3. KAPITEL

Es war das hübscheste Haus, das Jenna je gesehen hatte. Wie die drei anderen Fischercottages nebenan hatte es einen freien Blick aufs Meer und einen großen Garten, der fast bis zum Strand reichte.

Das eiserne Gartentor war verrostet und quietschte, als Jenna es aufstieß. Ein Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Keine endlosen Verkehrsstaus. Keine Hupkonzerte. Keine blinkenden Leuchtreklamen und schrillen Graffiti an den Hauswänden. Hier gab es nur weiten, offenen Raum, frische Luft und das Rauschen des Meeres.

Es war perfekt.

Lexi dagegen stieß einen entsetzten Laut aus. „Das ist es? Ich glaub es nicht! Diese Bude ist ja kaum größer als eine Hundehütte!“

Jennas Magen zog sich zusammen. Die vertraute Anspannung war wieder da.

„Ja, es ist klein“, gab sie zu. „Aber es gehört uns.“ Jedenfalls so lange sie ihren Job behielt. Das Cottage war Bestandteil des Arbeitsvertrags. Aber sie hatten wieder ein Zuhause, und die Lebenshaltungskosten würden bedeutend niedriger als in London sein.

„Ein ganzer Sommer in diesem Niemandsland …“ Lexi breitete theatralisch die Arme aus. „Erschieß mich am besten jetzt gleich, bevor ich vor Langeweile sterbe.“

Jenna unterdrückte einen Seufzer und ging den Weg zur Eingangstür hinauf. Der Garten war schön angelegt, doch es hatte sich einiges Unkraut in ihm breitgemacht. Am liebsten hätte sie auf der Stelle mit dem Jäten angefangen. Es würde Spaß machen, dieses kleine Paradies wieder in Schuss zu bringen.

Lexi, die ihr lustlos gefolgt war, ließ suchend den Blick umherschweifen. „Wo ist denn hier das nächste Geschäft?“

„Geh einfach geradeaus die Straße hinunter, dann kommst du automatisch zum Hafen. Bei Ebbe kannst du auch am Strand entlanglaufen.“ Ryan, der gerade zu ihnen aufschloss, stellte das Gepäck ab, nahm Jenna sanft den Schlüssel aus der Hand und öffnete die Tür zum Cottage.

„Tut mir leid, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders.“ Sie lächelte entschuldigend. „Es ist so lange her, dass ich einen Garten hatte.“ Entzückt betrachtete sie die hübschen rosa Blüten, die in buschigen Stauden vor der Eingangstür wuchsen. „Armeria maritima.“

Überrascht hob Ryan die Brauen. „Sie kennen den lateinischen Namen dieser Pflanze?“

„Meine Mutter war Botanikerin. Ich bin mit lateinischen Namen aufgewachsen, und einige sind hängen geblieben.“ Jenna ging in die Knie und strich sanft mit den Fingerspitzen über die Blüten. „Im allgemeinen Sprachgebrauch heißen sie Grasnelken. Sie gehören zur Familie der Bleiwurzgewächse und gedeihen besonders gut auf Salzwiesen und an Stränden. Darum werden sie häufig auch Strandnelken genannt.“

Ihre Tochter verdrehte die Augen. „Das ist ja wahnsinnig spannend, Mum.“

Jenna errötete und erhob sich wieder. „Tut mir leid, ich wollte euch keinen Vortrag halten. Es ist nur so wunderbar, endlich wieder einen Garten zu haben!“

Nicht einmal Lexis schlechte Laune konnte ihre Freude schmälern. Tief atmete sie die salzige Seeluft ein und beobachtete, wie sich Blumen und Gräser in der Brise wiegten. Der Rasen musste gemäht werden, und die Beeteinfassungen waren ziemlich verwildert, aber das erhöhte den Reiz eher noch. Im Geiste sah Jenna sich schon an einem warmen Sonntagmorgen auf einer Decke liegen – in eine Zeitung vertieft, während über ihr die Möwen kreischten.

