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Ende April. Warm, fast schon heiß. Cromm hat ein Anliegen. Schweigsamer Zeuge. Ein Tanklastzug auf langer Tour. Warten und Hoffen in einem Abfüllbetrieb. Unkonventionelle Maßnahmen

Alle waren da. Im ersten Stockwerk der Räume der Gesellschaft in der Wollankstraße im Ortsteil Gesundbrunnen. Sie saßen um den großen abgeschabten Küchentisch: Felicitas Hahmann, genannt Feli, elegant, gekleidet in ein Kostüm von Céline, teuer und schön, mit ihrem schlanken Alu-Aktenkoffer direkt aus der Versicherungsagentur gekommen. Außerdem van de Loo, Eschweiler, Pfister, Tabak. Und Cromm, der vor allen anderen gekommen war, sich sofort ein Glas italienischen Rotwein eingegossen hatte und sich erst einmal vor den PC unten im Laden gesetzt hatte. Er wollte die jüngsten E-Mails lesen, bevor es losging. Außerdem alle Kameraaufzeichnungen kontrollieren, die den Laden und die Räume im Obergeschoss ununterbrochen überwachten. Sie waren sicherheitsbewusst, die Mitglieder der Gesellschaft. Sie hielten das nicht für übertrieben.

Alle waren gekommen und warteten. Cromm stieg die Treppe hoch in den Versammlungsraum.

»Wann geht’s los?« Es war Tabak, der gefragt hatte und dabei auf seinem Stuhl hin und her rutschte.

Van de Loo sagte: »Jetzt.«

Er wandte sich Cromm zu: »Silvio!«

Cromm räusperte sich. »Tja, das fällt mir jetzt nicht leicht …«

Sie spitzten die Ohren, denn dass Cromm zögerlich auftrat, hatten sie bisher nicht erlebt.

»Es ist … weil ich in gewisser Weise selbst betroffen bin.«

»In gewisser Weise selbst betroffen?«, fragte Feli. »Was willst du uns damit sagen?«

Cromm spürte, dass er sich umständlich ausgedrückt hatte und ärgerte sich. »Also gut, Klartext!«, sagte er. »Ich bin in der Klemme.«

Dieses Geständnis sicherte ihm die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

»Ihr wisst, dass es hier immer wieder zu Schutzgelderpressungen kommt. In Berlin stärker als in anderen Städten.«

»Weil hier das kriminelle Volk geduldet wird!«, kommentierte Eschweiler.

Van de Loo klopfte mahnend auf den Tisch. Er wollte keine Politdebatte.

Cromm hob abwehrend die Hand. »Warum auch immer. Jedenfalls ist vor allem die Gastronomie betroffen. Ihr wisst, dass ich als Geschäftsführer bei meiner Schwester mitmache.«

Allgemeines Nicken.

»Jetzt ist es passiert: Es hat unseren Betrieb erwischt. Wir werden erpresst, nicht nur wir, aber wir eben auch. Ein junger Typ ist vor gut drei Wochen vormittags ins Parma 1 gekommen, hat nach meiner Schwester gefragt und ihr dann ein sogenanntes Angebot gemacht.«

»Schutzgeld!«, rief Pfister.

»Nicht das simple Schutzgeld. Die sind raffinierter. Sie holen billigen Wein aus Italien und wollen uns zwingen, ihn zu kaufen. Für teures Geld. Man wird zum Kauf gezwungen.«

»Donnerwetter!«, entfuhr es Tabak. In der türkischen Szene, unter den Geschäftsleuten, gab es auch immer wieder mal Unruhe, aber es ging dabei selten um Schutzgeld. Die Erdogan-Leute setzten jene unter Druck, die sie als politische Gegner betrachteten. Das war etwas anderes. Das war Politik, schmutzige Politik.

»Ja«, sagte Cromm, »sie fordern von meiner Schwester, dass sie jeden Monat viele hundert Flaschen billigen Wein abnimmt. Das ist die etwas andere Methode der guten alten Schutzgelderpressung.«

Pfister war Biertrinker, nur Bier, am liebsten Pils und sonst nichts. Er kam auf eine aus seiner Sicht logische Idee: »Den Wein kannst du doch in den Lokalen verkaufen.«

»Diesen Wein trinkt kein Mensch. Das ist ein Putzmittel!« Cromm (der Weinkenner) regte sich auf. »Wir sollen zahlen und danach können wir das Zeug in den Gully kippen!«

»Und wenn nicht?«, wollte Pfister wissen.

»Wie – wenn nicht?«

»Wenn du nicht zahlst?«

»Dann wird es ernst. Dann kommen sie bei Nacht und fackeln dein Lokal ab. Habt ihr von dem Brand in Pankow gehört? Das Amalfi?« Manche nickten, manche guckten fragend.

»Das waren die, von denen ich spreche. Der Wirt wollte nicht mehr zahlen.«

Es gab eine Pause, in der alle ihren Gedanken nachhingen. Wobei die sich ähnelten: Gegen Kriminelle vorgehen? Das waren sie gewohnt. Zum Beispiel gegen Finanzhaie – da hatten sie zugeschlagen. Aber gegen die Mafia? Echte Mafiosi? Leute, die anderen die Hütte abfackelten? Das war ein ganz anderes Ding. Das war gefährlich …

»Ja, die sind gefährlich!« Cromm traf den Punkt. »Aber ich glaube, wir können sie packen! Passt auf …!«

Cromm nahm sein Tablet, wählte ein Dokument, öffnete es und begann seine Überlegungen vorzutragen: »Ich habe einen Plan … Um ehrlich zu sein, ich habe schon etwas unternommen.«

»Ohne uns zu fragen?«

»Die Gelegenheit war günstig. Ich musste handeln. Ihr werdet sehen, was ich meine. Ich fange an in Süditalien. Da gibt es eine Stadt, die heißt Lecce …«

Cromm entwickelte seine Ideen mit Fleiß und Überzeugungskraft. Die anderen folgten ihm gespannt.

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Dreiers Festnetztelefon klingelte. Dieser schöne, leicht verkratzte Oldtimer mit der Aufschrift Telefunken. Immerhin schon mit Tasten statt einer Wählscheibe. Hätte er ein moderneres Telefon gehabt, so hätte er auf einem Display sehen können, dass die Pforte ihn anrief. So aber …

»Dreier!«

»Hier Pforte 1, Bauer!«

»Ja?«

»Sie haben einen Besucher!«

»Ja?«

»Ein Herr Bianschi.«

»Bianchi!«

»Was?«

»Vergessen Sie’s. Ich erwarte ihn, ich hole ihn ab. Geben Sie ihm schon mal den Passierschein.« Dreier stand auf.

Als er sein Büro verließ, schloss er es ab. Das war Vorschrift. Eigentlich antiquiert, denn was sollte mit einem Nachkriegsfestnetztelefon und einem antiquierten PC passieren? Oder mit einem abgeschliffenen hölzernen Schreibtisch? Oder abgewetzten Stühlen? Und das alles mitten im LKA, das eigentlich ein sicherer Ort sein sollte. Fürchtete die Führung, dass sich die Kollegen gegenseitig die noch irgendwie brauchbaren Büroutensilien stehlen würden? Wäre das dann überhaupt Diebstahl? Oder Notwehr? Dreier verbannte die ketzerischen Gedanken und stieg die Treppe hinab. Dem alten Aufzug traute er nicht.

Da stand er, der Wirt, in der denkmalgeschützten und angejahrten Eingangshalle. Er stand vor der Sitzgruppe, auf der nie gesessen wurde und blickte auf Polizei-Plakate, die nie betrachtet wurden. Der Wirt: Vor ein paar Tagen noch ein Häufchen Elend und auch jetzt keine strahlende Erscheinung. Aber etwas besser sah er aus. Außerdem trug er heute keine zerknautschte Kochuniform, sondern ganz normale Freizeitkleidung. Dreier begrüßte den Mann und lotste ihn über das Treppenhaus in sein Büro, bot ihm den speckigen Besucherstuhl an, fragte ihn, ob er ein Wasser trinken wolle, nein? Ob er ihm seinen Ausweis oder Pass zeigen könne? Ah, er habe ja einen deutschen Personalausweis! Schön. Dann suchte er auf seinem PC das Formular für Zeugenaussagen. Es dauerte, bis das Betriebssystem sich herabgelassen hatte, das Formular zu öffnen.

»Herr Bianchi. Ich befrage Sie als Zeugen. Verstehen Sie?«

Bianchi nickte und rutschte auf dem Stuhl hin und her.

Weil Dreier sich nicht sicher war, richtig verstanden worden zu sein, fügte er erklärend hinzu: »Also nicht als Beschuldigten.«

Wieder Nicken.

»Ich nehme jetzt erst einmal Ihre Personalien auf.«

Dreier tippte ab, was er brauchte und las es zugleich laut vor. Dann sagte er:

»Es geht um den Brandanschlag auf Ihr Restaurant Amalfi in der Grabbeallee im Ortsteil Niederschönhausen im Bezirk Pankow. Es besteht kein Zweifel, dass Ihr Lokal angezündet wurde. Es wurde so viel Brandbeschleuniger verwendet, dass wir annehmen, dass man das gar nicht verheimlichen wollte. Das war wie eine Demonstration von Macht, eine Warnung. Alle sollten das wissen. Sie auch.«

Bianchi verzog keine Miene.

Dreier machte unverdrossen weiter: »Brandanschläge auf Restaurants – das kennt man inzwischen nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa. Es sind Warnungen. Von der Mafia. Stimmen Sie zu?«

Bianchi schwieg.

»Die wollen was, oder?«

Keine Reaktion.

»Sie kennen doch die italienische Szene in Berlin. Hier leben 20 000 Italiener. Meinen Sie, dass das Landsleute von Ihnen waren?«

Keine Antwort.

