Richtige zu sein. Im ersten Jahr haben wir ihn nur zu Gesicht bekommen, wenn er im Dorf seine Lebensmittel einkaufte. Immer allein und mit grimmigem Gesicht. Manche halten ihn einfach nur für ungesellig, andere glauben, er erholt sich von einem Trauma. Wie auch immer, ich habe ihn nicht einmal lächeln sehen.“
Mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Faszination lauschte Jenna Mrs. Parkers Klatschgeschichten. Sie hatte Ryan überhaupt nicht ungesellig gefunden und auch keine Anzeichen für ein Trauma an ihm entdeckt. Er hatte ganz normal mit ihr geredet und auch gelächelt. Andererseits wusste niemand besser als sie, dass ein Lächeln nicht unbedingt ein Ausdruck von Glück und Zufriedenheit sein musste.
„Wie kam es denn dazu, dass er angefangen hat, als Allgemeinmediziner zu arbeiten?“, hakte sie nach. Sie konnte nicht anders. Der Drang, mehr über diesen Mann zu erfahren, war einfach zu groß.
„Das war Schwester Evannas Werk. Sie hat ihn überredet, als Aushilfe einzuspringen, als Dr. McNeils letzter Partner urplötzlich aufs Festland zurückgegangen ist. Sie hatte gerade den kleinen Charlie bekommen, und Logan musste alle Patienten allein behandeln. Es war sehr anständig von Dr. McKinley, in dieser Notlage auszuhelfen. Aber wie gesagt – wir glauben hier alle, dass er schon bald wieder irgendeinen hochfliegenden Job annehmen wird.“ Mrs. Parker musterte stirnrunzelnd ihr Bein. „Ich für mein Teil würde das bedauern, auch wenn viele hier ihn immer noch für kalt und unfreundlich halten. Aber er ist trotz seiner reservierten Art immer für seine Patienten da.“
Kalt und unfreundlich? Diesen Eindruck hatte Jenna überhaupt nicht von ihm gehabt. Er war erschöpft gewesen. Vielleicht auch etwas distanziert und wachsam, aber keinesfalls kalt und unfreundlich.
„So, nun werde ich mir Ihr Bein einmal genau ansehen …“ Entschlossen, keinen weiteren Gedanken an Ryan McKinley zuzulassen, wusch Jenna sich die Hände und öffnete das Verbandspäckchen. „Ihr Blutdruck ist gut. Wie lange haben Sie dieses Geschwür schon, Mrs. Parker?“
„Letzten Sommer fing es an und verschwand dann wieder. Aber jetzt ist es zurückgekommen.“
„Tragen Sie die regelmäßig?“ Jenna deutete auf die dunklen Stützstrümpfe, die ordentlich zusammengerollt auf einem Stuhl lagen.
„Nicht so regelmäßig, wie ich sollte.“
„Ja, ich weiß. Sie sind nicht sehr bequem.“ Jenna säuberte die Wunde und begutachtete sie eingehend. „Das sieht ziemlich schlimm aus. Sie Ärmste. Haben Sie starke Schmerzen?“
Mrs. Parker seufzte. „Ich bin alt, da hat man immer Schmerzen. Meine Knochen tun jeden Morgen weh, und die harten Winter auf Glenmore machen es auch nicht besser.“
„Sagen Sie mir, wenn ich zu fest wickle“, bat Jenna sie, während sie mit sicheren Bewegungen den Verband anlegte. „Versuchen Sie, das Bein so oft wie möglich hochzulegen, und kommen Sie nächste Woche zum Verbandswechsel wieder. Es kann auch nicht schaden, wenn Sie am Fußende Ihres Betts ein paar Kissen unter die Matratze legen. So kann die gestaute Flüssigkeit besser abfließen, was wiederum die Schwellung reduziert. Können Sie den Knöchel bewegen?“
„Ja. Sie haben es gut gemacht“, gab Mrs. Parker brummig zu. Sie stand auf und zog mit Jennas Hilfe ihre Strümpfe und die Schuhe an. „Der Verband ist wirklich sehr bequem. Aber sagen Sie Schwester Evanna, dass es mir leidtut, sie nicht gesehen zu haben.“
„Das mache ich gern.“
Jenna brachte sie zur Tür und blickte ihr nach, wie sie langsam den Korridor hinunterging. Dann setzte sie sich wieder an den Computer, um das Behandlungsprotokoll abzuschließen. Sie spürte die Erschöpfung in allen Knochen und kam zu dem Schluss, dass es ein Riesenfehler gewesen war, hier anzufangen. Sie hätte einfach eine kleine Wohnung in London kaufen sollen. Dann hätte sie ihren alten Job behalten und Lexi weiter ihre vertraute Schule besuchen können. Stattdessen war sie auf eine winzige Insel gezogen, auf der man ihr mit Argwohn begegnete und jeden ihrer Schritte genauestens registrierte.