Wann hatte sie so etwas zuletzt getan? Während ihrer Ehe mit Clive waren ihre Sonntage damit ausgefüllt gewesen, einen traditionellen Braten für ihren Mann zuzubereiten und danach Tee für den Cricketclub zu kochen.

Als Jenna registrierte, dass Ryan sie beobachtete, durchfuhr sie eine Hitzewelle. Er hatte bereits mehrere Kostproben seiner Fähigkeit geliefert, ihre Gedanken zu lesen, und einige davon wollte sie um nichts in der Welt preisgeben.

„Wem gehört dieses Cottage eigentlich?“, fragte sie, um seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum jemand, der hier wohnt, den Wunsch haben sollte, von hier wegzuziehen.“

„Es gehört Logans Schwester Kyla. Ihrem Mann wurde ein sehr attraktiver Job in den Staaten angeboten, aber irgendwann werden sie wieder zurückkommen.“

Hoffentlich nicht allzu bald!

Jenna hatte sich auf Anhieb in das Cottage verliebt. Zum ersten Mal, seit sie London verlassen hatte, spürte sie so etwas wie Hoffnung. Und eine Art vorsichtiger Vorfreude, als könnte dies trotz allem die richtige Entscheidung gewesen sein.

Es fühlte sich an, als gehörte sie hierher.

Als wäre dies schon immer ihr Zuhause gewesen.

„Es ist so still und friedlich hier“, murmelte sie, worauf sich über ihrem Kopf eine Möwe in den Himmel erhob und einen schrillen Schrei ausstieß, als wollte sie dieser Behauptung energisch widersprechen. „Okay, vielleicht nicht gerade still“, räumte sie lachend ein, als sie Ryans Blick begegnete. „Aber die Geräusche sind anders. Es sind gute Geräusche. Und das Tempo hier ist viel langsamer. Ich freue mich schon darauf, das von nun an jeden Tag zu genießen.“

Sie bemerkte, wie merkwürdig sich ihr Geplapper anhören musste, und zuckte verlegen die Schultern. „In London geht alles so schnell“, versuchte sie zu erklären. „Es ist, als würde man von einem Strudel mitgerissen, der einem nicht einmal die Zeit lässt, zwischendurch Atem zu holen. Ich hasse diese ewige Hektik.“

„Das liegt daran, dass du langsam alt wirst, Mum“, warf Lexi ein. „London ist cool und aufregend. Und unser Haus war im Vergleich mit diesem ein Palast.“

„London war laut und stinkend, und das Haus war viel zu groß für uns zwei.“ Das hatte Jenna sich selbst immer wieder gesagt. Es war der einzige Weg gewesen, das Unabänderliche zu ertragen.

Als sie die Diele des Cottages betrat, warf die Sonne goldene Reflexe auf den polierten Holzboden. Eine geöffnete Tür gab den Blick auf eine helle, gemütliche Küche frei.

„Es ist doch wunderschön hier, Lexi!“, rief Jenna begeistert. „Wir können an dem kleinen Tisch im Garten frühstücken. Du kannst schwimmen gehen, wann immer du Lust hast, oder am Strand laufen. Das alles kann London dir nicht bieten, das musst du zugeben.“

Sie könnten hier glücklich sein – Jenna spürte es ganz deutlich.

Lexi, die ihr kaum zugehört hatte, riss den Blick von ihrem Handy los und sah ihre Mutter fassungslos an. „Immer noch kein Empfang. Wie kommen die Leute hier bloß damit klar?“

„Auf der Anhöhe dort hat man eigentlich immer eine Verbindung.“ Ryan stellte das Gepäck in der Diele ab und zeigte Lexi einen Hügel jenseits der Straße, an dessen Spitze die alte Burgruine von Glenmore lag.

„Alles klar. Wenn das der einzige Ort ist, wo ich mein Telefon benutzen kann, muss ich wohl dahin gehen.“ Sie seufzte übertrieben dramatisch und stapfte mit großen Schritten davon.