»Können Sie sich vorstellen, wer dahintersteckt?«

Immerhin ein Schulterzucken.

»Wer hat Sie unter Druck gesetzt?«

Bianchi schwieg und schaute interessiert auf seine gefalteten Hände.

»Ging es um Schutzgeld? Haben Sie nicht gezahlt? Oder zuerst vielleicht doch und dann nicht mehr?«

Bianchi schwieg.

»Ich verstehe, dass Sie Angst haben. Aber wir können Ihnen helfen. Auch die Mafia kann man knacken.«

Dreier lauschte seiner eigenen Stimme und fragte sich, ob er zuversichtlich genug klang. Ob er selbst das glaubte, was er da sagte.

Bevor ihn die Zweifel übermannten, machte er weiter: »Wir brauchen Zeugen. Wir brauchen Aussagen. Sie könnten damit anfangen und zeigen, dass Sie sich nicht alles gefallen lassen. Wir schützen Sie, das sollten Sie wissen.«

Dieser letzten Beteuerung fehlte es an Überzeugungskraft. Dreier war sich dessen durchaus bewusst. Das mit dem Zeugenschutz war schon manches Mal schiefgegangen. Mit schrecklichen Folgen.

Bianchi schwieg. Er guckte auf den Boden.

»Haben Sie schon einmal Schutzgeld gezahlt?«

Keine Antwort.

»Wurden Sie gezwungen, irgendwas zu kaufen? Irgendwelche Lebensmittel, die Sie gar nicht brauchten?«

Keine Antwort.

»Haben Sie Drohungen erhalten? Von wem?«

Keine Antwort.

Dreiers letzte Frage:

»Was sagt Ihnen …«, er blickte auf seinen Notizblock und las das Wort ab, »Addiopizzo?«

Bianchi reagierte. Sein Kopf fuhr hoch. Er schaute Dreier an, holte tief Luft und atmete hörbar aus.

Dann sagte er gepresst: »Sie wissen doch nichts. Gar nichts. Was wissen Sie denn über uns, über Italien und uns Italiener? Sie können nichts tun. Ich sage Ihnen nichts! Gar nichts!«

Das war für diese Situation eine lange Rede.

Dann fiel er wieder zurück in sein Schweigen, seine niedergeschlagene Körperhaltung und blickte zu Boden.

»Na ja«, sagte Dreier, »wenn alle sich verweigern würden, wäre die Mafia bald am Ende, oder?«

»Wo sind denn alle? Weggucken tun alle!«

»Weggucken?«

Der Wirt merkte, dass er zu viel gesagt hatte und verlegte sich wieder aufs stumme Brüten.

»Vielleicht könnten Sie Ihre Kollegen überzeugen, sich zu wehren? Was meinen Sie?«

Der Wirt winkte heftig ab: »Zu spät.«

»Sagen Sie, wer es war! Damit sich Ihr Widerstand wenigstens gelohnt hat!«

Der Wirt schüttelte den Kopf. Das war endgültig. Da kam nichts mehr. Dreier nickte. Immerhin hatte er eine indirekte Bestätigung. Er übertrug seine schriftlichen Notizen (viele Fragen, wenig Antworten) auf das Formular im PC. Das dauerte etwas, während sein Besucher teilnahmslos vor sich hin blickte. Dreier wollte das Protokoll ausdrucken und musste dazu das Büro verlassen, um den zentralen Drucker im Flur zu erreichen. Auch das kostete noch einmal Zeit. Dann legte er die ausgedruckten Seiten Bianchi vor und bat ihn, zu lesen und zu signieren. Der unterschrieb, ohne hinzusehen. Dreier brachte den Mann zurück zur Pforte und sagte zu ihm ein letztes Wort: »Überlegen Sie es sich. Ich bin jederzeit für Sie da!«

Der Wirt ging hinaus. Ohne Gruß, ohne Reaktion, ohne jede erkennbare Emotion. Dreier ging zurück in sein Zweierbüro ohne Zweierbelegung.

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Müde!

Bitte Ruhe!

Wer klopft da?

Aufhören!

Verdammt, wer hämmert da?

Antonio Pezzi tauchte auf. Aus tiefstem Schlaf tauchte er auf, wütend über die Störung, verwundert und auch ängstlich.

Es hämmerte an die Tür und zugleich rief es laut. Was war das? Wer machte so was?

Ein Blick auf die Armbanduhr: 3 Uhr 12 Minuten. Dunkle Nacht.

Pezzi kletterte aus der Koje nach vorne in das Führerhaus. Zog den Vorhang zurück. Schaute aus dem Seitenfenster. Sah erst einmal nur Dunkelheit, ein tiefschwarzes Nichts, von dem er schon noch irgendwie wusste, dass da ein Autobahnparkplatz sein musste, draußen im heißen schwarzen Nirwana. Sah dann zwei aufgeregte Gestalten auf seiner Fahrerseite, zwei mittelalte Männer, in T-Shirts und kurzen Hosen, Flipflops an den Füßen. Trucker wie er. Die hämmerten immer weiter an die Fahrertür, gestikulierten und riefen. Böse sahen sie nicht aus, aufgeregt eher.

Also gut, Pezzi seufzte, machte durchs Fenster eine Handbewegung, die »ich komme« signalisieren sollte. Vielleicht brauchten die Hilfe? Er machte Licht in seiner Kabine und öffnete ein Stückchen die Tür. Ein Schwall von Gesten und Rufen überfiel ihn, jetzt, inzwischen um 3 Uhr 13 Minuten. Sein Kopf war noch gar nicht richtig in Betrieb. Er hörte nur Fetzen: »Komm schnell!« – »Sauerei!« – »So ein Dreck!« – »Komm endlich!« – »Sieh doch nur!«

Schlaftrunken zog er sich ein Hemd über den Kopf, griff nach seiner Hose, schlüpfte ächzend in seine Turnschuhe, nahm den Schlüssel von der Mittelkonsole, griff unter den Sitz nach der Pistole (man konnte ja nie wissen) und schob sie hinten in den Bund.

Er öffnete die Tür.

Da roch er es. Es roch nach Auspuff und Diesel, nach heißer Nacht, nach sommerlich aufgeheiztem Gestrüpp. Aber vor allem roch es nach – Alkohol. Alkohol?

Pezzi kletterte die zwei Trittstufen hinab auf den warmen Asphalt. Die beiden Männer betrachteten ihn und schwiegen jetzt, aber es war ein drängendes Schweigen. Alkohol!

Pezzi schaute sich um, suchte Orientierung in dieser sommerlichwarmen Frühlingsnacht an diesem Autobahnparkplatz an der Autostrada A14, kurz vor Forlì. 700 Kilometer war er gefahren mit seinem Tanklastzug, von der Zona Industriale in Lecce, vom Sporn des italienischen Stiefels, Hunderte Kilometer Richtung Norden über die Autobahn bis hier, zu dieser Raststätte. In Bevano machte er gerne Pause. Es gab einen guten Autogrill. Ein sauberes Klo. Einen sicheren Parkplatz. Sicheren Parkplatz …? Pezzi geriet ins Nachdenken, wurde aber gestört.

Den beiden Männern war er zu langsam. Jetzt machten sie ihm Dampf. »Komm! Komm endlich!«, schrien die beiden. Sie zeigten nach hinten und liefen los. »Los! Schnell! Komm!«

Nachdem Pezzi leicht betäubt, noch müde, fast schon alkoholisiert von dem starken Geruch, mit den anderen beiden zum Heck seines Tankzugs gewankt war, traf es ihn wie ein Schlag. Unter dem Laster war eine blutrote Pfütze entstanden, dunkel schimmernd im schwachen Licht. Im Umfang vielleicht fünf Meter. Weil der Platz leicht schräg war, hatte sich ein Bach gebildet, beständig fließend zog er seine blutige Spur unter den anderen parkenden Lastwagen hindurch bis zum Gitterrost des Kanals, der alles aufnahm. Alles! Das lief da so einfach rein: 20 000 Liter Rotwein, fast schon verschwunden. Sein Wein! Daran gab es keinen Zweifel, denn es tropfte noch ein Rest aus dem Ventil am Heck seines Lkws. Pezzi sah es sofort: An diesem Ventil fehlte was. Es fehlte der Verschluss, jener Stopfen aus blankem Edelstahl, Schraubgewinde, zentimeterdick, gesichert, eigentlich dicht und normalerweise verlässlich.

Dann kam die Polizei.

Auch die noch, dachte Pezzi. Wieso Polizei? Die haben mir gerade noch gefehlt!

Ein dunkelblauer Alfa. »Carabinieri« stand auf der Flanke. Die beiden blauen Halbkugeln auf dem Dach schossen Blitze in die Nacht. Der Wagen näherte sich schnell, fast lautlos, und bremste erst kurz vor den drei Männern. Zwei Beamte stiegen aus, setzen sich die Mützen auf und kamen auf sie zu. Das Blaulicht ließen sie weiterlaufen. Es zerhackte die Szene in Stücke.

Bisher war Pezzi einfach erschrocken gewesen. Jetzt bekam er Angst. Die Beamten sahen sich die Riesenpfütze an, sahen den tropfenden Lastwagen und fragten: »Wer ist der Fahrer?«

Pezzi schluckte. »Ich«, sagte er.

Einer der Beamten machte einen Schritt zur Seite. Damit standen die Beamten nun nebeneinander. Einer von ihnen zog seine Waffe und richtete sie auf Pezzi. Der andere näherte sich ihm: »Nehmen Sie die Hände hoch. Drehen Sie mir den Rücken zu. Bewegen Sie sich nicht. Ich nehme jetzt Ihre Waffe an mich.«

Bericht für das Intranet der Carabinieri. 3:30 Uhr, A14, Autobahnraststätte Bevano Ost, MAN-Aufliegertanklastzug. Kennzeichen FX 586 AW, Baujahr 2014, zugelassen auf Valorvino Moretti Srl in Lecce. Eigentümer: Moretti, Giulio. Anschrift: Zona Industriale, Via Marcello Chiatante. Fahrer: Pezzi, Antonio, 56 Jahre, wohnhaft in Lecce. LKW kam von dort, war auf dem Weg nach Saulheim, Deutschland.

