Als Kari an Beas Zimmer vorbeiging, hörte sie das Mädchen drinnen leise jammern. Sie klopfte und trat auf ein dumpfes »Herein« ein. Bea war blass. Sie lag im Bett, hatte sich auf die Seite gedreht, die Beine an die Brust gezogen und umklammerte die Wärmflasche auf ihrem Bauch.
»Krämpfe?«, fragte Kari und setzte sich ans Fußende.
Bea nickte.
»Kann ich was für dich tun?«
»Meine Mum hat Tabletten, sie holt sie gerade«, murmelte das Mädchen.
»Ich könnte dir einen Tee kochen.«
»Tee?« Bea verzog den Mund zu einer Grimasse und beide mussten lachen.
»Marlies wollte mir eine Yogaübung zeigen. Aber ich bin zu groggy dafür«, erklärte Bea weiter. »Morgen geht es mir wieder besser. Ist immer nur der erste Tag, der so schlimm ist.«
Im selben Moment betrat Sandra den Raum. »Ich habe Schmerztabletten für dich, mein Schatz«, sagte sie zu ihrer Tochter. Bea griff nach dem Blister und drehte ihrer Mutter demonstrativ den Rücken zu. Karis und Sandras Blicke trafen sich.
»Soll ich dir eine frische Wärmflasche machen?« Sandra stand unschlüssig im Raum. Ohne zu antworten, streckte Bea ihrer Mutter die kalt gewordene Wärmflasche entgegen. Die ergriff sie, streifte beide mit einem undefinierbaren Blick und ging zur Tür.
»Hör mal, Bea«, setzte Kari an, als Sandra den Raum verlassen hatte. »Ich weiß, dass das alles nicht einfach ist für dich. Das wäre es für niemanden. Aber du musst deiner Mutter vertrauen. Sie tut das Richtige.« Sie stockte kurz, weil Bea einen leisen Jammerlaut ausstieß. »Und sie tut das für euch beide. Sie liebt dich und möchte dich beschützen.« Ob das so stimmte, wusste Kari nicht. Liebe. Das konnte viel bedeuten oder wenig. Auf welcher Skala man Sandras Zuneigung zu ihrer Tochter einordnen konnte, war allerdings momentan unerheblich. Wichtig war nur, dass Bea sich nicht sträubte, ihre Bemühungen nicht blockierte und damit womöglich das gesamte Unterfangen torpedierte. Wenn sie sich so sehr nach ihrem Vater sehnte, wie es den Anschein machte, wäre sie unter Umständen zu unvernünftigen Dingen fähig. Das galt es zu verhindern. »Du wirst irgendwann verstehen, was das auch für sie bedeutet.«
»Ein neues Leben, in einem fremden Land? Ohne meine Freundinnen, ohne …« Sie brach ab und einen Moment lang durchfuhr Kari ein eisiger Schrecken. War Bea in einer Beziehung? Hatte sie einen Freund oder eine Freundin?
»Ohne wen?«, fragte Kari so leise, wie es ihre Anspannung zuließ. Bea, die immer noch zur Wand gedreht dalag, fuhr herum. »Alle Menschen, die mir etwas bedeuten, denen ich vertraue, muss ich zurücklassen.« Eine Träne lief ihr die Wange herunter, sie wischte sie mit einer heftigen Bewegung weg.
Kari legte der jungen Frau tröstend die Hand auf den Arm. Sie konnte und wollte ihr keine Märchen erzählen. Das Leben mit einer falschen Identität war nur im Kino cool und interessant. In Wirklichkeit bedeutete es, immer auf der Hut zu sein. Sich nie zu verplappern. Alles zurückzulassen, was einem lieb und teuer war. Dazu gehörten nicht nur Menschen, sondern auch Erinnerungen. Fotos. Briefe. E-Mails und Chats.
»Du bist fünfzehn«, sagte sie. »Fast dein ganzes Leben liegt noch vor dir. Auch wenn du es in diesem Moment nicht glauben magst – du wirst neue Freundschaften schließen. Neue Bekanntschaften knüpfen. Das geht in jedem Lebensalter.«
Wieder liefen Tränen über Beas Gesicht. Dieses Mal wischte sie sie nicht weg. Sie zog die Nase hoch, setzte sich auf und zog die Beine an. »Wie alt bist du?«, fragte sie.