Jenna wollte sie bitten, vorsichtig zu sein, ließ es dann aber. Sie wusste aus Erfahrung, dass zu viel mütterliche Fürsorge mehr schadete als nützte. Ihre Schuldgefühle waren jedoch zurück und nagten an ihr. Sie mochte von dem Cottage noch so hingerissen sein – es war definitiv nicht das, was Lexi wollte.

„Es muss hart sein, sie groß werden zu lassen.“ Ryan stand im Türrahmen und sah sie mit nachdenklicher Miene an.

„Sie machen sich keine Vorstellung“, erwiderte Jenna trocken und folgte ihm in den Garten. Während sie beobachtete, wie ihre Tochter die Straße überquerte und den Aufstieg auf den Hügel begann, rasten Dutzende von Albtraumszenarien durch ihr überaktives Mutterhirn. Um ihre irrationalen Ängste unter Kontrolle zu bringen, beschloss sie, ihnen mit Humor zu begegnen.

„Treiben sich hier eigentlich viele unberechenbare und gefährliche Gestalten herum?“, erkundigte sie sich wie nebenbei.

Um Ryans Mundwinkel zuckte es. „Nun, Mrs. Parker haben Sie ja bereits kennengelernt. Ansonsten ist mir hier niemand bekannt, der auch nur annähernd so unberechenbar oder gefährlich wäre.“

Als er sich zu ihr drehte und sein Arm dabei unabsichtlich ihren streifte, überlief Jenna ein prickelnder Schauer. Rasch trat sie einen Schritt zurück und achtete darauf, diesen Abstand beizubehalten. „Also keine axtschwingenden Mörder und Vergewaltiger?“

„Wir hatten letzten Sommer Dutzende davon, aber Mrs. Parker hat sie alle in die Flucht geschlagen.“

Das Geplänkel ließ Jenna für einen Moment ihre Ängste vergessen, doch als Lexis immer kleiner werdende Gestalt plötzlich hinter einer Bodenwelle verschwand, überfiel sie erneut Panik. Als Ryan ihren Blick auffing, lachte sie verlegen.

„Ja, ich weiß, ich übertreibe maßlos. Anscheinend habe ich noch nicht verinnerlicht, dass dies nicht London ist. Sie müssen mich für verrückt halten, ich tue es ja selbst.“

„Das war es nicht, was ich dachte.“

„Das hätten Sie aber gedacht, wenn Sie gewusst hätten, was mir alles durch den Kopf gegangen ist.“

„Lexi geht es gut“, meinte Ryan ruhig. „Aber bei Ihnen bin ich mir nicht so sicher.“

Die Art, wie er sie dabei ansah, ging Jenna durch und durch. Auf einmal schien die Luft zwischen ihnen elektrisch aufgeladen zu sein. Wie fremdgesteuert wanderte ihr Blick von seinen leuchtend blauen Augen zu seinem sinnlichen Mund und blieb dort wie gebannt hängen.

Wenn du ihn küssen willst, warum tust du es nicht einfach?

Du bist jetzt eine freie Frau.

Schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten holte der Schrei einer Möwe Jenna in die Realität zurück. Was in aller Welt ist bloß in dich gefahren? fragte sie sich entsetzt. Dies war Dr. Ryan McKinley, ihr neuer Kollege! Und sie überlegte allen Ernstes, ihm an ihrem ersten Arbeitstag um den Hals zu fallen und zu küssen?

Sie musste völlig den Verstand verloren haben!

Jenna straffte die Schultern. „Sie haben recht. Ich mache mir zu viele Sorgen um Lexi. Aber ich habe mir vorgenommen, in diesem Sommer daran zu arbeiten.“

Dummerweise bewirkte ihr sachlicher Tonfall nicht, dass sich der Tumult in ihrem Innern legte. Sie musste jetzt allein sein, was seinen eigenen Wünschen sicher sehr entgegenkam. Wahrscheinlich brannte er darauf, ihrer Gegenwart zu entkommen, wenn auch aus ganz anderen Gründen.

„Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe, Dr. McKinley“, sagte sie in abschließendem Tonfall, um es ihm leicht zu machen. „Es tut mir leid, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.“

Anstatt das Stichwort dankbar aufzugreifen und sich zu verabschieden, marschierte er seelenruhig zum Cottage zurück. „Ich brauche jetzt dringend einen Kaffee.“ Mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er hier zu Hause, betrat er die Küche, öffnete einen Schrank und begann, darin herumzukramen.

„Ich dachte, Sie müssten sofort lospreschen. Zum Lunch oder zu Ihrem nächsten Hausbesuch …“ Jenna, die ihm völlig perplex gefolgt war, musterte ihn stirnrunzelnd. Sie hätte geschworen, er könnte nicht schnell genug von ihr wegkommen.

Von der verzweifelten Geschiedenen …

„Hier auf Glenmore halten wir nicht so viel vom Lospreschen. Es ist schlecht fürs Herz.“ Er hielt kurz mit dem Suchen inne und sah sie fragend an. „Möchten Sie auch einen Kaffee oder lieber Tee?“

„Weder noch“, erwiderte Jenna. „Ich will damit sagen, dass ich beides nicht dahabe, da ich noch nicht zum Einkaufen gekommen bin.“

„Sie müssen nicht einkaufen gehen. Die Vorräte sind bereits aufgestockt worden.“

„Aber …“ Das Klingeln des Telefons ließ Jenna erschrocken zusammenfahren. „Wer in aller Welt kann das sein?“

„Warum gehen Sie nicht ran und finden es heraus? Das Telefon steht auf dem kleinen Tisch in der Diele.“

Als Jenna die Stimme ihrer Mutter hörte, schloss sie für einen Moment die Augen. Verflixt, warum hatte sie diesen Anruf nur entgegengenommen? Sie ermahnte sich zu innerer Gelassenheit, doch schon nach zwei Minuten konnte davon keine Rede mehr sein. Wie immer gelang es ihrer Mutter mühelos, sie mit wenigen sarkastischen Bemerkungen wie ein unreifes dummes Ding dastehen zu lassen. Und wie immer schaffte Jenna es auch jetzt nicht, ihr die Stirn zu bieten.

Während der Kloß in ihrem Hals immer größer wurde, ließ sie die vertrauten Vorwürfe auf sich herabprasseln. Dass sie wohl nie erwachsen würde. Dass sie mit ihrer „unüberlegten Flucht“ nach Glenmore eine katastrophale Fehlentscheidung getroffen habe. Dass es verantwortungslos und unglaublich egoistisch von ihr gewesen sei, Lexi aus ihrer vertrauten Umgebung zu reißen.

Am Ende des Telefonats, bei dem Jenna bis auf ein paar halbherzige Einwürfe kaum zu Wort gekommen war, fühlte sie sich wie erschlagen. Die wohltuende Wirkung, die das Cottage auf sie gehabt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Stattdessen brannte wieder der harte Knoten in ihrem Magen.

Mit dem Hörer in der Hand stand sie geistesabwesend in der Diele, bis Ryan, der auf einmal vor ihr stand, ihn ihr sanft abnahm. Er legte ihn auf die Gabel zurück und umfasste mit besorgtem Gesichtsausdruck ihre Schultern. „Ist alles okay mit Ihnen?“

Unfähig, ein Wort herauszubringen, nickte Jenna heftig. Die Berührung seiner warmen, starken Hände fühlte sich unendlich gut an! Sie war schon fast ein Jahr geschieden, und selbst während ihrer Ehe hatte es zwischen ihr und Clive nur wenig Körperkontakt gegeben. Er war nicht der Typ für zärtliche Umarmungen oder gemütliches Kuscheln auf dem Sofa, und der sporadische Sex mit ihm hatte immer etwas Bemühtes gehabt. Als wäre es ein Punkt auf seiner To-do-Liste, den er möglichst zügig abarbeiten wollte.