Jenna atmete tief durch und ermahnte sich, jetzt nicht die Nerven zu verlieren. Es war absolut verständlich, dass die Leute hier das Bedürfnis hatten, die neue Krankenschwester genau unter die Lupe zu nehmen. Sie musste einfach Geduld haben und sich ihr Vertrauen verdienen.
Oder sollte ich vielleicht doch besser zwei Tickets für die nächste Überfahrt buchen und so schnell wie möglich nach London zurückkehren?
Ratlos und entmutigt ließ Jenna den Kopf in die Hände sinken. Als sie kurz darauf ein Klopfen an der Tür hörte, richtete sie sich hastig wieder auf.
Mit einem schuldbewussten Lächeln auf den Lippen kam Ryan herein. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Wenn ich gewusst hätte, dass Mrs. Parker Ihre erste Patientin ist, hätte ich Sie vorgewarnt. Wie war denn die Feuertaufe?“
Er hatte es inzwischen geschafft, sich zu rasieren und umzuziehen. Statt Jeans und T-Shirt trug er jetzt eine perfekt sitzende schwarze Hose und ein blütenweißes Hemd. In dem kleinen Behandlungszimmer wirkte er mit seiner beeindruckenden Präsenz beinah übermächtig. Plötzlich konnte Jenna ihn sich ohne Probleme als Chefarzt einer hektischen Notfallklinik vorstellen.
Ihre Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. „Es war okay“, erwiderte sie und registrierte erleichtert, dass ihre Stimme völlig normal klang.
Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Na ja, auf jeden Fall leben Sie noch.“
Allerdings. Jennas Herz klopfte so heftig, dass sie sich sogar sehr lebendig fühlte. „So schlimm fand ich Mrs. Parker gar nicht. Wir sind gut miteinander klargekommen.“
„Aber jetzt wollen Sie kündigen“, ergänzte er trocken. „Sie haben erkannt, dass Sie einen Fehler gemacht haben, und würden am liebsten so schnell wie möglich nach London zurückkehren.“
Jenna saß da wie vom Donner gerührt. Wie hatte er bloß so genau erraten, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war?
„Nein“, widersprach sie ihm heftiger als beabsichtigt. „Ich habe nicht die geringste Absicht, meinen Posten jetzt schon zu verlassen.“
Sein Lächeln verschwand, dafür wurde sein Blick umso aufmerksamer. „Ich meinte das als Scherz.“
„Oh …“ Sie errötete. „Natürlich war es nur ein Scherz. Tut mir leid, die Reise hat mich ziemlich erschöpft.“
„Die letzte Schwester hat genau drei Tage durchgehalten. Hat Evanna Ihnen das nicht erzählt?“
„Ich glaube, sie erwähnte so etwas. Aber was mich betrifft, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Ich bin nicht der Typ, der schnell aufgibt. Und Mrs. Parker war wirklich sehr nett.“
„Ich kenne Mrs. Parker, also müssen Sie lügen.“
Es stimmte, sie log. In letzter Zeit schien sie nichts anderes zu tun.
„Mrs. Parker war verunsichert, weil sie von einer neuen Schwester behandelt wurde. Das ist normal, vor allem für eine Frau ihres Alters. Sie mag eben keine Veränderungen, und ich kann das verstehen.“ Um sich der beunruhigenden Wirkung seiner blauen Augen zu entziehen, richtete Jenna den Blick fest auf den Computerbildschirm. Sie fand Veränderungen ebenfalls beängstigend und war einige Jahrzehnte jünger als Mrs. Parker.
„Ihr Bein heilt nur sehr langsam“, bemerkte Ryan.
„Ja, das stimmt“, bestätigte sie. „Ich habe sie zwar heute erst kennengelernt, aber ich wage die Vermutung, dass ein Teil von ihr nicht will, dass es heilt. Sie ist einsam, und ihr Bein gibt ihr einen Grund, herzukommen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.“
„Gut möglich.“ Ryan betrachtete sie nachdenklich. „Dafür, dass Sie wie eine Collegeschülerin aussehen, verfügen Sie über eine Menge Menschenkenntnis.“
Er fand, dass sie wie eine Collegeschülerin aussah? Nachdem Jenna sich daran gewöhnt hatte, sich als langweilige, nicht mehr ganz taufrische geschiedene Mutter zu sehen, löste diese Bemerkung ein seltsames Gefühl in ihr aus.
