Kapitel 6

Als Marlies übernommen hatte, warf sich Kari in ihrem Zimmer aufs Bett. Sie war müde und gleichzeitig aufgekratzt. Zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Irgendwann musste sie dennoch eingeschlafen sein, denn das Schrillen des Weckers riss sie aus einem Traum, in dem sie am Strand entlanglief und etwas jagte, das sich als Schatten herausstellte, der ihr unter den Händen zerfiel.

Das Erste, was sie an diesem Morgen sah, war ein Raubvogel. Der hatte im hinteren Teil des Gartens einen kleineren Artgenossen erlegt. Jetzt saß er in einem Bett aus den Federn seiner Beute und zerlegte diese seelenruhig. Selbst als Kari am Fenster auftauchte, hob er nur kurz den Kopf, ohne sich von ihr stören zu lassen. So war die Natur. Es galt das Gesetz des Stärkeren. Der tötete nicht zum Spaß, sondern um zu überleben. Dennoch löste der Anblick in Kari ein Frösteln aus. Als der Raubvogel über den Rasen hüpfte, gleich darauf wegflog, dabei den Rest seiner Beute in den mächtigen Klauen hielt, wandte sie sich ab, um in die Küche zu gehen.

Marlies hatte Kaffee gekocht und streckte Kari eine Tasse entgegen.

»Was ist mit unseren Gästen?«, wollte die wissen.

»Sind oben.« Marlies nippte an ihrem Kaffee und gähnte ungeniert. »Sandra war um sechs Uhr in der Küche, weil sie Durst hatte. Sie sah mitgenommen aus. Scheint keine gute Nacht für sie gewesen zu sein.«

»Und Bea?«

»Hat ihre Tage bekommen und sich vorhin eine Wärmflasche gemacht.«

Kari dehnte ihre Muskeln, die sich hart anfühlten. Es war kurz nach sieben, sie hatte kaum vier Stunden geschlafen. »Bin völlig verkrampft«, murmelte sie. Normalerweise wäre sie joggen gegangen. Heute änderte sie ihr Programm.

»Ich fahre zum Bäcker«, erklärte sie. Dabei kam sie ebenfalls an die frische Luft und hatte Bewegung. Sie holte ihr Rad aus dem Schuppen und schaute zum Himmel. Eine leichte Wolkendecke lag über ihr. Noch war es trocken, dennoch hing der Geruch nach Regen in der Luft. Sie stieg auf und trat kräftig in die Pedale. Sie nahm den Zufahrtsweg, der vom Haus zur Straße führte, und schlug von Witsum aus den Weg nach Nieblum ein. Die Kühle des Vormittags vertrieb recht schnell die letzten Fetzen von Müdigkeit aus ihrem Kopf. Vor einer beliebten Bäckerei in Nieblum hatte sich bereits eine kleine Schlange aus Einheimischen und Touristen gebildet. Obwohl es aus dem Inneren heraus verlockend duftete und der Geruch ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, wartete Kari geduldig, bis sie dran war. Anschließend verstaute sie die Tüten voller frischer Brötchen und zwei Brote im Korb ihres Rades. Im Ort herrschte bereits lebhaftes Kommen und Gehen. Sie bahnte sich ihren Weg zwischen Menschen, die mit Einkaufskörben oder Rucksäcken unterwegs waren, und Pulks von anderen Radfahrern hindurch, bis sie etwas entfernt von der Bäckerei wieder aufstieg. Zurück am Haus öffnete sie schwungvoll das Tor und bremste das Rad vor dem Schuppen ab. Noch bevor sie es dort abstellen und die Tüten aus dem Korb nehmen konnte, hörte sie hinter sich einen Wagen. Sie fuhr herum und ihre Augen weiteten sich. Ein ihr wohlbekannter roter Audi kam vor dem Haus zum Stehen. Der Fahrer stieg aus, betrat das Grundstück und kam auf sie zu. Sie sahen sich einige Augenblicke stumm an.

»Kari«, sagte Bent Sörensen schließlich. »Lange nicht gesehen.« Seine schiefergrauen Augen musterten sie mit einer Mischung aus Neugier und Freude.