Ein Carabiniere im Telefonat mit seiner Wache: »Der Fahrer, dieser Pezzi sagt, er fährt diese Strecke mit der Ladung Industriewein alle paar Wochen. Immer von Lecce nach Deutschland. In irgendein Kaff in Westdeutschland. Dort soll das Zeug in Flaschen gefüllt werden. Hast du, ›nicht koscher‹ gesagt? Was weiß ich, ob das koscher ist? Trinkst du etwa Wein aus Tankwagen? Na siehst du! Kann uns egal sein! Jedenfalls hat dem einer den Tank aufgemacht. Nachts. Heimlich. Hinten auf, alles weg. Alles im Kanal. Riesensauerei. Dieser Antonio Pezzi hat aber noch ein Problem. Er trug eine Pistole im Hosenbund, eine SIG Sauer. Konnte nicht erklären, wie sie da hinkam, wo er sie erworben hat und einen Waffenschein hat er auch nicht. Ja, Strafzettel, wegen Umweltverschmutzung. Plus Verfolgung des Waffenbesitzes. Wir bringen ihn mit.«

Pezzi am Telefon: »Ja, Chef! Ja, Chef! Ich weiß, es ist fünf Uhr früh. So eine Sauerei. Die haben mich mitgenommen. Ich bin auf der Polizeistation Forlì. Ja, Chef! Alles weg. Doch, der LKW ist okay, nur kein Wein mehr drin. Nein, ich wars nicht. Ich hab geschlafen. In der Fahrerkabine. Alles wie immer. Da ist dann nur noch das mit der Waffe … Bitte, Chef, nein, oh nein, hallo? Hallo …?«

Moretti hatte aufgelegt. Er hatte geschlafen, als der Anruf kam. Jetzt war er wach, sein Puls war hoch, sein Blutdruck vermutlich zu hoch. Schlafen konnte er nicht mehr.

»Was denn …?«, murmelte seine Frau.

»Ach nichts, schlaf du nur!«

Er stand auf, wankte Richtung Badezimmer und dachte: Es sind harte Zeiten, irgendwie verdammt harte Zeiten …

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Zwei Tage danach. In Saulheim. Ein nicht allzu hipper Ort im nicht allzu hippen Rheinland-Pfalz. Es war so etwa zehn Uhr morgens. Was im Abfüllbetrieb Kapp nicht auf Anhieb zu erkennen war, denn die große Uhr in der Halle mit den Abfüllmaschinen zeigte halb zwölf Uhr, und das zeigte sie seit ein paar Jahren. Auch sonst schien es, als sei die Zeit stehen geblieben: die große Halle war in den Siebzigern gebaut worden, aus Betonfertigteilen, mit Stahlrahmenfenstern, unterteilt in viele kleine Scheiben, die mal geputzt werden müssten. Ein reiner Zweckbau, renovierungsbedürftig.

Waren das da oben etwa Spinnweben? Der gekachelte Boden: sah der ein bisschen schmierig aus? Gingen die drei Arbeiter mit ihren Gummistiefeln deshalb so vorsichtig?

Es roch säuerlich, nach Alkohol, nach Essig, nach irgendwie Altem. Die Abfüllanlagen: nicht mehr die jüngsten, aber sie waren immerhin geputzt, wurden gepflegt und taten ihren Dienst. Zu Kapp kamen die kleineren Winzer aus der Nähe, mit ihren paar hundert Litern Riesling oder dem roten Dornfelder. Es kam im Sommer ein Bauer mit seinen Fässern voll Apfelsaft und Apfelessig. Es kam immer im Herbst ein alternatives Pärchen, hinten in dem verbeulten Lieferwagen ein Bottich mit nach Holunder duftender, leicht trüber Flüssigkeit, die sie in mitgebrachte blaue Glasflaschen abfüllen ließen und dazu dann diese Etiketten, auf denen in Waldorfschulschrift »Lebenselixier aus Eckelsheim« gedruckt war. Die Arbeiter lachten über das Elixier und über die beiden in ihren wallenden Gewändern – aber nur hinter ihrem Rücken. Der Chef mochte das nicht. Man lacht nicht über Kunden, zumal wenn es nur wenige gibt.

Der Abfüllbetrieb Kapp konnte immerhin etwas, was andere nicht mehr konnten oder nicht mehr wollten: Man verkorkte Flaschen. Auf Wunsch sogar mit richtigen Naturkorken. Es gab auch Maschinen für Schraubverschlüsse. Aber da waren immer wieder Kunden, die wollten den echten Korken auf der Flasche. Zum Beispiel diese Italiener, die bestanden drauf. Das war zwar ein bisschen komplizierter, aber die wollten das einfach so.

Über den italienischen Abgesandten, der hin und wieder aus Berlin kam, mit einem schwarzen Mercedes, wurde nie gelacht. Er vertrat einen Händler, sagte er. Der Firmenname? Valorvino GmbH, Berlin. Dieser Italiener war ein finsterer Geselle. Von wegen »Bella Italia«! Nix da südliche Leichtigkeit! Damals, als dieser sogenannte Geschäftsführer aus Berlin erstmals gekommen war und wissen wollte, ob die Firma Kapp den Job übernehmen könnte, da hatte Kapp noch Fragen gestellt. »Wer sind Sie? Wer ist Valorvino?« – »Es gibt nichts zu fragen«, hatte der Italiener den Chef angeraunzt. Der hatte verstanden und von da an nur noch genickt.

Es ging um Wein. Vom Tank in die Flasche, Etikett drauf, Korken rein, Kapsel drüber. »Sie machen das, oder Sie machen das nicht. Noch irgendwas unklar?« – »Nein! Nicht! Alles klar!« Einen großen und regelmäßig wiederkehrenden Auftrag, den konnte der Abfüllbetrieb gebrauchen. Man musste nicht alles wissen. Zumal der Typ noch gesagt hatte: »Wir zahlen sofort.«

Wenn der große Tankwagen aus Italien angekündigt war (per E-Mail aus Berlin), mussten alle den kleinen und normalerweise vollgestellten Hof räumen. Weg mit dem Traktor, raus mit den alten Mopeds und den Fahrrädern. Platz da! Damit der Fahrer, dieser Antonio, rückwärts an die Halle rangieren konnte. Das tat er auch immer sehr professionell. Langsam manövrierte er den Tanklastzug durch die Einfahrt bis an das Hallentor. Die Arbeiter hatten schon die Schläuche ausgerollt. Antonio Pezzi, der zur Begrüßung immer nur zu nicken und zu brummen pflegte, kuppelte mit sicheren Handgriffen die Schläuche an seinen Lastwagen. Dann wurde gepumpt. Antonio schaute schweigend zu. Schweigend ließ er sich die Papiere unterschreiben. Brummend löste er die Verbindungen, tippte an die Stirn, leichte Kopfneigung vor Kapp, stieg ein und fuhr ab. Einfach so. Zurück blieben Alkoholschwaden und Dieselgeruch. Immer dasselbe. So etwa alle sechs Wochen. Auch über diesen Pezzi wurde nicht gelacht – noch nicht mal, wenn er wieder weg war.

Dann liefen die Abfüllmaschinen, es klirrten die Flaschen auf den Förderbändern, man hörte das Zischen der Verkorkmaschine, die zwar halbautomatisch arbeitete, aber per Fußpedale bedient werden musste. Schließlich das Aufbringen der Schrumpfkapseln und der Etiketten. Es war dann mal für Stunden laut und betriebsam in der Halle. Wie früher, dachte Kapp wehmütig. Damals war das durchgängig die ganze Woche so. Jetzt war es die Ausnahme.

Anschließend kamen dann die Polen. Sie nannten sie im Betrieb die Sprinter, weil sie diese Lieferwagen mit polnischen Kennzeichen fuhren. Auch sie eher schweigsame Gestalten, die warteten, bis der Gabelstapler die Paletten mit den Kartons mit je 12 Flaschen an den Hallenausgang gekarrt hatte. Sie luden still und manchmal leise ächzend ein. Sie fragten in einer Mischung aus Deutsch und Englisch nach den Papieren, sie unterschrieben unleserlich und los ging’s. Sie überluden ihre alten angerostete Dreitonner mit Todesverachtung. Es waren Fahrzeuge, die eine kleine Schlafkabine direkt über dem Führerhaus hatten. Mit diesen Lieferwagen konnten sie lange Strecken fahren und dabei alle gesetzlich vorgeschriebenen Lenkzeiten unterlaufen. Sie konnten, ohne zu zahlen, unter den Portalen für die LKW-Maut durchfahren. Die Sprinter mit polnischen Kennzeichen hatten sich massenhaft verbreitet auf deutschen Autobahnen. Sie wurden zur Konkurrenz der ordentlichen Spediteure und gesetzestreuen Fahrer. Alle wussten, wie diese Fahrer sich selbst ausbeuteten, auch die Polizei auf den Autobahnen. Alle schauten weg.

Heute Abend hätte der italienische Tankwagen eintreffen sollen. Es war Mittwoch, Pezzi-Tag. Der Hof war geräumt. Alles stand bereit – die Flaschen, die Korken, die Etiketten. Und die Arbeiter. Wo war Pezzi?

Kopfschüttelnd ging Prokurist Lothar Müller, ein Papier schwenkend, zum Chef, dem Inhaber des Betriebs in zweiter Generation.

»Schaun Sie mal, Herr Kapp. Die Italiener bleiben weg!«

Müller hatte die Mail aus Berlin ausgedruckt. Der Chef verlangte es so. Er weigerte sich, am Bildschirm zu lesen.