»Mehr als doppelt so alt wie du. Zweiunddreißig.«
»Deine Freundinnen aus der Schulzeit, hast du sie vergessen?« Beas Stimme klang zweifelnd und sie zog die Brauen nach oben.
Kari biss sich auf die Lippe. Sie dachte an ihre Jugendfreundinnen. Nur Sesle war ihr geblieben. »Die Erinnerungen bleiben, aber es kommen andere hinzu«, sagte sie schließlich.
Beas Kopf sank auf die Knie. Ihr Blick glitt weg, sie wirkte nachdenklich.
»Hab Vertrauen zu deiner Mutter.«
»Vertraust du deiner denn?« Beas Mund zeigte ein schiefes Grinsen.
»Natürlich«, log Kari. Dabei war ihr Trine in ihrer Kühle und ihrem Pragmatismus immer fremd geblieben. Sie konnte Bea besser verstehen, als die ahnte.
Ein leises Geräusch von der angelehnten Tür her veranlasste Kari, dorthin zu blicken. Ein Schatten verschwand im Dunkel des Flurs. Hatte Sandra ihr Gespräch belauscht? Sie erhob sich. »Ich sehe später noch einmal nach dir. Gute Besserung.« Sie strich Bea mit den Fingern sanft über die Wange. Das Mädchen griff nach Karis Hand. »Versprich mir etwas.«
»Was denn?«
»Sobald du merkst, dass meine Mutter lügt, bringst du mich zu meinem Vater zurück.« Ihr Blick war so zwingend, dass Kari ein kalter Schauer über den Rücken lief.
»Worüber sollte sie denn lügen?«
»Das wirst du schon noch merken.« Bea ließ Karis Hand abrupt los und sich wieder auf den Rücken fallen. »Bitte!«, sagte sie. Auf einmal wirkte sie ängstlich.
»Ich tue alles, um dich zu beschützen. Darauf kannst du dich verlassen. Das kann ich dir versprechen.«
Bea blinzelte, bevor sie nickte und sich wieder der Wand zudrehte. »Scheiß-Regel«, murrte sie noch und Kari brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass das Mädchen ihre schmerzhafte Periode meinte.
»Melde dich, wenn du was brauchst«, sagte sie, bevor sie das Zimmer verließ.
Fünf Minuten später standen sich Kari und Sandra am Esstisch gegenüber. Sandra schraubte die frisch gefüllte Wärmflasche für ihre Tochter zu.
»Was haben Sie sich dabei gedacht? Heute Morgen einfach vor die Tür zu gehen?«, fragte Kari. Bemüht, ihre Stimme nicht anklagend, sondern ruhig klingen zu lassen. Dabei war ihr ganz anders zumute. Sie wusste zwar, dass Bent Sörensen keine Gefahr für Mutter und Tochter darstellte. Aber es war nicht auszudenken, was es bedeutet hätte, wenn es ein Fremder gewesen wäre. Jemand, den Gereon Leonhardt ausgeschickt hatte, die beiden zu finden.
»Tut mir leid.« Kari hatte befürchtet, die andere könne sich widerborstig zeigen. Doch Sandra schien gemerkt zu haben, wie leichtsinnig sie sich verhalten hatte. »Kommt nicht mehr vor.«
»Darauf müssen wir uns verlassen können.«
Sandra nickte knapp und verließ die Küche schnellen Schrittes.
Kari ging in den Wohnraum hinüber. Hinter ihr betrat Marlies den Raum.
»Ist ja nichts passiert. Hier ist weit und breit niemand.« Ein Achselzucken begleitete ihre Worte. Kari wollte gerade ansetzen, ein paar Takte über ihren Auftrag und ihre Arbeitsweise in Erinnerung zu rufen, als etwas außerhalb des Hauses ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Weit und breit niemand? Dann schau mal aus dem Fenster.«
Marlies drehte sich um und folgte Karis Blick.
