Kapitel 3

Sandra Leonhardt antwortete auf Karis Klopfen mit einem scharfen »Ja!«, das sich wie ein Nein anhörte.

»Wir werden die kommenden drei Tage miteinander verbringen. Da finde ich es sinnvoll, sich ein bisschen kennenzulernen«, begann Kari das Gespräch. Die Frau von Gereon Leonhardt stand am Fenster und starrte hinaus.

»Und eine der wichtigsten Regeln überhaupt hier lautet, dass Sie sich nicht am Fenster zeigen.«

Sandra drehte sich so schnell um, dass ihre Haare ihr wie Schnüre um den Kopf flogen. Lange, dichte Wellen, um die Kari, deren kinnlanges, haselnussbraunes Haar eher glatt war und in letzter Zeit etwas dünn wirkte, die Frau kurz beneidete.

»Hier ist doch niemand!«, schnaubte sie und breitete in einer theatralischen Geste die Arme aus.

»Dass Sie niemanden sehen, heißt noch lange nicht, dass hier keiner ist.« Kari ging an ihr vorbei, wobei der schwere Duft eines orientalischen Parfüms ihre Nase streifte, und zog die Gardinen zu. »Auf Düfte sollten Sie ebenfalls verzichten«, informierte sie die andere. Die zog die Brauen so hoch, dass sie fast den Haaransatz berührten.

»Was fällt Ihnen ein, ich mache …«, weiter kam sie nicht, denn Kari schnitt ihr das Wort ab.

»Sie machen die nächsten drei Tage genau das, was meine Kollegin und ich Ihnen sagen. Wir sind verantwortlich für Ihr Leben. Und für das Ihrer Tochter. Wir wissen, was wir tun.« Den letzten Satz sprach sie betont energisch. »Und wenn, was wir alle nicht hoffen, jemand ins Haus eindringt, bringen wir Sie in Sicherheit. Da ist eine Duftspur, die man von hier noch bis ans Nordkap riechen kann, nicht gerade hilfreich.«

Sandras Mund klappte zu. Ihr Blick flackerte kurz. Dann ließ sie ein lautes »Pfff« hören.

»Also schlage ich vor, dass Sie sich das Zeug abwaschen. Und zwar am besten jetzt gleich.«

Eigentlich war sie gekommen, um mit der Frau über andere Dinge zu reden. Das konnte sie jetzt knicken.

Sandra Leonhardt funkelte Kari böse an, erfreulicherweise kam es jedoch zu keinem weiteren Widerspruch.

»Wir reden später.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Kari. Beim Hinausgehen zog sie die Tür sanft hinter sich zu.

Bea hockte im Zimmer nebenan mit angezogenen Beinen auf dem Bett. Ihr Kopf lag auf den Knien. Sie schaute genauso finster drein wie ihre Mutter. Das Mädchen hatte von Sandra Leonhardt lediglich das intensive dunkle Grün der Augen geerbt, ansonsten kam es mit dem flächigen Gesicht und der leicht untersetzten Statur eher nach dem Vater. Bea wirkte noch sehr kindlich und deutlich jünger als fünfzehn. Ihr dunkelblondes Haar reichte bis zur Taille und es schien, als hülle sie sich darin ein.

»Hi Bea«, sagte Kari. »Kann ich mich zu dir setzen?«

Die Antwort bestand aus einem waidwunden Blick, einem Schniefen und einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Bea rutschte ein paar Zentimeter weiter, als Kari neben ihr auf dem Bett Platz nahm. Sie schaute stur geradeaus.

»Ich kann mir denken, dass das für dich hier jetzt ein merkwürdiger Zustand ist«, begann Kari. »Es sind nur noch drei Tage bis zum Beginn des Prozesses. Und sobald deine Mutter ausgesagt hat, wird man eine andere Lösung für euch finden.« Bea sagte nichts und rührte sich nicht. »Wir wollen euch schützen. Das ist dir klar, oder?«

Endlich wandte die junge Frau Kari ihr Gesicht zu. Sie mochte äußerlich ihrem Vater ähneln. Ihre Gefühlswelt schien eine andere zu sein. Sie wirkte verängstigt und verletzlich. »Vor meinem Vater braucht mich niemand zu schützen«, entgegnete sie leise.

Kari, die sie eines Besseren hätte belehren können, schwieg. Leonhardt war eiskalt und skrupellos. Die Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, konnte man allesamt im Bereich der Schwerkriminalität verorten. Er war Drahtzieher und Nutznießer eines großen Teils des Drogenumschlags in der Hansestadt. Getarnt als Geschäftsmann hatte man ihn lange nicht auf dem Schirm gehabt. Das BKA war bereits eine Weile an seiner Bande und ihm dran. Ergebnislos. Sämtliche Zeugen, die jemals gegen ihn hätten aussagen können, hatten sich eines Besseren besonnen. Oder waren gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Der Einzige, der überhaupt noch an Leonhardt dran gewesen war, war der ermordete Journalist. Das Material, das er zusammengetragen hatte, war unauffindbar. Leonhardt hatte sich nie zu der Geschichte geäußert, obwohl er in der Presse damit in Verbindung gebracht wurde. Der Mann machte sich überhaupt gerne unsichtbar. Aus der Öffentlichkeit hatte er sich vor Jahren zurückgezogen. Er schirmte sich ab und lebte gut geschützt in einer Luxusvilla oder im Ausland. Vielleicht hatte Sandra genau das gestört. Sie war wesentlich jünger als ihr Mann und hatte ganz bestimmt nicht vor, den Rest ihres Lebens hinter Mauern und Alarmanlagen zu verbringen. Trotzdem war Kari mehr als überrascht gewesen zu hören, dass sie gegen den eigenen Ehemann aussagen wollte.

»Du hängst an deinem Vater.« Kari legte Bea kurz die Hand auf den Arm. »Das kann ich verstehen. Mir ging es genauso mit meinem.« Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu. »Ich hing mehr an ihm als an meiner Mutter.« Was sie sagte, stimmte. Bea schien das zu spüren. Endlich sah sie Kari an.

»Du sagst es so, als würde er nicht mehr leben.«

Kari seufzte. Noch immer schmerzte der Verlust. »Stimmt. Er ist gestorben. Dennoch fühle ich mich ihm oft sehr nah.«

Sie lächelte Bea aufmunternd an.

Das Mädchen schnaufte vernehmbar. »Mein Vater lebt. Und auf einmal sagt mir meine Mutter, wir könnten nie wieder zu ihm zurück.«

Jetzt kam der schwierige Teil.

»Bea. Deinem Vater wird der Prozess gemacht. Er ist angeklagt, Dinge getan zu haben, die ihn für Jahre hinter Gitter bringen können.« Sie ließ ihre Worte kurz wirken, bevor sie fortfuhr. »Schlimme Dinge. Ihm wird Anstiftung zum Mord vorgeworfen. Wenn das stimmt, dann ist zu erwarten, dass er verurteilt wird.«

»Nur weil sie das sagt.« Beas Worte klangen wie ausgespuckt. »Diese Bitch.« Der Kopf lag jetzt wieder auf den Knien, die Haare flossen der jungen Frau bis zu den Füßen.

»Ich hasse sie. Ich hoffe, er findet sie und bringt sie um.«