Kapp las, las zweimal und regte sich auf. »So geht’s doch nicht. Die Anlage steht. Gebucht für 20 000 Liter, für 27 000 Flaschen!«

Weiß ich, dachte Müller.

Kapp: »Einfach abgesagt. Ohne Begründung!«

Er schaute Müller an und sagte: »Was das für ein Ausfall ist! Wir hätten doch sonst …!«

Ja, was sonst? Nein, dachte Müller, da ist nichts sonst. Das ist ja das Problem.

»Ich würde denen gerne eine Rechnung schreiben«, sagte Kapp. Und er wiederholte: »Einfach abgesagt!«

»Eine Rechnung? Wirklich?« Müller blickte seinen vorübergehend mutigen Chef erstaunt an.

»Aber das sind halt spezielle Kunden …« Kapp kam zurück in die Wirklichkeit.

»Allerdings!« Das hast du jetzt davon, dachte Müller. Spezielle Kunden? Das sind Kriminelle!

»Also ist es vielleicht besser, keine Rechnung zu schreiben?« Kapp dachte laut nach und blickte seinen Prokuristen hilfesuchend an.

»Ja, Chef!«

»Was heißt: Ja, Chef?«

»Keine Rechnung. Ich frage mal an, ob sie später kommen. Oder wann das nächste Mal. Richtig?«

»Ja, Müller! Machen Sie das!«

Müller machte sich Sorgen. Der Wein aus dem Tank wurde bei ihnen in Flaschen in Bordeaux-Form gefüllt und dank echter Korken und einer edlen Etikettierung verwandelte sich das rote dünne Zeug in einen drei Jahre alten Negroamaro Puglia IGP, laut Etikett »Imbottigliato in Cantina, Distributione Valorvino Srl Lecce«. Was das hieß? Keine Ahnung. Sie wollten es nicht wissen. Der Chef hatte beim ersten Mal eine Probe genommen und einen kleinen Schluck getrunken. Danach hatte er nichts gesagt, nur die Stirn gerunzelt. Müller hatte auch probiert. Grauenhaft! Furchtbar! Die beiden Männer hatten sich nicht angeguckt.

Es war ein schräger Auftrag, den sie da hatten. Das war ihnen schon klar. Bezahlt wurde jedes Mal mit Verrechnungscheck, der im Briefumschlag per Post kam, direkt nach Erfüllung des Auftrags, der Scheck bezogen auf Valorvino in Berlin.

Kapp und Müller, das ungleiche Paar, hatten sich schon länger Gedanken gemacht. Da war vor Jahrzehnten dieser Skandal mit dem Glykol im Wein gewesen. Unvergessen. Damals war das Frostschutzmittel als kräftige Beigabe in einfachem Wein entdeckt worden, der in den Achtzigerjahren in der Nachbarschaft abgefüllt worden war. Das hatte den gesamten rheinhessischen Absatz einbrechen lassen, Winzer und Abfüller gerieten in die Krise. Auch die ehrlichen Winzer mussten leiden. Lange her, zum Glück. Seitdem hatte sich der Markt erholt. Rheinhessenwein war kein Schimpfwort mehr. Aber alle, die mit Wein zu tun hatten, waren wachsam. So etwas wollten sie nicht noch einmal erleben. Ein Tanklastzug mit italienischem Kennzeichen? Bei der Firma Kapp? Hm!

Andererseits war dieser Auftrag wichtig. Es lief nicht gut beim Abfüllbetrieb Kapp. Er brauchte dringend Aufträge. Diese Kunden, diese Italiener, waren ziemlich robuste Typen, die nicht viel von Verträgen und Geschäftsbedingungen hielten. Müller ahnte, dass man mit denen besser nicht streiten sollte. Also sagte jetzt Prokurist Müller in versöhnlichem Ton zum Chef Kapp: »Okay, Chef!«, ging in sein Büro und tippte, die Zungenspitze zwischen den Lippen, eine Nachricht an die italienischen Auftraggeber in Berlin.

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»Wein alle!« Silvio Cromm las die knapp gehaltene E-Mail auf seinem Smartphone und lächelte. Er freute sich. Wein alle, das wars! Es hatte funktioniert. Bald würde er mehr wissen.

Cromm saß am frühen Abend im Büro, im ersten Stock, über dem Ladenlokal der Gesellschaft für unkonventionelle Maßnahmen. Die Botschaft »Wein alle« hatte eine stimulierende Wirkung: Er bekam Lust auf ein Glas Wein. Cromm stand auf, ging nach hinten in die Teeküche und öffnete den Kühlschrank. Er hatte Lust auf einen deutschen Weißen, was für ihn ungewöhnlich war, alle kannten seine Vorliebe für rote Italiener. Nein, dachte er, heute keinen Roten, nun gerade nicht. Man muss seine Umwelt auch mal überraschen. Er zog eine Flasche Appenheimer »Riesling von der Kreide 2017« aus dem Kühlschrank, die hatte Felicitas Hahmann mal vor Monaten da reingestopft, nachdem er ihr als Gastgeschenk mitgebracht worden war. Sie hatte nicht gewusst, ob das ein guter oder schlechter Wein war. Das war nicht ihr Ding. Sie trank manchmal Aperol Spritz oder Hugo. Cocktails. Cromm hasste Cocktails. Er goss sich ein Glas Weißwein ein und ging zufrieden nach vorne.

»Prost!« In spöttischem Ton.

Van de Loo missbilligte Cromms reichlichen Weinkonsum, ging aber nicht dagegen an und beließ es hin und wieder bei Anspielungen. Oder beim kritischen Tonfall, wie jetzt gerade.

»Oh, der nüchterne Herr van de Loo!« Auch Cromm beherrschte Ironie. »Ich greife, wie du siehst, zu unkonventionellen Maßnahmen.«

»Bitte?«

»Na, ich trinke einen deutschen Weißwein! Zum Wohl!«

»Wenn das schon unkonventionell ist, dann bist du aber langweilig geworden!«

»Dir passt es nicht, stimmt’s? Dass ich jetzt schon Wein trinke?«

»Silvio, du bist schon groß. Von mir aus kannst du dir mit Barolo die Zähne putzen!«

»Das wär schade! Aber pass auf: Es gibt einen Anlass!«

Cromm genoss sein Wissen und spannte van de Loo auf die Folter.

»Spann mich nicht auf die Folter!«

»Na, ich habe hier eine Mail. Text: ›Wein alle!‹ Gut, was?«

»Wein alle?«

»Wein alle! Es hat funktioniert! Meine italienischen Freunde, die sind gut!«

Cromm hielt van de Loo die offene Hand hin und wollte abklatschen. Davon hielt van de Loo gar nichts. Gimme five? So ein Stuss! Er ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. Altmodisch und korrekt.

Cromm grinste. Van de Loo lächelte. Jeder wusste um die Macken des anderen.

Die Aktion hatte gut angefangen. Jetzt allerdings mussten sie weitermachen.

Van de Loo angelte sich einen der herumstehenden altersschwachen Küchenstühle, einen, der nach Fünfzigerjahre aussah, aus blondem Holz, mit roter flach gepolsterter, plastikbezogener Sitzfläche, schon ein bisschen schmierig. Er zog den Stuhl hinüber vor Cromms Schreibtisch, rubbelte erfolglos über die Sitzfläche, setzte sich, strich mit dem Zeigefinger über die Armlehne, betrachtete missbilligend die Fingerspitze, seufzte und sah Cromm schweigend an.

Cromm war bei der morgendlichen Entscheidung für seine Garderobe seiner Vorliebe für Monochromes gefolgt und hatte sich für ein graues kurzärmeliges Hemd, schwarze Chinos und schwarze italienische Slipper entschieden. Ach so, und ein dünner Wollpullover, anthrazit. Um die Schultern gelegt.

Van de Loo hatte sich wieder mal unverschämt altmodisch und elegant zugleich angezogen: Olivfarbener leichter Baumwollanzug, hellblaues Hemd mit Umschlagmanschette. Er ließ die Manschettenknöpfe hervorblitzen; es waren kleine massiv-silberne Kugeln. Und dann noch diese Uhr! Eine Omega Speedmaster von 1970, mit einem braunen Lederband, für das ein Krokodil hatte sterben müssen. Eine von den vielen Uhren, die der Snob van de Loo in einem Mahagonischränkchen aufbewahrte. An den Füßen alte Budapester Schuhe, gepflegt und poliert.

So hocken wir hier gut gekleidet in einer schlecht geputzten Wohnung, dachte van de Loo. Mit Möbeln vom Sperrmüll. Und Fenstern, deren Scheiben fast blind sind.

Und in diesem Aufzug setzt der sich in die überfüllte U9, dachte Cromm, zusammen mit pakistanischen Küchenhelferinnen, indischen Bahaii-Gläubigen, alten Westberliner Junkies und einer Punk-Frau mit ihrem neurotischen Hund. Kein Wunder, dachte Cromm, dass er manchmal angemacht wird.

Für einen Schwulen sieht der eigentlich ganz normal aus, dachte van de Loo. Da bin ich selbst ja sogar stärker herausgeputzt als er. Die beiden Männer betrachteten sich ausdauernd und schweigend. Cromm reichte es und er sprach als Erster:

»Ich stelle dann mal einen Kontakt zu unseren Kunden her.« Er meinte die Wirte.