Eine Liebesnacht mit Ryan McKinley wäre sicher etwas vollkommen anderes. Seine breite Brust war direkt vor Jennas Gesicht und weckte das unwiderstehliche Bedürfnis in ihr, ihren Kopf dagegen zu lehnen. Nur für einen Moment. Vielleicht übertrug sich dabei ja etwas von seiner Stärke auf sie …

Der Abstand zwischen ihnen schien mehr und mehr zusammenzuschrumpfen. Die Luft vibrierte förmlich vor Spannung. Dann machten sie gleichzeitig einen Schritt zurück, als wären sie gerade zu einer stummen Übereinkunft gekommen. Nicht das! Und vor allem nicht hier und jetzt!

„Ich habe übrigens den Kaffee gefunden“, informierte Ryan sie, als hätte es diesen kritischen Moment nie gegeben.

Jenna blinzelte einige Male, bevor sie sich wieder in der Realität zurechtfand.

„Ja, natürlich …“ Entsetzt, wie kurz sie davor gewesen war, sich endgültig vor ihm zur Närrin zu machen, stürzte sie an ihm vorbei in die Küche, öffnete eine Schublade nach der anderen, bis sie endlich ein Messer fand.

„Regen die Gespräche mit Ihrer Mutter Sie immer so auf?“

Jenna hielt den Atem an. Er stand so dicht hinter ihr, dass sie seine Körperwärme spürte. „Woher wissen Sie, dass ich mit meiner Mutter telefoniert habe?“

„Ich hörte Sie ‚Hi Mum‘ sagen.“

„Oh!“ Wenn er das gehört hatte, hatte er auch das hilflose Gestammel mitbekommen, mit dem sie vergeblich versucht hatte, sich gegen die unbarmherzige Kritik ihrer Mutter zur Wehr zu setzen.

Mit dem Messer in der Hand blickte Jenna starr auf das Besteck in der Schublade. „Dumm, nicht wahr? Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, da sollte sie nicht mehr so eine Wirkung auf mich haben. Aber leider verfügt meine Mutter über das unfehlbare Talent, mir innerhalb kürzester Zeit meine sämtlichen Schwächen vor Augen zu führen.“ Ihre Finger schlossen sich fest um den Messergriff. „Sie hält meinen Entschluss, hierher zu kommen, für eine katastrophale Fehlentscheidung.“

„Und was denken Sie?“

„Ich weiß es inzwischen nicht mehr. Ich dachte, dass ich das Richtige tue. Aber jetzt habe ich Angst, dass es für Lexi vielleicht falsch ist. Ich habe sie entwurzelt, sie von allem weggerissen, was ihr vertraut war. Dass wir unser altes Haus verlassen mussten, war nicht zu ändern, aber ich war nicht gezwungen, an einen so entfernten Ort zu ziehen …“

Jenna wünschte, nicht so viel gesagt zu haben, und drehte sich schuldbewusst zu Ryan um. „Tut mir leid, dass ich Sie so zugetextet habe. Sie wollten einen Kaffee trinken und keine Beichte hören. Und dann hat dieser Anruf Sie noch zusätzlich aufgehalten. Wenn Sie also lieber sofort aufbrechen wollen, verstehe ich das gut.“

Ryan schüttelte entschieden den Kopf. „Ich verlasse dieses Cottage erst nach einer ausreichenden Dosis Koffein. Ansonsten kann ich nicht für meine Fahrtüchtigkeit garantieren.“ Er nahm ihr das Messer aus der verkrampften Hand und öffnete die Tüte mit dem Kaffee. „Sie haben mir noch nicht gesagt, ob Sie auch einen wollen. Es gibt auch Tee, wenn Sie …“

„Nein, ich möchte auch Kaffee. Aber lassen Sie mich das machen, Dr. McKinley. Sie haben heute schon genug für uns getan.“ Jenna wollte nach der Tüte greifen, doch Ryan ließ es nicht zu.

„Nein, das übernehme ich. Und nennen Sie mich bitte Ryan. Hier auf der Insel sind wir im Umgang miteinander nicht so förmlich.“

Während Jenna zusah, wie er mit wenigen sicheren Handgriffen die Kaffeemaschine startklar machte, kam sie nicht umhin, ihn mit Clive zu vergleichen. Wenn es um die praktischen Dinge des Lebens ging, hatte er sich immer hoffnungslos ungeschickt angestellt.