„Ich interessiere mich für Menschen und die Motive, die sie zu ihrem Verhalten bewegen“, erwiderte sie. „Das ist auch einer der Gründe, warum ich meinen Beruf so mag.“
Dummerweise hatte dieses Interesse in ihrem Privatleben zu keinen erleuchtenden Erkenntnissen geführt. Nicht ein einziges Mal hatte sie auch nur das leiseste Anzeichen für den Betrug ihres Ehemanns bemerkt. Offenbar war sie doch nicht die große Menschenkennerin, für die Ryan sie hielt. Oder hatte sie einfach nicht sehen wollen, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte?
Jenna speicherte Mrs. Parkers Daten und schloss die Datei. Könnte sie mit ihren Gedanken doch nur dasselbe tun! Wenn sie nicht endlich aufhörte, sich ständig die Warum-Frage zu stellen, würde es ihr nie gelingen, mit der Vergangenheit abzuschließen.
„Und was ist mit Ihnen, Dr. McKinley? Warum haben Sie sich für Ihren Beruf entschieden?“ Gespannt erwartete Jenna seine Antwort. Würde er ihr erzählen, dass er in Wahrheit ein verkappter Notfallspezialist war?
Er lehnte sich gegen die Wand, was ihre Aufmerksamkeit zwangsläufig auf seine breiten Schultern lenkte. „Im Augenblick kann ich mich nicht erinnern. Fragen Sie mich noch einmal, wenn ich nicht die halbe Nacht mit Krankenbesuchen verbracht habe.“
Jenna sah die erschöpften Linien um seinen Mund und die Augen und nickte. „Natürlich.“ Sie musterte ihn mitfühlend. „Konnten Sie sich zwischendurch nicht wenigstens eine Viertelstunde Schlaf abzwacken?“
Er schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Wir sind hier nur zu viert, und wenn wir zu tun haben, haben wir zu tun.“
„Und wer hat Ihnen letzte Nacht den Schlaf geraubt?“
„Ein Tourist mit Brustschmerzen, ein Kleinkind mit Fieberkrämpfen und ein kleines Mädchen mit einem schlimmen Asthmaanfall.“
Der letzte Punkt weckte sofort Jennas Interesse. In ihrem früheren Job hatte die Behandlung von Asthmapatienten zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gehört.
„Was hat denn den Anfall ausgelöst?“, hakte sie nach.
„Die Familie hatte sich gerade einen Hund aus dem Tierheim geholt. Ich vermute, das war der Grund. Ich war vorhin dort, um nach der Kleinen zu sehen, aber sie schlief noch. Darum fahre ich später noch einmal vorbei. Denn gestern Nacht gefiel sie mir überhaupt nicht.“
„Die Eltern wussten nicht, dass Tierhaare typische Auslöser für Asthmaanfälle sind?“ Jenna sah bekümmert aus, als ihr klar wurde, was das bedeutete. „Dann wird der Hund jetzt wohl ins Tierheim zurückgebracht.“
Ryan nickte. „Höchstwahrscheinlich. Im Grunde gibt es keine andere Lösung. Aber es ist auch klar, dass es das Kind sehr aufregen wird.“
„Es muss schön sein, einen Hund zu haben“, murmelte Jenna wehmütig und erschrak im nächsten Moment über sich selbst. Was sollte das? Wieso in aller Welt sollte sie plötzlich einen Hund haben wollen? Andererseits … so plötzlich kam dieser Wunsch nun auch wieder nicht.
„Vielleicht könnten Sie ihm ja ein Zuhause geben“, schlug Ryan vor, als wüsste er wieder genau, was in ihr vorging.
„Nein, das geht nicht!“ Clive hasst Tiere, hätte sie beinahe hinzugefügt. Dann fiel ihr ein, dass sie nicht mehr mit Clive verheiratet war. Seine Meinung spielte keine Rolle mehr. Kurz betrachtete sie den blassen Streifen Haut, wo bis vor einem Jahr ihr Ehering gewesen war. Es fühlte sich immer noch seltsam an, ihn nicht mehr an ihrem Finger zu sehen.