»Und zu deinem Polizeifreund.«

»Zu dem auch.«

»Das ist doch jetzt eine Demütigung für die Mafiosi.«

»Sie werden sauer sein.«

»Wir müssen mit einer Reaktion rechnen. Haben die sich eigentlich noch mal bei deiner Schwester gemeldet? Sie wollten euch doch auch den Wein unterschieben.«

»Nichts. Kein Mensch. Die haben jetzt anderes zu tun. Da fällt die neue Kundschaft erst mal aus.« Cromm rieb sich die Hände. »Ich vermute, in ihrer Zentrale in Italien ist die Kacke am dampfen.«

Van de Loo hasste solche Sprachbilder, ließ sich aber nichts anmerken. »Ja, den Erfolg kannst du verkünden. Das ist gut für unsere Moral.«

»Und wie gehen wir dann vor?«

»Also, du berichtest erst einmal von der gestoppten Weinlieferung. Und dass wir uns auf eine Aktion hier in Berlin vorbereiten müssen.«

»Hast du Angst?«

»Nöö. Haben wir uns nicht immer gewünscht, mal so richtig dick im Geschäft zu sein? Ist doch gut so, solange uns keine Fehler unterlaufen.« Van de Loo dachte nach. »Ach so, zum Schluss werde ich heute unsere Eintragung vorstellen. Wir sind jetzt ein richtiger e.V.«

»Wie die Kleingärtner.«

»Wir hatten es beschlossen. Einstimmig. Außerdem: Sei kein Schnösel! Kleingärtner sind okay.«

Cromm schluckte. Er hatte manchmal so einen Zug zur – na ja, also zur Überheblichkeit. Das ging dann mit ihm durch. Gut, dass er gerade einen auf den Deckel gekriegt hatte.

»Jaja«, sagte er. »Die sind sogar gerade wieder in Mode.«

Van de Loo war in Gedanken schon weiter: »… und dann frage ich noch in die Runde. Vielleicht gibt es Handlungsbedarf. Vielleicht haben die anderen etwas.«

»Ist dir langweilig?«, fragte Cromm. »Hättest du gerne mehr Spektakel?«

»Na, mit dem Wein läuft ja etwas. Aber wir wissen nicht, was daraus wird. Sind wir da einem kleinen Fisch auf der Spur oder einer großen Sache.«

»Hör mal! Wir sind im Einsatz gegen die organisierte Kriminalität. Härter geht es kaum, oder?«

»Ja. Aber vielleicht war’s das schon?«

»Unwahrscheinlich! Es geht um viel Geld. Da ziehen die nicht einfach so den Schwanz ein.«

»Na, sehen wir mal, wie es weitergeht. So eine weitere richtige unkonventionelle Maßnahme wäre nicht schlecht.«

»Stimmt, ist ja unser Geschäftszweck!« Van de Loo lächelte. Geschäftszweck traf es.

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Die »unkonventionellen Maßnahmen« führte der Verein im Namen, was damals, bei der Eintragung zum Stirnrunzeln bei einem Beamten geführt hatte: »Was’n das?«

»Ach, wissen Sie«, hatte van de Loo gesagt, »wir sind so eine fidele Rentnertruppe. Wir machen nur Späßchen!«

Und ihr habt se nicht alle, hatte der Beamte gedacht, dabei den Stempel aufs Papier gedrückt. »Schönen Tach noch …!«

Paul van de Loo, 72 Jahre, gut erhalten, 1,81 Meter groß, noch ziemlich fit, hatte bis vor zehn Jahren eine eigene Firma besessen. Damals. Von den Achtzigern bis Mitte der Zweitausenderjahre. Spree Motion, so hieß seine Filmproduktionsgesellschaft. Er hatte sie erfolgreich verkauft und viel Geld bekommen. Überraschend viel Geld. Glück gehabt, dachte er heute. Denn die Branche lief inzwischen nicht mehr gut. Jetzt, mit seinem Geld im Hintergrund und vor allem mit diesem Verein, fühlte er sich richtig gut.

»Du willst wieder so eine Art Firma, stimmt’s?«, hatte Tabak gegrinst. »Du vermisst die alte.«

»Ich vermisse nichts«, hatte van de Loo damals gesagt und ernst in die Runde geblickt. »Aber wir sind als einfacher Zusammenschluss ohne formale Hülle nicht handlungsfähig. Wir können nichts kaufen, nichts mieten, keine Rechnungen stellen. Deswegen ist es besser, wir werden zu einem richtigen Verein.« Ihm war bewusst, dass so eine Konstruktion kritisch werden konnte. Man wurde sichtbar, angreifbar und konnte haftbar gemacht werden. Das stand natürlich nicht in der Satzung, wo sich Gemeinplätze tummelten und Füllwörter Triumphe feierten.

Es ging ihnen in Wirklichkeit um Gerechtigkeit gegen Ungerechtigkeit. Das hieß konkret: Straftäter aufspüren, bloßstellen und daran hindern, weiterzumachen. Recht durchsetzen, wo Rechtsprechung versagen musste. Aber es ging auch um die Verhinderung von Unterdrückung und Ausbeutung, die nicht vom Gesetz sanktioniert wurde. Das war eine Gratwanderung. Allen im Verein war das bewusst. Fehltritte waren möglich. Aus Enttäuschung über die Justiz erwuchsen ganz schnell Rechthaberei und Selbstjustiz.

Aus Gesprächen mit Freunden kannte van de Loo die Verbitterung seiner Generation. Er konnte es nicht mehr hören, dieses Jammern und Zetern. Die Verklärung der Vergangenheit, in der alles besser gewesen sei, vor allem die Straßen sicherer und sauberer, die Arbeitgeber verlässlicher, die Politiker kantiger, die Produkte ehrlicher. Es gab immer wieder aufflammende Rufe nach privater Polizei, nach Bürgerwehr und nachbarschaftlicher Selbsthilfe.

»Ihr trauert doch nur eurer Jugend nach«, hatte er seine hadernden Freunde angeblafft. Die waren beleidigt. Und van de Loo hatte sich das gemerkt: Nicht jeder Ärger über staatliches Handeln rechtfertigt eine Eigenmächtigkeit. Er hielt sich (und seinen Gesellschaftern, wie er sie nannte) zugute, dass sie sich selber kontrollierten, um nicht abzurutschen in eine irgendwie geartete Form der Selbstjustiz. Jedes Projekt wurde gemeinschaftlich diskutiert, von allen begutachtet, nur nach einstimmigem Beschluss auf den Weg gebracht. Und auch danach wurde die Sinnhaftigkeit des jeweiligen Projekts immer wieder infrage gestellt.

»Wir sind ja nicht einfach so eine Art Firma«, hatte ihm Cromm damals mit auf den Weg gegeben.

Van de Loo hatte genickt. »Stimmt. Ich bitte um euer Vertrauen.«

Das hatte die anderen beeindruckt.

»Finanziell sind wir als Vereinsmeier besser dran, das habt ihr doch begriffen, oder?«, war ihm Felicitas Hahmann beigesprungen. Das hatten nicht alle verstanden. Also fügte sie hinzu: »Der Verein kann legitime Geldgeschäfte abwickeln. Klar?«

Natürlich war auch jetzt noch nicht allen alles klar. Aber die Ausdrucksweise fanden sie gut. Echt Feli.

»Mag sein«, hatte Pfister genörgelt, »aber wenn wir ein Verein werden und du Vorsitzender, dann wirst du zum Boss. Du wirst Bestimmer. Ich kann Bestimmer nicht leiden. Hab ich noch nie leiden können.«

Seit dem Sandkasten geht’s dir so, hatte Cromm gedacht, da musst du irgendwann einen Klaps zu viel mit dem Schippchen abgekriegt haben.

Pfister war antiautoritär durch und durch, arbeitete in einer genossenschaftlich geführten Schreinerei, lebte in einer demokratisch-selbstbestimmten Männer-WG in Steglitz, war ehrenwert und treu, analog und umständlich. Seit ihm der Verein geholfen hatte, als er Opfer einer kriminellen Attacke geworden war, liebte er diese Gesellschaft und ihre Mitglieder. Sein Protest war ernst gemeint, aber seinen Platz hier würde er niemals aufgeben.

Inzwischen hatte Pfister, der langsam alternde Junggeselle, eine Frau kennengelernt. Den anderen hatte er nichts erzählt. Das ging die nichts an. Sie hieß Eeva-Elina. Das war finnisch. Sie war durch und durch Finnin und sah auch so aus. Eeva-Elina arbeitete als Referentin für finnische Kultur an der Finnischen Botschaft. War dunkeläugig und dunkelhaarig, auch Single, fleißig, genügsam, trank keinen Alkohol – was bei Finninnen eher selten war – und vermisste die heimatliche Stille. Ihr erschienen die Berliner zu laut, zu schnell und zu redselig. Die Rheinländer kannte sie nicht.

Pfister war ihr begegnet, als seine Schreinergenossenschaft den Auftrag erhalten hatte, Bücherregale aus finnischer Birke ins Kulturreferat der Botschaft einzubauen. Maßarbeit. Er hatte alles sorgfältig ausgemessen und dabei war sein Blick auf Eeva-Elina gefallen, die am Schreibtisch saß und zurückgeguckt hatte. Sie hatte nicht nur geguckt, sie hatte ihn gesehen. Sie hatten sich mit erwachender Sympathie angeschwiegen. Mehr war da nicht gewesen. Na ja, zunächst jedenfalls.

Pfister war in Gedanken abgeschweift und hatte etwas verpasst: »Ich will uns professionell aufstellen!«, hatte van de Loo gerade ausgeholt. »Aufstellen« war so ein Managerwort. Es war ihm rausgerutscht und er konnte es nicht zurücknehmen. Jetzt musste er durch. »Ich stecke Geld in diesen Verein und das mache ich gerne, ohne Anspruch auf Rückzahlung, einfach aus Freude an unseren Aktionen.«

Irgendjemand murmelte skeptisch »Hört! Hört!«

»Ja, Freude. Es macht uns allen doch Freude, wenn wir Sachen erfolgreich durchziehen. Wenn Menschen, die in Angst gelebt haben oder die man betrogen hat, wieder aufleben und Gerechtigkeit erleben. Wenn die Täter in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht werden. Das ist uns das Ganze wert. Aber dazu braucht es Geld. Je größer die Nummer, umso mehr. Ich bin unter euch der mit dem meisten Geld. Ich protze nicht. Ich sage, wie es ist.«

»Wissen wir!«, hatte Feli fröhlich gerufen.