„Wohnen Sie weit von der Praxis entfernt, Dr. Mc… Ryan?“ Ihr war eingefallen, was Mrs. Parker ihr über sein Einsiedlerleben erzählt hatte, und sie hoffte, etwas mehr darüber zu erfahren.

„Ich wohne drei Buchten weiter in dem alten Leuchtturm. Von hier aus ist das ein Fußweg von etwa zwanzig Minuten.“

„Dann haben Sie sicher einen fantastischen Ausblick aufs Meer und die ganze Insel.“ Die Vorstellung ließ Jenna unwillkürlich ins Träumen geraten. „Wenn ich einen Leuchtturm hätte, würde ich mein Schlafzimmer ganz oben einrichten. Dann könnte ich gleich beim Aufwachen die Aussicht genießen.“

„Offenbar sind wir uns in diesem Punkt ähnlich.“ Ryan goss den fertigen Kaffee in zwei Becher und reichte Jenna einen davon. „Mein Schlafzimmer ist ganz oben, und das Panorama raubt mir jeden Morgen aufs Neue den Atem.“

„Sie Glückspilz.“ Jennas Wunsch, sich trostsuchend bei ihm anzulehnen, hatte sich unversehens in etwas anderes verwandelt. Etwas Gefährliches, dem sie besser nicht weiter nachging. Plötzlich erschien ihr die Küche viel zu eng für zwei Personen.

„Warum trinken wir den Kaffee nicht im Garten?“, schlug sie vor. Die frische Luft würde die verwirrenden Bilder von Ryan McKinley in seinem Schlafzimmer vertreiben und ihr helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

„War es denn wirklich nötig, Ihr Haus in London zu verlassen?“, fragte er sie, nachdem sie an dem kleinen Gartentisch Platz genommen hatten. „Es wäre doch auch eine Option gewesen, dass Ihr Exmann auszieht.“

„Nein, er hat das Haus verkauft.“ Jenna genoss den Wind in ihrem Haar und atmete tief den Duft des Meeres ein. „Ich habe erst davon erfahren, als eines Morgens drei Immobilienmakler vor der Tür standen.“

Ryan pfiff leise durch die Zähne. „Dann kann ich nur hoffen, dass Sie einen guten Anwalt hatten.“

„Clive ist Anwalt“, erwiderte Jenna mit einem müden Lächeln. „Und da ich Lexi einen Ehekrieg ersparen wollte, habe ich nicht sehr stark protestiert. Ich wollte zu der Zeit nur, dass alles so zivilisiert wie möglich abläuft.“

„Finden Sie es zivilisiert, dass er Ihnen ohne Vorwarnung einen Trupp Makler auf den Hals geschickt hat?“

„Sicher nicht, aber was hätte ich tun sollen? Das Haus war auf seinen Namen eingetragen. Er hat also völlig legal gehandelt.“

„Es mag legal gewesen sein, aber anständig war es definitiv nicht.“ Ryans Stimme klang plötzlich hart, und in seinen Augen blitzte es zornig. „Weiß Lexi, dass er den Verkauf ohne Ihr Wissen in die Wege geleitet hat?“

Jenna seufzte. „Ja, ich habe es ihr erzählt, als sie mir vorwarf, es wäre meine Idee gewesen. Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen. Sie war schon wütend genug auf Clive, weil er uns wegen einer anderen Frau verlassen hat.“

„Und warum haben Sie sich für Schottland entschieden?“

„Weil das sehr weit weg von London ist.“ Nach kurzem Zögern fügte Jenna hinzu: „Clive will Lexi im Moment nicht um sich haben. Er möchte das Leben mit seiner neuen Liebe genießen, und dabei steht sie ihm im Weg. Ich wollte nicht, dass Lexi das merkt und die Beziehung zu ihrem Vater dauerhaften Schaden nimmt. Also habe ich einen Ort gewählt, der es ihr unmöglich macht, regelmäßig bei ihm aufzutauchen.“

Lange betrachtete Ryan sie mit unergründlicher Miene. „Ich denke, Lexi kann sich glücklich schätzen, eine Mutter wie Sie zu haben“, meinte er schließlich.