»Scheiße«, entfuhr es ihr beim Anblick des Mannes, der in Sichtweite dort stand, wo ein schmaler Durchgang zum Vogelschutzgebiet führte. Er hatte ein Fernglas an die Augen gesetzt und sah genau in ihre Richtung.
»Jetzt kommt er hierher.« Marlies’ eben noch zur Schau getragene Unbekümmertheit war mit einem Schlag wie weggewischt. Sie wirkte jetzt hoch konzentriert.
»Geh du ihm entgegen. Ich gebe dir von oben Deckung.« Kari hatte bei diesen Worten ihre Waffe aus dem Holster genommen. Die beiden Polizistinnen nickten sich stumm zu, dann verließ Marlies das Haus, um dem Fremden entgegenzugehen. Kari lief die Treppe hinauf. Hinter der Gardine eines Fensters verbogen verfolgte sie das Geschehen. Ihre Kollegin schlenderte zum Tor. Der Mann hatte sein Fernglas heruntergenommen und kam geradewegs auf das Grundstück zu. Zeit genug, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Er war etwas mehr als mittelgroß, bewegte sich gemächlich. Als habe er keine Eile. Er war in Brauntönen gekleidet. Auf dem Kopf trug er eine Schiebermütze. Als er nahe genug war, sah sie, dass er eine alte Cordhose, ein lindgrünes Hemd und darüber ein Tweedsakko anhatte, das zu dick für die milden Temperaturen der letzten Tage war. Nichts deutete darauf hin, dass er eine Waffe bei sich trug. Aber das konnte täuschen. Das Fernglas hing ihm um den Hals, an seiner Schulter baumelte eine große Kameratasche. Sie hatte das Fenster einen Spaltbreit geöffnet.
»Moin«, grüßte er lebhaft, als er bis auf ein paar Meter an den Zaun herangekommen war.
»Moin«, gab Marlies ebenso laut zurück.
»Entschuldigen Sie, dass ich so hereinplatze. Jens Thönishoff mein Name. Ich suche ein Ferienhaus zur Miete.«
»Wir hier vermieten nicht.«
»Oh. Ja. Das dachte ich mir schon. Aber vielleicht kennen Sie jemanden in der näheren Umgebung. Momentan bin ich in einem Gasthof untergekommen. Aber die Familie will nachkommen. Dort, wo ich bin, gibt es keine freien Zimmer mehr. Von einem Ferienhaus ganz zu schweigen.«
»Da sind Sie ein bisschen spät dran. Hier ist die Saison bereits voll im Gang.«
»Hm«, machte er und drehte sich um, schaute in Richtung Meer. »Hätte ich nicht gedacht.« Er wandte sich ihr wieder zu. »Ich interessiere mich für die Tierwelt und die Naturschutzgebiete auf der Insel.« Er nestelte eine etwas zerdrückte Visitenkarte aus seinem Sakko. Marlies warf kaum einen Blick drauf. Kari konnte selbst von ihrem Standort aus die hohe Körperspannung ihrer Kollegin erkennen. Sie war auf der Hut, und das war gut so.
»Falls Sie was hören, klingeln Sie gerne durch. Ich gehe dann mal weiter Klinken putzen.« Der Fremde legte die Hand zum Gruß an die Mütze und stapfte den Weg, den er gekommen war, zurück. Marlies blieb am Gatter stehen und sah ihm nach. Kari konnte beobachten, dass er vor dem Zugang zum geschützten Strandabschnitt nach rechts abbog und in Richtung Hedehusum an der Düne entlang marschierte. Erst, als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, lief sie ins Erdgeschoss zurück.
»Check du die Daten dieser Visitenkarte. Ich gehe ihm hinterher. Will wissen, was er jetzt als nächstes macht.«
Marlies nickte, ihre Augen waren groß. »Denkst du …«
»Ich denke gar nichts. Ich will nur sichergehen«, schnitt ihr Kari das Wort ab.
»Bleib hier und halt die Augen offen«, mit diesen Worten war sie durch die Tür.