»Brauchst dich nicht schämen.« Cromm hatte gelächelt.

»Ich schäme mich nicht. Wir haben das ja besprochen. Wir sind jetzt ein eingetragener Verein. Wenn unsere Projekte Gewinn abwerfen, nehme ich so viel, wie ich reingesteckt habe. Der Rest bleibt in der Kasse. Wenn unsere Projekte mehr Geld kosten, als sie einbringen, auch okay, dann ist das eine verlorene Investition. Hauptsache, die Dinge laufen in unserem Sinne.«

»Mich langweilt das alles.« Das war damals von Eschweiler gekommen und demonstrativ hatte er sich die f6, die er lange zwischen den Fingern gerollt hatte, angesteckt.

Felicitas hatte erstens der Rauch gestört und zweitens diese bräsige Einstellung: »Ist aber wichtig!«

Auch Tabak war damals van de Loo beigesprungen: »Ja. Ich verstehe dich. Ich finde es gut, wie du das machst.«

Van de Loo hatte sich über den Zuspruch gefreut und den Widerspruch verdrängt. Das alles war ein paar Tage her.

Also war die Gesellschaft für unkonventionelle Maßnahmen seither ein e.V., ein eingetragener Verein. Vorsitzender: Paul van de Loo. Silvio Cromm trug den Titel Kassierer und hatte die Buchführung der Gesellschaft übernommen, er hatte Übung darin. Auf dem Vereinskonto kontrollierte er die Geldeingänge: Sie kamen immer von einem bestimmten Konto bei der Commerzbank, Filiale Charlottenburg. Und die Ausgänge: für Einkäufe und Material. Manchmal auch Geldanweisungen für Leute, die der Gesellschaft zugearbeitet hatten. Die sich dann ihre Honorare über Western Union oder MoneyGram an Orte im Nirgendwo anweisen ließen. So Sachen halt. Die Gesellschaft war ein richtiger e.V., wenn auch ein wenig anders als andere eingetragene Vereine.

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Jetzt, kurz vor sechs Uhr abends, trudelten die anderen ein. Sie betraten das Haus nicht durch den Laden. Da hing an der Tür sowieso das fleckige »Closed«-Schild. Sie hatten die allgemeinen Öffnungszeiten abgeschafft, es hatte mehr Aufwand als Ertrag bedeutet. Zu oft kamen unangemeldet Spinner in den Laden und mussten mühsam herauskomplimentiert werden. Oder empörte Sparkassenkunden forderten eine Vergeltungsaktion wegen der Schließung der Zweigstelle in ihrem Kiez. Die Gesellschaft hatte gelernt und bestand mittlerweile auf Terminen nach Vereinbarung.

Tabak, sportlich wie immer, kam per Mountainbike. Feli hatte irgendwo um die Ecke ihr Mini-Cabrio geparkt. Pfister kam von der Bornholmer Straße, er war treuer S- und U-Bahn-Kunde. Den Bus hielt er für einen Umweltverschmutzer. Eschweiler war im Job Autofahrer und privat genervter S-Bahnfahrer (»… die sind doch dauernd verspätet!«).

Alle kamen innerhalb von zehn Minuten. Tabak verwendete einige Zeit damit, sein schönes Rad mit zwei schweren Schlössern zu sichern. Sie gingen durch die zweiflügelige Hoftür nach hinten in den kopfsteingepflasterten Hof, betraten das Treppenhaus und klingelten an der alten fleckigen Tür im Erdgeschoss. Die Kamera war ziemlich gut versteckt. Cromm öffnete ihnen nach einem Blick auf seinen Monitor und mit einem Griff zum Türöffner. Sie betraten die hinteren Ladenräume, das Lager mit den staubigen, fast leeren Regalen, sie gingen die schmale Innentreppe mit den knarzenden Holzstufen hoch. Und alle, wirklich alle, gingen als Erstes in die kleine Teeküche, holten sich Becher oder Gläser, holten sich Filterkaffee aus der Thermoskanne, Zucker oder H-Milch (Cromm hatte alles vorbereitet) oder Wasser aus dem Kühlschrank. Niemand riskierte einen Blick auf Cromms Weinflaschen. Die waren tabu.

Alle saßen. Auf höchst unterschiedlichen Stühlen am alten und fleckigen Küchentisch. Feli mit einem Tablet vor sich. Pfister legte seine Handwerkerhände parallel nebeneinander auf die Tischplatte, brav und aufmerksam wie ein Labrador. Tabak stopfte die Fäuste in die Achseln, blickte neugierig in die Runde und wer wollte, konnte seine Bizepse bewundern. Und Eschweiler? Wie immer ausgerüstet mit einem Päckchen f6, mit Streichhölzern und vor sich auf dem Tisch ein Drehascher aus Messing. Wenn man oben auf den Knopf drückte, wurden Asche und Kippe nach innen geschleudert, ein Relikt aus dem Westdeutschland der Fünfzigerjahre, Flohmarkterwerbung, Eschweilers Stolz. Die anderen fanden das Ding albern.

Es ging los.

Van de Loo begrüßte die Runde.

»Liebe Freunde und werte Vereinsmitglieder!«

Niemand lachte. Er kann’s nicht lassen mit der Ironie, dachte Feli.

»Es gibt gute Nachrichten. Silvio hat eine Mail bekommen. Wir sind mitten drin im Getümmel! Bitte, Silvio!«

»Genau!« Cromm hatte seinen Weißwein ausgetrunken, das Glas hörbar auf dem Tisch abgestellt und verkündete stimmungsvoll: »Also, hört her! Hier ist die Botschaft: ›Wein alle!‹«

Die anderen rollten die Augen. Das sah man doch!

»Freunde!«, rief Cromm und wiederholte: »Der Wein ist alle!«

Jetzt spinnt er, dachte Tabak.

Er trinkt zu viel, dachte Pfister.

»Bist du frisch verliebt?«, fragte Eschweiler.

»Ist er schön?«, fragte Feli.

»Oh, ich bin so was von solo«, antwortete Cromm wahrheitswidrig. Überhaupt ging es die anderen nichts an.

Also wurde er ernst und sagte: »Das ist der Wortlaut der E-Mail, die ich vorhin bekommen habe. Ganz knapp: ›Wein alle.‹ Und das ist die vereinbarte Formulierung unserer Freelancer in Italien. Das heißt im Klartext: Der LKW aus Süditalien mit dem Tank voller Wein wird nicht in Deutschland ankommen. Er hat seine Ladung verloren.«

Zunächst herrschte Stille. Man hörte entfernt den Verkehrslärm von der Wollankstraße. Und das Geläut von der Stephanuskirche, die jetzt, wie immer werktags um 18 Uhr, auf sich aufmerksam machte.

Dann redeten alle – aufgeregt, freudig, laut und neugierig durcheinander: »Erzähl!« – »Wie ist es gelaufen?« – »Ladung verloren? Wie sieht das aus bei Wein?« – »Nun sag schon!«

Cromm genoss die Aufmerksamkeit. »Unsere italienischen Freunde sind einfach dem Tanklastzug gefolgt. Irgendwann, als der Fahrer Pause machte, wurde der Tankinhalt seinem eigentlichen Bestimmungsort zugeführt: dem Kanal!«

Die Botschaft löste Freude aus.

Cromm fuhr mit seinem Bericht fort: »Ich vermute, in Lecce, also am Mafia-Firmensitz, ist der Ärger riesig. Aus drei Gründen: Erstens haben sie die Ladung verloren und die Polizei wurde eingeschaltet. Zweitens können sie nicht wie üblich für den billigen Wein viel Geld kassieren. Drittens wissen sie nicht, was da eigentlich passiert ist und wer dahintersteckt. Der letzte Punkt macht ihnen sicher am meisten Sorgen. Die Unruhe dürfte groß sein.«

»Macht doch nichts!«, warf Tabak ein.

»Nein, das ist sogar gut«, sagte van de Loo. »Wenn sie aufgescheucht sind, machen sie Fehler.«

»Die werden nicht aufgeben?«, fragte Feli.

»Niemals«, sagte Cromm. »Das sind Mafiosi. Es geht um ihre Existenz.«

Pfister räusperte sich und hob wie ein Schüler die Hand. »Dann sollten wir uns darauf einstellen«, forderte er.

Nicken ringsum.

Cromm zögerte. »Schön, dass ihr das so seht. Aber wir sollten zunächst abwarten. Die da unten«, er zeigte in eine Richtung, in der Italien liegen sollte, »müssen sich erst mal auf ihr künftiges Vorgehen einigen. Dann können wir uns vorbereiten. Ich bleibe dran und ich werde es als Erstes hören, wenn die da unten«, er zeigte nochmals in die Richtung, »von uns gestoppt werden müssen.«

Van de Loo übernahm. »Gut so weit. Das läuft doch erfreulich an. Noch Fragen oder Bemerkungen?«

Tabak hatte eine. »Wir holen diesen Pizzabäckern hier in Berlin die Kohlen aus dem Feuer, oder?«

»Wie meinst du das?«

Sein Ton wurde härter: »Na, ich meine, dass wir den italienischen Gastwirten helfen und uns dabei vielleicht in Gefahr begeben. Könnten die nicht vielleicht irgendwie mitmachen? Es geht doch um sie und ihr Geld!«

Tabak blickte in die Runde und suchte Bündnispartner.

Cromm räusperte sich. »Hm, du hast recht.«

»Und?«

»Ich werde sie zusammentrommeln und mit ihnen darüber sprechen.«

»Gut. Das habe ich gemeint.« Tabak war beruhigt und lehnte sich zurück. Er hasste Trittbrettfahrer.