„Stimmt etwas nicht?“
Ryans Frage holte Jenna in die Gegenwart zurück. „Nein … doch, es ist alles okay. Ich dachte nur gerade über Ihre kleine Asthmapatientin nach.“
„Verstehe.“
Es fiel ihr schwer, der Intensität seines Blicks standzuhalten. Ryan McKinley war so ganz anders als die Männer, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte. Ihre Kollegen in der Klinik in London waren ebenfalls gute Ärzte gewesen, aber sie traute keinem von ihnen zu, einen Schwerverletzten mitten in einem Unwetter aus einem Autowrack zu befreien und ohne Hilfsmittel wiederzubeleben. Ryan McKinley schon. Hinzu kam, dass er geradezu unanständig gut aussah. Und sexy …
„Sie sehen wirklich erschöpft aus“, stellte er leise fest. „Geht das auf Mrs. Parkers Konto, oder liegt es daran, dass Sie völlig unvorbereitet ins kalte Wasser springen mussten?“
Jenna schüttelte den Kopf. „Weder noch. Mit Mrs. Parker bin ich wie gesagt gut zurechtgekommen, und ich springe gern ins kalte Wasser.“ Es war ihr wichtig, das klarzustellen. Er durfte auf keinen Fall den Eindruck gewinnen, dass sie nicht belastbar war.
Ryan musterte sie noch einen Moment lang prüfend, dann nickte er. „Gut. Ich habe mich nämlich gefragt, ob Sie ein paar Blutproben für mich entnehmen könnten.“ Er reichte ihr ein Formular. „Callum ist fünfzehn und zeigt alle Anzeichen eines Pfeiffer-Drüsenfiebers. Ich weiß, dass Sie bereits ein volles Wartezimmer haben, aber ich brauche die Ergebnisse wirklich dringend.“
„Natürlich.“ Als Jenna ihm das Blatt abnahm, streiften ihre Finger kurz über seine. Es fühlte sich an, als hätte sie ein offenes Stromkabel berührt. Entnervt fragte sie sich, warum sie dazu verdammt zu sein schien, bei diesem Mann ständig zu überreagieren. „Ich mache das sofort“, versprach sie und hoffte inständig, dass er nicht merkte, wie sehr er sie aus dem Gleichgewicht brachte.
„Er sitzt mit seiner Mutter im Wartezimmer.“ Als Ryans Blick auf ihre Finger fiel, die sie sich geistesabwesend rieb, ließ Jenna rasch die Hände in den Schoß sinken.
„Okay. Dann rufe ich ihn jetzt auf.“
„Danke. Ich weiß das sehr zu schätzen.“ Plötzlich ging eine Anspannung von ihm aus, die vorher nicht da gewesen war. „Übrigens sind Ihre Fahrräder gekommen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass ich den Lieferanten gebeten habe, sie direkt zu Ihrem Cottage zu bringen.“
„Fahrräder?“ Jenna hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Dann fiel es ihr wieder ein. „Ach ja, natürlich, die Fahrräder! Ich hatte sie bei der Verleihfirma bestellt, von der Evanna mir erzählt hat. Ich dachte, ein bisschen sportliche Betätigung würde Lexi und mir guttun.“
„Dem kann ich nur zustimmen. Außerdem wäre es ein gutes Beispiel für die Patienten. Weiß Lexi, dass Sie Räder bestellt haben?“
„Noch nicht.“ Und offenbar ging auch er davon aus, dass die erste Reaktion ihrer Tochter genervte Ablehnung sein würde. Dieser Mann bekam einfach viel zu viel mit! „Ich werde mir einen ungefährlichen Moment aussuchen, um es ihr zu sagen. Übrigens schulde ich Ihnen noch eine Entschuldigung für ihr Verhalten vorhin.“
„Sie haben sich bereits dafür entschuldigt“, erinnerte Ryan sie. „Und schon beim ersten Mal gab es keinen Grund dafür.“
Jenna seufzte. „Lexi ist …“ Es widerstrebte ihr, persönliche Details preiszugeben, andererseits ertrug sie es aber auch nicht, dass er schlecht über ihre Tochter dachte. „Sie ist zurzeit sehr durcheinander. Sie wollte nicht aus London wegziehen, und das letzte Jahr war sehr hart für sie.“
Ryan schwieg einen Moment. „Glenmore hat eine beruhigende Wirkung auf die Menschen“, entgegnete er schließlich, schon halb zur Tür gewandt. „Geben Sie sich und Lexi ein paar Wochen, bevor Sie neue Tickets für die Fähre kaufen. Ich glaube, dass Sie sich hier schon bald wie zu Hause fühlen werden.“
Jenna konnte nur stumm dasitzen und seinen Blick erwidern. Einige spannungsgeladene Sekunden verstrichen, dann nickte er knapp.