Sie schluckte hart und nickte. Ihr letztes Treffen lag einige Wochen zurück. Sie hatte sich, am Morgen nach einem alkoholbedingten Absturz, in seinem Bett wiedergefunden. Es war nichts zwischen ihnen passiert. Doch sie spürte sehr genau, dass sich etwas anbahnen konnte. Eine Verbindung, die sie nicht wollte. Aus genau diesem Grund ging sie ihm seither aus dem Weg. War kein einziges Mal mehr in seiner Kneipe Zur blauen Möwe gewesen. Auch jetzt fuhr sein Anblick ihr unter die Haut. Die Jeans saß perfekt, die aufgerollten Hemdsärmel gaben die schlanken Muskeln seiner Unterarme frei. Sein schwarzes Haar war leicht zerzaust, als sei auch er mit dem Rad durch den morgendlichen Wind gefahren.

»Ja, ich war beschäftigt«, antwortete sie endlich.

Bent zog die Brauen hoch, erwiderte aber nichts darauf.

»Ich habe dich auf der Straße radeln gesehen und bin dir gefolgt«, erklärte er stattdessen. Er zeigte mit dem Kinn auf das Haus. »Was machst du denn hier?«

»Eine Freundin besuchen«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

Sie hörte, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde. Vermutlich Marlies, die nachsehen wollte, ob alles in Ordnung war. Bents Blick glitt über Kari hinweg zum Hauseingang. Seine Augen weiteten sich, er wurde blass. Kari fuhr herum. In der Tür stand nicht Marlies, sondern Sandra. Das Haar, feucht vom Duschen, hing ihr zu einem dicken Zopf geflochten über die Schulter.

»Gibts Frühstück?«, fragte sie mit Blick auf die Brötchentüten. Kari spürte, wie Zorn sie erfasste.

»Gleich. Geh ins Haus zurück.« Sie hatte die Stimme nicht erhoben. Der kalte Klang verbunden mit dem ungewohnten Duzen reichte, um Sandra zusammenzucken zu lassen. Als sie sich nicht rührte, funkelte Kari sie mit dem eisigsten Blick an, zu dem sie fähig war. Jetzt schien die andere zu begreifen, was los war. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand im Inneren.

»Das ist deine Freundin?« Bents Stimme war kaum zu verstehen. Er sah geschockt aus.

»Was dagegen?« Sie musste die Situation herunterspielen, ihm gar keine Möglichkeit bieten, Sandra und ihr eigenes Hiersein als merkwürdig zu empfinden.

Bents Hand schoss nach vorn. Seine Finger legten sich wie ein Schraubstock um Karis Arm. »Du musst weg hier. Sofort.« In seinen Augen erkannte sie nacktes Entsetzen.

»Warum?« Sie versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien.

»Weil du in Gefahr bist. Diese Frau … weißt du denn nicht, wer sie ist?«

Kari starrte ihn an. Sie wusste, wer Sandra war. Offensichtlich wusste es Bent ebenfalls. Dabei war Gereon Leonhardts Frau seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Es gab keine aktuellen Fotos von ihr in der Presse oder den Sozialen Medien, dafür hatte Leonhardt gesorgt.

»Woher kennst du sie?« Kari war dicht an ihn herangetreten und sprach leise, damit ihre Unterhaltung im Haus nicht mitgehört werden konnte.

»Spielt keine Rolle. Ist ihr Mann etwa auch hier?«

»Ihr Mann? Kennst du ihn

»Kari. Hör zu. Finde eine Ausrede, um dich zu verabschieden. Ich bringe dich an einen sicheren Ort. Du musst weg von hier. Von ihr.«

Noch immer hielt er sie fest. Sanft zog Kari ihren Arm aus seiner Umklammerung. »Mir geschieht hier nichts«, sagte sie leise. »Aber mir scheint, du solltest dich schleunigst davonmachen.«

Etwas in seinem Blick veränderte sich. Kari glaubte förmlich zu hören, wie sich die Erkenntnis in seinem Kopf zusammensetzte wie bei einem Puzzle.

»Du … du bist nicht mehr suspendiert. Stimmts?« Seine Lippen bewegten sich kaum bei diesen Worten.

Kari fühlte sich wie mit Eis übergossen. Innerlich fluchte sie. Die Situation war mehr als beschissen. Bent war einer der wenigen Menschen, denen sie sich vor Wochen anvertraut hatte. Nicht, dass sie ihm alles über ihren Job beim BKA und ihre Beurlaubung offengelegt hätte. Aber Bent war klug genug, um die Dinge miteinander in Verbindung zu bringen und richtig zu deuten. Genau das brachte ihn in Gefahr. Dabei war er es, der sie in Sicherheit bringen wollte. Die Angst um sie, die sie in seinem Blick erkannte, besänftigte sie.