»Weitere Fragen?« Van de Loo wollte zum nächsten Thema kommen. Da keiner sich äußerte, nickte er und sagte: »Dann also weiter in der Tagesordnung. Einverstanden?«

Er blickte in die Runde und sah Zustimmung. »Dann …«, wollte er fortfahren, wurde aber unterbrochen.

»Ich möchte eine rauchen. Kurze Pause?«

Eschweiler wartete die Reaktion der anderen nicht ab. Er griff zu seinem Zigarettenpäckchen und den Streichhölzern, stand auf und ging hinaus. Nach ein paar Sekunden sah man ihn rauchend unten vor dem Laden auf dem Bürgersteig stehen, dicht neben einer Sitzbank, die ein Obdachloser als seine Heimstatt gewählt hatte – nachts Schlafzimmer, tagsüber Wohnzimmer. Der Obdachlose sagte etwas, Eschweiler gab ihm eine Zigarette und zündete sie ihm an.

Die anderen gingen in die Teeküche, Getränke holen. Pfister hatte ganz hinten im Schrank ein Päckchen Erdnüsse entdeckt. Er ignorierte das Haltbarkeitsdatum, riss es auf und schüttete die Nüsse in eine Tasse, die er fröhlich in das Zimmer schleppte.

Dann saßen sie wieder einträchtig zusammen. Eschweiler kam von draußen. Er roch nach Rauch.

Van de Loo lehnte sich zurück. »So, wir sind zurzeit gut im Geschäft. Was gibt es sonst?«

Er blickte in die Runde.

Felicitas Hahmann hatte etwas. »Also«, sagte sie und leckte sich die Lippen, »vielleicht ist das was. Keine große Geschichte. Aber hört es euch mal an.«

»Bitte, Feli!« Cromm gab ihr das Wort.

»Es geht um einen Mandanten von mir. Lange bevor er zu mir kam, hat er sich auf ein Angebot seiner Bank eingelassen. Fondssparplan. Er zahlte monatlich eine feste Summe ein, und die Bank legte das Geld für ihn an. Er zahlte nicht schlecht: monatlich fünftausend Euro.«

»Ha!«, machte Eschweiler und betastete seine f6-Packung.

So viel Geld hat einer übrig, wunderte sich Pfister. Was kann denn das für einer sein?, dachte er abfällig.

Feli machte weiter. »Also, dieser Typ hat jahrelang eingezahlt. Bis er mal auf seinen Auszügen entdeckt hat, was ihm das bringt. Und vor allem, was ihn das kostet.«

»Ach du je«, sagte Pfister. »Mir kommen die Tränen.«

Feli musterte ihn kritisch. »Auch Leute mit Geld sind Menschen«, knurrte sie.

»So ist es«, sagte van de Loo.

Pfister, der plötzlich intensiv die Resopaltischplatte betrachtete, riskierte einen Seitenblick auf van de Loo und schwieg. Durch den Kopf ging ihm unvermittelt ein alter Schlachtruf der autonomen Szene: Macht kaputt, was euch kaputtmacht! Wie kam er nur darauf?

»Also, mein Kunde hat da jahrelang eingezahlt. Und dabei wurde er permanent abkassiert: Von der Bank erst einmal beim Abschluss, dann jährlich für die Aufbewahrung im Depot, von der Fondsgesellschaft bei jedem einzelnen Kauf von Anteilen und dann gab’s da auch noch eine Managementgebühr – für was auch immer. Es ging ständig was weg von seinem erhofften Gewinn. Der Wertzuwachs blieb überschaubar, kein Wunder. Hätte er Aktien oder Fonds direkt gekauft, stünde er viel besser da.«

»Das hat er doch mal so unterschrieben, oder?« Sogar bei van de Loo hielt sich das Mitleid in Grenzen. »Das hätte er wissen können!«

Pfister nickte erst langsam, dann immer schneller.

»Vor dem Abschluss«, sagte Feli, »haben sie ihm eine schöne Rendite in den höchsten Tönen angekündigt. Er hat ihnen geglaubt. Daraus wurde nichts.«

»Selber schuld!« Tabak erschienen Geldanleger, wenn sie so hohe Beträge in die Hand nehmen konnten, grundsätzlich zwielichtig. »Nee, das ist nichts für uns! Kein Mitleid!«

Feli blickte in die Runde. Pfister biss sich auf die Lippen. Und auch sonst fand sie keine Bündnisgenossen. Cromm wollte die Sache nicht so hart abschließen: »Wie könnten wir denn vorgehen? Die Bank beschuldigen? Den Aktienfonds angreifen? Es weiß doch jeder, was die so treiben.«

»Seht ihr das alle so?«, fragte Feli.

Pause. Schweigen.

»Na gut.« Sie zuckte die Schultern. »War nur so ’ne Idee!« Und sie fügte hinzu: »Inzwischen wird er natürlich super beraten!«

»Ja klar. Von dir!«, sagte Tabak.

Alle lachten, sogar Feli. Aber eigentlich meinte sie es ernst. Sie arbeitete in einer Versicherungsagentur als Vermögensberaterin. Und das machte sie ziemlich gut. Für ihre Beratertätigkeit kassierte sie ein beachtliches Honorar, aber sie nahm keine Kickbacks oder was es sonst noch an versteckten Belohnungen im Finanzgewerbe gab. Das hatte ihr im Laufe der Zeit Glaubwürdigkeit verliehen und ihr einen kleinen, feinen Kundenkreis zuwachsen lassen. Davon konnte sie gut leben, sehr gut sogar. Aber weil sie sich dabei langweilte, machte sie mit Freuden bei der Gesellschaft mit. Sie brachte ihr Insiderwissen ein.

Feli sagte versöhnlich: »Na gut. Dann eben nicht.«

Eschweiler räusperte sich.

»Ja?«

»Ich hätte da was, also vielleicht …« Er blickte sehnsüchtig auf die Zigarette, die er bereits aus der Packung gezogen hatte, und verkniff sie sich fürs Erste. »Ich weiß auch nicht …«

Wenn Eschweiler sich äußerte, hörten alle hin. Er war immer ganz vorsichtig, sehr zurückhaltend. Es musste schon ernst sein, wenn er den Mund aufmachte und ein Projekt vorschlug.

»Sprich!«, ermunterte ihn van de Loo.

»Aber nur, wenn ich rauchen darf!«

Es entstand Gegrummel. Erstens reichte es den meisten. Es gab genug zu tun. Und dann auch noch dieser Raucher. Die Fraktion der Tabakabstinenten hatte inzwischen die absolute Mehrheit. Van de Loo hatte vor einem Jahr seinen geliebten Zigarillos wehmütig aber entschieden Lebwohl gesagt. Sein Arzt hatte ihn gewarnt. Jetzt war Eschweiler der letzte bekennende Raucher. Und dann auch noch diese f6! Diese Ossi-Zigarette, deren Hersteller stolz darauf war, den DDR-Geschmack und -Geruch über die Jahre gerettet zu haben.

Van de Loo spürte die angeheizte Stimmung. Er wollte jedoch Eschweiler – dem, der so selten etwas sagte – seine Chance geben. Also sagte er: »Freunde, wir machen einfach noch mal eine kurze Pause. Eschweiler, du kannst rauchen, und ihr anderen könnt andere Bedürfnisse befriedigen. In zehn Minuten geht’s weiter und dann hast du das Wort.«

Eschweiler war zufrieden.

Es kam Bewegung in die Versammelten. Cromm verschwand zielgerichtet in der Teeküche und steuerte den Kühlschrank an. Felicitas folgte ihm, schwenkte aber zum Wasserkocher; sie brauchte einen Tee. Pfister schlug den Weg zur Toilette ein. Eschweiler dachte diesmal nicht daran, den Raum zu verlassen, steckte sich seine Zigarette an, stand auf und ging ans Fenster. Nur zum Rausschauen. Aufmachen war nicht üblich, außer wenn mal die Putzfrau kam und sonst niemand im Raum war und das war selten der Fall.

Van de Loo gähnte und hing seinen Gedanken nach. Das Rauchen hatte er sich abgewöhnt. Stattdessen sollte nun die körperliche Ertüchtigung neu in sein Leben treten. Auch dies ein Erfolg seines Arztes, der seine Laborwerte studiert und unzufrieden den Kopf geschüttelt hatte. Van de Loo hatte sich Zeit seines Lebens nie mehr bewegt, als unbedingt notwendig war. Er hasste das Schwitzen. Öffentliches Abstrampeln in einem Fitnesscenter? Niemals! Oder gar Joggen, während die Jungen ihn lächelnd überholten? Wie entwürdigend! Kam nicht infrage!

Aber der Arzt war hartnäckig geblieben, hatte ihm ein Faltblatt gezeigt und ihn nach Hause geschickt mit dem freundlichen Kommentar, dass er etwas tun müsse, ansonsten rate er ihm zur baldigen Abfassung seines Letzten Willens. Ärztlicher Humor, dachte van de Loo, fühlte sich aber getroffen.

So erwartete van de Loo für morgen die Lieferung einer Spedition. Eine Lieferung in seine Wohnung. Da sollte ein Rudergerät kommen, so ein amerikanisches Wunderprodukt, sehr teuer, aus Eichenholz. Man konnte angeblich gleichzeitig Rücken, Arme und Beine trainieren. Wenn man wollte. Wenn man bereit war, ins Schwitzen zu geraten. Und wenn man diszipliniert war. Van de Loo traute sich Disziplin zu. Sein ganzes Leben war Disziplin gewesen, bis jetzt. Disziplin begann für ihn schon um sechs Uhr, wenn der Wecker summte. Er hätte das Ding zum Schweigen bringen und sich umdrehen können. Die Zeit hatte er ja. Aber aus genau dieser selbst verordneten Disziplin heraus zwang er sich zum Aufstehen. Er würde sich ab sofort zum regelmäßigen Rudern zwingen. Er musste nur noch einen Platz freiräumen, am besten in seinem Arbeitszimmer. Im Wohnzimmer hätte er es auch gerne gehabt, aber seine Freundin hatte ihn gewarnt: »Du kannst gerne dein Geld dafür ausgeben. Aber sehen will ich’s nicht.« Sie hatte gewonnen.