„Willkommen auf Glenmore, Jenna. Wir sind sehr froh, Sie hierzuhaben.“
„Jenna?“ Logan McNeil unterzeichnete ein Rezept und blickte interessiert zu Ryan auf. „Was genau soll ich dir über sie erzählen, und vor allem warum? War es Liebe auf den ersten Blick, als du sie über die überfüllte Pier auf dich zuschreiten sahst?“
Mit kreisenden Bewegungen versuchte Ryan, die Verspannung in seinen Schultern zu lösen. „Nenn mir einfach die Fakten, Logan.“
„Sie hat in den letzten sechs Jahren als Praxisschwester in London gearbeitet, aber das will ich ihr nicht zum Vorwurf machen. Warum fragst du? Hat sie einen Patienten umgebracht?“
„Ich mache mir Sorgen um sie.“
„Jetzt schon? Sie ist doch erst seit ein paar Stunden hier.“
Richtig. Und Ryan hatte sich bereits nach dreißig Sekunden Sorgen um sie gemacht. Sie hatte so zerbrechlich und angeschlagen auf ihn gewirkt, als wäre sie nur mit knapper Not einem schrecklichen Unwetter entkommen.
„Sie sieht aus, als könnte schon der leiseste Lufthauch sie umwerfen.“
Logan zog die Brauen hoch. „Traust du ihr nicht zu, dass sie dem Job gewachsen ist?“
„Ganz im Gegenteil. Sie hat Mrs. Parker behandelt, was, wie du weißt, der ultimative Härtetest ist. Aber darum geht es nicht. Ich mache mir um sie Sorgen!“ Ryan warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. „Was weißt du über ihre persönlichen Verhältnisse?“
Seufzend öffnete Logan seine Schreibtischschublade, zog eine schmale Akte heraus und durchblätterte die Papiere. „Geschieden … eine fünfzehnjährige Tochter. Das war’s. Mehr steht hier nicht.“
Geschieden.
Ryan durchquerte Logans Sprechzimmer und blieb vor dem Fenster stehen. Der helle Streifen an ihrem Ringfinger ließ darauf schließen, dass die Scheidung noch nicht lange zurücklag. Machte ihr das so zu schaffen? Zuckte sie darum so panisch zurück, sobald ein Mann sie berührte?
„War ihr Ehemann gewalttätig?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Das ist ihr Lebenslauf, kein Polizeibericht. Findest du nicht, dass du es mit deiner Besorgnis etwas übertreibst? Du kennst sie doch erst seit einem halben Tag.“
Ryan wirbelte herum. „Sie ist eine Kollegin, Logan! Da sollte es in unser aller Interesse liegen, dass es ihr hier gut geht, meinst du nicht?“
„Geht es dir wirklich nur darum?“ Logan klappte den Aktendeckel wieder zu. „Du scheinst wirklich sehr interessiert an ihr zu sein.“
„Ich sagte nicht, dass ich mich persönlich für sie interessiere“, korrigierte Ryan ihn gereizt. „Ich sagte, wir alle sollten …“
„Schon gut, ich habe es verstanden.“ Logan hob beschwichtigend die Hände. „Dann überlasse ich es dir, dafür zu sorgen, dass sie sich hier wohlfühlt.“ Er legte Jennas Bewerbungsunterlagen wieder an ihren Platz zurück und schloss die Schublade. „Heutzutage lassen sich die Leute andauernd aus allen möglichen Gründen scheiden, Ryan. Es bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie Probleme hat. Hat sie das Cottage schon gesehen?“
„Ich bringe sie nach der Vormittagssprechstunde hin.“
„Gut. Dann lass uns hoffen, dass ihr die einsame Lage gefällt. Sonst müssen wir uns bald wieder nach einer neuen Praxisschwester umsehen.“
„Ich weiß, dass ihr das Cottage gefallen wird.“ Ryan hätte nicht sagen können, warum. Es war einfach so. Sie war verletzt und suchte nach einem Ort, an dem sie sich zurückziehen und ihre Wunden lecken konnte.
Das Cottage war perfekt dafür.
Ob ihre pubertierende Tochter damit klarkommen würde, stand auf einem anderen Blatt.