»Bent, hör zu. Du hast weder mich noch sie hier gesehen. Du gehst jetzt. Schnell. Wir haben nett geplaudert. Das war alles. Du kommst nicht wieder hierher.«

Er schüttelte den Kopf, als wollte er widersprechen.

»Wenn du mir etwas Gutes tun willst, dann mach es so. Ich weiß, was ich tue, und komme zurecht.«

Er zögerte.

»Bitte«, sie legte all ihre Überzeugungskraft in dieses eine Wort.

Bent trat zögerlich einen Schritt zurück. »Nur, wenn du mir versprichst, dass du mich anrufst, falls du in Gefahr gerätst.«

»Versprochen«, antwortete sie. Obwohl sie überhaupt kein Handy zur Verfügung hatte. Aber genau das konnte sich jetzt ändern. »Vorausgesetzt, du besorgst mir ein Gerät mit einer anonymen Prepaid-Karte.«

»Wieso …«

»Mein Diensthandy kann ich dafür nicht nutzen«, schwindelte sie.

Sein Blick flackerte unruhig. »Wie kann ich es dir geben?«

»Gib es Jette. Sie soll es in meine Kate legen. Ich hole es dort ab.«

»Gut«, versicherte er ihr. »Heute Abend hast du es.«

Er schluckte schwer, als er zum Haus sah. Noch immer war er gespenstisch blass.

»Halte dich von hier fern«, bat sie ihn. Er nickte, kehrte zu seinem Wagen zurück und stieg ein. Auf einmal wirkte er, als könne er nicht schnell genug wegkommen. Kari verzichtete darauf, ihm zum Abschied zuzuwinken. Je unpersönlicher die ganze Angelegenheit aussah, desto besser. Als er wegfuhr, drehte sie sich um. Im ersten Stock erhaschte sie im Augenwinkel eine Bewegung hinter einer der Gardinen. Verdammt! Diese beiden Zeuginnen hielten sich an überhaupt keine Vorgaben!

»Marlies!«, rief Kari wütend, als sie das Haus betrat. Ihre Kollegin kam die Treppe heruntergestolpert.

»Was ist los?«, fragte sie aufgeschreckt.

»Sandra stand eben an der Haustür einem Fremden gegenüber. Du solltest doch aufpassen, dass so etwas nicht geschieht.«

»Hey, beruhige dich mal. Ich musste auf Toilette.«

»Wenn das so weitergeht, bitte ich Jo, dich von dem Fall abzuziehen«, erklärte Kari kalt. »Du bist mir bisher wirklich keine Hilfe.«

»Wer war das überhaupt?«

»Es war ein Fremder, der sich verfahren hatte. Was, wenn es einer von Leonhardts Leuten gewesen wäre?«

»Reg dich nicht so auf. Hier sind wir sicher«, brummte die andere, sah aber ganz und gar nicht beruhigt aus. Wenigstens merkte sie, dass hier etwas gewaltig schieflief. »Außerdem bist du auch nicht gerade erste Sahne.«

»Was hast du gesagt?« Kari glaubte, sich verhört zu haben. Sie stemmt die Fäuste in die Hüften und trat einen Schritt auf ihre Kollegin zu.

Deren Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Du warst eine ganze Weile in einem verdeckten Einsatz. Es lief schief. Das hat sich herumgesprochen.« Ein Anflug von Arroganz lag in diesen Worten.

Kari hob die Brauen. »Woher weißt du das?«

»Ich weiß, dass du suspendiert warst. Bis vorgestern, um genau zu sein. Aber Jo wird schon wissen, was er macht.« Das klang kaum versöhnlicher.

Kari senkte den Kopf und schluckte alles herunter, was sie darauf am liebsten gesagt hätte. Sie und Marlies mussten sich arrangieren. Zwei Tage noch, dann wäre dieser Einsatz beendet und jede von ihnen würde wieder ihrer eigenen Wege gehen.

»Er wird schon seine Gründe haben, warum er mich reaktiviert«, antwortete sie mit rauer Stimme, bevor sie sich umdrehte und die Küche verließ.