„Ich weiß nicht“, murmelte Jenna. „Vielleicht wollte ich mich auch nur selbst schützen. Weil ich mir nicht eingestehen kann, dass ich fünfzehn Jahre lang mit einem selbstsüchtigen Egomanen verheiratet war.“

„Und Ihre Mutter? Was findet sie so verkehrt an Ihrer Entscheidung, hierher zu ziehen?“

Jenna ließ den Blick über den hübschen, sonnenbeschienenen Garten schweifen. „Sie wollte, dass wir zu ihr ziehen. Sie meinte, so könnten Lexi und ich unser Leben mehr oder weniger weiterführen wie bisher, was ja auch stimmt. Aber ich hielt einen richtigen Neuanfang für besser. Nicht nur für mich, sondern auch für Lexi. Doch im Moment hasst sie mich dafür, dass ich sie von ihren Freunden getrennt habe. Sie hat Angst, dass hier niemand etwas mit ihr zu tun haben will, und ich habe keine Ahnung, warum ich Ihnen das alles erzähle.“

Ryan hob die Schultern. „Weil ich gefragt habe. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen Lexi. Hier gibt es nicht genug Menschen, um auch nur einen von ihnen zu ignorieren.“ Nach einem Blick auf seine Uhr trank er mit großen Schlucken seinen Kaffee aus und erhob sich. „Jetzt muss ich leider wirklich gehen. Sollten Sie Hilfe im Haus brauchen, geben Sie mir Bescheid. Ich kann ganz gut mit Werkzeug umgehen. Werden noch Möbel angeliefert?“

„Nein, aber mir fällt gerade etwas anderes ein. Sagten Sie vorhin nicht, es wären Lebensmittel für mich besorgt worden?“

„Genau“, bestätigte Ryan. „Als Evanna bei der letzten Bürgerversammlung verkündete, dass Sie heute kommen, war das blitzschnell organisiert.“

Jenna blinzelte ungläubig. „Die Bürgerversammlung von Glenmore hat eine Einkaufsliste für mich zusammengestellt?“

Er breitete die Hände aus. „Hier gibt es nicht viel zu tun, wenn die Pubs geschlossen haben.“

„Das ist … wirklich freundlich.“ Tief berührt nahm Jenna sich vor, allen dafür zu danken. „Vielleicht könnten Sie mir die Namen derjenigen aufschreiben, die sich darum gekümmert haben. Dann kann ich ihnen das ausgelegte Geld zurückerstatten.“

„Keine Sorge, Sie werden bezahlen“, prophezeite Ryan ihr grinsend. „Heute kauft man Ihnen ein Brot, und morgen bittet Sie jemand um einen Rat für seinen Hautausschlag, so läuft das hier. Und bevor ich es vergesse: Der Schlüssel zur Hintertür liegt auf der Kommode in der Küche. Ach ja, und die Dusche wird kalt, wenn der Warmwasserhahn in der Küche aufgedreht wird.“

Verblüfft sah Jenna ihn an. „Sie scheinen dieses Haus ja gut zu kennen.“

„Stimmt. Ich habe ein paar Tage hier gewohnt, bis der Kauf des Leuchtturms abgeschlossen war.“

„Verstehe …“ Sie hatte eine beunruhigende Vision von ihm, wie er nackt in der Küche umherging und sich Frühstück machte.

Du tust es schon wieder, Jenna! Wenn du deine wilden Fantasien nicht schleunigst in den Griff bekommst, bringst du dich noch in Teufels Küche!

„Alles okay mit Ihnen?“

„Absolut.“ Sie räusperte sich energisch.