Van de Loo schüttelte gedankenverloren den Kopf. Niemand sonst wusste von seinem Rudervorhaben und er war froh, dass er es nicht erläutern musste.

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»Weiter geht’s!«

Alle die draußen gewesen waren, kehrten zurück in den Versammlungsraum. Es war heiß, mittlerweile muffig plus Zigarettengeruch, aber da ließ sich nichts machen, wenn man nun mal beschlossen hatte, die Fenster nie zu öffnen, nie, nie, höchstens im Notfall. Irgendwann hatte Cromm zu ihnen gesagt: »Wir sind halt in Sachen Lüftung die Gesellschaft für unkonventionelle Umstände.« Sicherheitsdenken, verordnet von Eschweiler.

Der hatte jetzt seinen Auftritt. Sie setzten sich, rückten an den Tisch heran und schauten auf ihn, der seine f6-Kippe mit dem kurzen Filterstück auf die Drehscheibe des messingfarbenen Aschers legte, den Knopf drückte und vergnügt zusah, wie der Stummel trudelnd ins Innere verschwand.

»Hightech!«, kommentierte Pfister die Aktion.

»Du musst es wissen, du digitaler Analphabet!«, knurrte Eschweiler.

Pfister guckte beleidigt.

Eschweiler räusperte sich und sagte umständlich, wie er war: »Ich habe da jemand kennengelernt.«

Cromm, der die anderen kannte, speziell ihre Spottlust, blickte warnend in die Runde. Die Warnung kam an.

»Ich bin doch seit einem Jahr angestellt bei diesem Hersteller von Geldautomaten.«

Allgemeines Nicken.

»Ihr wisst ja, was mein Job ist. Ich fahre durch Berlin und Brandenburg und mache den Service: Geldautomaten reinigen, neue Software aufspielen, Sicherheitstest und so. Jeden Tag eine andere Strecke, andere Bankfilialen oder Einkaufszentren. Langweilig, aber einigermaßen gut bezahlt.«

Eschweiler hatte zuvor in einem Elektronikmarkt in Steglitz gearbeitet. War fristlos gefeuert worden. Ohne Grund, wie Eschweiler selbst fand. Weil er private Aufträge erledigt habe, hatte damals der Chef gebrüllt. Weil er nebenbei an seinem Arbeitsplatz immer mal wieder was für die Gesellschaft gemacht hatte, wussten die anderen. Er hatte als Rache für die Kündigung dank seiner Kenntnisse das ganze IT- und Telefonnetz des Markts in ein tageslanges Chaos gestürzt und sich hinterhältig lächelnd verabschiedet. In dem neuen Job durfte er die anarchistischen Triebe nicht ausleben.

Er sagte: »Gerade haben Amerikaner den Laden in Paderborn übernommen, die haben sofort diese amerikanische Tour eingeführt: mehr arbeiten, härter rangehen, nicht so genau hingucken beim Service, hopp, hopp. Das finde ich nicht so gut. Aber ich bleibe. Bis was Besseres kommt.«

Eschweiler nahm sich eine Zigarette, sah sie gedankenverloren an und legte sie auf den Rand des Aschers. Die anderen wussten, dass man ihm Zeit geben musste. Sie sahen ihn an und vermieden es, zu gähnen oder ungeduldig auf den Stühlen hin und her zu rutschen.

»Alle sechs Monate fahre ich nach Paderborn in die Zentrale. Zwecks Schulungen. Da ist ein junger Ami für mich zuständig, Jeremy Lions. Ein IT-Experte. Ich kann viel und weiß fast alles. Aber der ist besser. Ein Genie! Der denkt übrigens genau wie ich: zu viele Controller überall und zu wenige Techniker. Qualität wird nicht mehr geschätzt. Und das mit der Ethik und Moral sind nur Parolen. Fürs Marketing, aber nicht fürs Geschäft. Darüber haben wir diskutiert. Er ist in Ordnung, obwohl er Ami ist.«

Gibt’s das?, dachte Pfister.

Mach hin!, dachte Tabak.

»Der ist schon lange hier im Land, spricht Deutsch, na ja, so einigermaßen.«

Jetzt müsste er langsam mal zur Sache kommen, dachte van de Loo.

»Ich komme zur Sache«, sagte Eschweiler. »Wir haben, als ich bei ihm war, nach der Schulung abends ein Bier getrunken, bei ihm um die Ecke, in einer Kneipe, wo man« – kurzer Blick auf die f6 – »zum Glück noch rauchen darf. Er hat erzählt, dass er vorher als IT-Experte bei einem Autohersteller war. In Wolfsburg.«

Autohersteller? Wolfsburg?

»Er war ausgeliehen von einer virtuellen amerikanischen Freelancer-Plattform, die heißt motorworld.com und bietet weltweit Autoingenieure, IT-Leute und Entwickler an, als freie Mitarbeiter. Die Plattform kassiert für die Vermittlung. Jedenfalls: Jeremy ist auch so ein Automann. Wir haben uns gut verstanden.«

»Das sagtest du schon«, knurrte Cromm.

Eschweiler blieb unbeirrt. »Nach dem dritten Bier hat er erzählt. Was er da in Wolfsburg so gemacht hat. Bevor es losging, hätten sie ihn überprüft. Aber wie! So etwas hätte er noch nie erlebt. Wie beim FBI! Lebenslauf rauf und runter, Familiengeschichte, bisherige Jobs, Finanzen offenlegen, politische Ansichten, Sicherheitscheck, Führungszeugnis. Dann, nachdem sie ihm einen Zeitvertrag gegeben hatten, musste er jeden Morgen am Eingang zur Entwicklungsabteilung das Handy abgeben. Er musste unterschreiben, dass er nichts rauslässt. Alles geheim. Sie haben ihn in die Abteilung für die Entwicklung des autonomen Fahrens gesteckt. Da hat er in einer Gruppe mit vielen anderen Ingenieuren gearbeitet, die meisten fest Angestellte, ansonsten Leute wie er, Freelancer. Sein Chef, der Abteilungsleiter, hat ständig neue Leute gesucht. Der Vorstand machte Dampf, weil sie das Gefühl hatten, die anderen seien ihnen voraus. Die Chinesen. Die Googles. Der Tesla-Mensch.«

Tesla-Mensch? Wen meinte er? Na, besser nicht unterbrechen.

»Bei der Arbeit haben sie trotz der Geheimhaltung ziemlich viel rausgelassen. Mussten sie ja. Wie soll man sonst Neues entwickeln? Er konnte vieles sehen, was absolut geheim ist. Und hat offenbar manches mitbekommen, das ihm zu schaffen macht. Das will er loswerden. Er sagte, er wäre ein ehrenwerter Typ. Er hätte in diesem scheinbar seriösen deutschen Automobilkonzern Sachen gehört, die er für kriminell halte. Er hätte es irgendwann da nicht mehr ausgehalten.«

Eschweiler näherte sich dem Schluss und erzählte, dass Jeremy Lions eine Vertragsverlängerung in Wolfsburg abgelehnt hatte, obwohl sie ihm angeboten worden war. Sogar für mehr Geld. Nein, er wollte nicht. Damit die nicht misstrauisch wurden, hatte er behauptet, er wolle zurück zu seiner Familie in die USA. Das hätten sie geglaubt, ihn aber noch unterschreiben lassen, dass alles, was er gesehen und gehört habe, geheim sei und dass er bei einem Verstoß gegen die Geheimhaltungsklausel mit den Juristen des Betriebs rechnen dürfe und das wären harte Hunde. Er müsse mit Knast rechnen. Da habe er gedacht: Ich doch nicht, ihr gehört in den Knast! Und dann sei er gegangen.

Jetzt in Paderborn habe er weniger Geld, sei überqualifiziert, aber es sei wenigstens keine kriminelle Firma. Diese Sachen, die er in Wolfsburg erfahren habe, die würden ihn jedoch in seinen Träumen immer noch verfolgen. Er würde gerne auspacken, sich von all dem befreien, wenn er nur wüsste, bei wem.

»Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm vielleicht helfen könnte. Er müsse keine Angst haben vor irgendwelchen Drohungen. Wenn er mit jemand reden wolle, hätte ich eine Adresse für ihn. Darüber wollte er nachdenken. So!« Eschweiler lehnte sich erschöpft vom langen ungewohnten Reden zurück, steckte sich, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen, die Zigarette an und zog den Rauch tief ein.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange am Stück gesprochen zu haben. Die anderen auch nicht.

Sie schwiegen. Und dachten nach. Wo war die Story? Da hatte einer Probleme mit einem ehemaligen Arbeitgeber – na und? Ein IT-Mensch mit Skrupeln – was geht’s uns an?

Niemand von ihnen war wirklich elektrisiert. Bis auf Pfister. Der verstand nichts von der Sache, hatte keine Ahnung von Technik, hielt Autos generell für Teufelswerk, aber er spürte, dass da jemand aus moralischen Gründen Probleme mit seinem Umfeld hatte, dass es um ehrenwerte Arbeit versus ehrlose Machenschaften ging. Dafür hatte er eine Antenne. Pfister nervte manchmal mit seinem Moralin, aber er spürte früher als andere, wenn es relevant wurde. Er gab sich einen Ruck und sagte:

»Interessant!«

Eschweiler blickte ihn erstaunt an. Er hielt Pfister für nett, aber beschränkt. »Ehrlich? Das meinst du wirklich?«

»Wirklich! Den sollten wir uns anhören.«