„Gut.“ Ryan blickte zu dem Hügelkamm hinter der Straße. „Da kommt Lexi auch schon zurück. Die Praxis öffnet erst um vier wieder. Sie haben also noch ein paar Stunden, um sich einzurichten und etwas Zeit miteinander zu verbringen.“

Jetzt, da Lexi gleich hier sein würde, hatte Jenna es plötzlich eilig, ihn zu verabschieden. „Danke fürs Herbringen … Ryan. Und fürs Zuhören.“

Er nickte kurz und schlenderte durchs Gartentor auf seinen weißen Porsche zu. Im Vorbeigehen wechselte er einige Worte mit Lexi, die gerade beim Cottage angekommen war. Jenna hörte nicht, was sie sagten, aber sie sah, dass Lexi lächelte, was ein großer Fortschritt war.

„Und?“, rief sie ihrer Tochter zu. „Hast du eine Verbindung bekommen?“

„Ja, aber ich habe niemanden erreicht. Bestimmt waren alle die halbe Nacht unterwegs und schlafen noch, die Glücklichen …“ Über die Schulter hinweg blickte Lexi dem davonfahrenden Porsche nach.

„Was hat er denn hier gemacht, Mum?“

„Er hat uns hergefahren, falls du es vergessen haben solltest.“

„Ja, vor anderthalb Stunden.“

Du liebe Güte! War er tatsächlich so lange da?

„Wir haben uns noch unterhalten.“

„Worüber denn?“

Jenna spürte, wie sie unter Lexis misstrauischem Blick errötete. „Über die Arbeit“, erklärte sie mit fester Stimme. „Ich bin neu in der Praxis, wie du weißt.“

„Sicher … Ich dachte nur einen Moment, dass du …“ Lexi verstummte und biss sich auf die Lippen.

Mit wild klopfendem Herzen sah Jenna ihre Tochter an. „Dass ich was?“

„Ach nichts.“ Scheinbar gleichgültig zuckte Lexi mit den Schultern, doch Jenna wusste genau, was sie gedacht hatte.

Dass ihre Mutter sich für Ryan McKinley als Mann interessiert.

Als Jenna zum Haus zurückging, wog die Last der Verantwortung auf einmal so schwer, dass sie fast davon niedergedrückt wurde. Was immer sie sich auch wünschen mochte – sie durfte nichts tun, was ihre Tochter noch mehr verunsicherte.

„Dr. McKinley hat mir übrigens erzählt, dass er in einem Leuchtturm wohnt“, bemerkte sie beiläufig.

„Er ist ein echt heißer Typ.“

Jenna warf ihr einen schockierten Blick zu. „Wie redest du denn, Alexandra? Du bist erst fünfzehn!“

„Fast sechzehn.“ Lexi öffnete die Kühlschranktür und untersuchte den Inhalt. „Also alt genug, um einen heißen Typen von einem Langweiler unterscheiden zu können. Aber keine Sorge, Mum, ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Du würdest einen aufregenden Mann nicht einmal erkennen, wenn du über ihn stolperst.“

Sie nahm ein Stück Käse aus dem Kühlschrank, warf die Tür wieder zu und drehte sich um. Als sie die beiden leeren Becher auf dem Küchentisch entdeckte, war die Spannung wieder da.

„Du hast ihn zum Kaffee eingeladen?“

Nein, das hat er selbst getan.

„Er hat die ganze Nacht gearbeitet und war todmüde. Da war es das Mindeste, ihm einen Kaffee anzubieten, nachdem er uns und unser Gepäck hergebracht hat.“

Lexi dachte kurz darüber nach. Dann grinste sie plötzlich. „Oje, der arme Kerl in den Fängen einer verzweifelten Geschiedenen. Ich nehme an, er war zu höflich, um abzulehnen.“

Sah Ryan sie auch so? Alt und verzweifelt?

Jenna hätte es nicht sagen können, und in diesem Moment ging ihr noch etwas anderes auf: In den anderthalb Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, hatte sie ihm ihr halbes Leben gebeichtet, während er ihr nichts erzählt hatte.

Absolut nichts.