Die Luft war feucht, der Himmel bedeckt. Ein paar wenige Tropfen fielen bereits. Kari zog ihre Kapuze über den Kopf und trabte los. Die Strecke vom Haus nach Hedehusum führte über einen Weg, der sich zwischen der Godelniederung und dem Vogelschutzgebiet entlangzog und der von überall her gut einsehbar war. Kari lief noch nicht lange, als sie Thönishoff vor sich sah. Er hatte einen Fotoapparat gezückt und fotografierte zwei Dutzend Gänse, die laut schnatternd in einem weitläufigen Gehege herumliefen. Kari blieb stehen und machte ein paar Dehnübungen. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie den Mann. Der wiederum schien sich überhaupt nicht um andere zu scheren, er blickte sich nicht einmal um, als er endlich mit der Knipserei fertig war und weiterlief. Kari blieb eine Weile stehen, damit er sie nicht bemerkte. Sie konnte ihn hier nicht aus den Augen verlieren. Wenn er den Naturliebhaber nur spielte, war er gut darin. Immer wieder hielt er an, um etwas abzulichten. Eine Kuh, die es sich auf dem Grün gemütlich gemacht hatte. Eine Schar Vögel. Als es kurz hintereinander mehrfach laut knallte, sah Kari, wie der Mann vor ihr plötzlich zusammenzuckte. Er war jetzt auf Höhe des Schießstands vom Hegering Föhr , wo drei Männer herumballerten. Vermutlich schossen sie ihre Büchsen ein. Einen Moment lang blieb Thönishoff dort stehen und sah zu, bevor er weiterging.
Kurz darauf erreichte er Hedehusum und Kari schloss zu ihm auf. Inzwischen hatte der Regen etwas zugenommen und Thönishoff ging zügig auf einen dunkelgrauen Nissan zu, entriegelte die Türen, verstaute Fernglas und Kameratasche im Kofferraum. Er setzte sich hinters Steuer, ohne sich auch nur umzusehen. Kari trabte an ihm vorbei die Straße entlang. An der Bushaltestelle blieb sie stehen und tat so, als ob sie den Fahrplan studierte. Thönishoff fuhr an und verschwand in Richtung Utersum. Kari würde zurück zum Haus joggen, um das Kennzeichen überprüfen zu lassen. Innerlich fluchte sie darüber, noch kein eigenes Mobiltelefon zur Verfügung zu haben. Hoffentlich hielt Bent Wort und besorgte ihr eines. Bevor ihre Gedanken zu ihm abschweifen konnten, stoppte ein weißer Kleinwagen neben ihr. Die Scheibe an der Beifahrertür wurde heruntergelassen.
»Sie wollen nach Oldsum?« Eine Frau mit kinnlangem blondem Haar, reichlich Sommersprossen und einer Stupsnase beugte sich lächelnd in ihre Richtung. Kari war einen Moment lang verwirrt. Dann bemerkte sie, dass sie nah bei einer der weiß gestrichenen Mitfahrbänke stand, die es überall auf der Insel gab, und somit wirkte, als suche sie nach einer Mitfahrgelegenheit. Einer der Zeiger war heruntergeklappt und zeigte Oldsum an.
»Danke, nein.« Sie lächelte die Autofahrerin an. »Ich muss in die andere Richtung.«
»Na dann.« Die Stupsnasige ließ die Scheibe nach oben und fuhr schnittig weiter. Kari drehte um und lief den Weg bis zum Haus an der Godelmündung zurück.
»Ein Mietwagen. Wurde auf den Namen Jens Thönishoff auf dem Festland angemietet.« Marlies hob den Blick vom Display ihres Mobiltelefons, mit dem sie sich über ihren Dienst-Account in den Server des BKA eingeloggt hatte. »Ist das nicht ein bisschen komisch? Er hat doch gesagt, die Familie kommt nach. Wieso dann ein Auto mieten?«
»Vielleicht gerade deshalb«, antwortete Kari. »Sie haben nur ein Auto. Die Frau nimmt die Familienkutsche wegen der Kinder. Was hat die Überprüfung der Visitenkarte ergeben?«
»Es stehen nur eine Mobilfunknummer und eine E-Mail-Adresse drauf. Alle Angaben, die er gemacht hat, scheinen zu stimmen. Jedenfalls ist ein Jens Thönishoff in Bielefeld gemeldet. Er hat einen Blog. Dort postet er regelmäßig Naturfotos und schreibt etwas dazu.«
»Gibt es Fotos von ihm selbst?«
»Nö.« Marlies schüttelte den Kopf. »Ich habe im ganzen Internet kein Foto von dem Mann gefunden.«
»Wissen wir bereits, wo er hier auf der Insel abgestiegen ist?«
»Er hat von einem Gasthof in Wyk gesprochen.« Marlies nannte den Namen, der Kari nichts sagte.
»Gut, wir halten die Augen offen. Sollte er noch einmal in die Nähe des Hauses kommen, informieren wir Jo.«
Marlies schloss den Bildschirm und steckte ihr Mobiltelefon ein.
»Wie geht es Bea?«, wollte Kari wissen.
»Sie hat das Bett nicht verlassen.« Marlies seufzte. »Armes Ding. Ich hatte das ja nie, solche Krämpfe. Stelle ich mir unangenehm vor.«
In diesem Moment betrat Sandra Leonhardt den Wohnraum. Sie fuhr sich nervös durch die Haare, ihr Blick wirkte angespannt.
»Ich möchte mich nützlich machen«, erklärte sie den verdutzten Polizistinnen und bestand darauf, das Mittagessen zuzubereiten. »Mir fällt hier sonst die Decke auf den Kopf«, begründete sie, bevor sie in die Küche hinüberging. Kari folgte ihr. Sie hatte kein Frühstück gehabt und fischte sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank.
»Haben Sie heute früh mitgehört? Als ich mit Bea gesprochen habe?« Sie stellte sich mit dem Rücken zur Spüle, riss den Deckel des Bechers auf und angelte sich einen Löffel aus einer der Schubladen.
Sandra sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an.
»Sie können mich nicht leiden, stimmts?«, sagte sie, statt zu antworten. Sie ging an Kari vorbei zum Kühlschrank. Kein Parfüm. Überhaupt nichts, das intensiv roch.
»Wie kommen Sie darauf?« Kari schob sich einen Löffel mit Joghurt in den Mund und sah Sandra aus zusammengekniffenen Augen an.
»Sie halten mich für eine verwöhnte, affektierte Person, die glaubt, andere nach ihrer Pfeife tanzen lassen zu können.« Sie besah eine Schale mit Karotten, als verstecke sich darin die Antwort auf ihre Frage. Dann blickte sie hoch, blitzschnell. Kari fühlte sich an ein Tier erinnert, das zwischen Angriff und Flucht schwankt.
»Möglich, dass Sie das sind. Meine Aufgabe besteht aber nicht darin, Sie zu bewerten. Sondern darin, Sie bis zu Ihrer Aussage zu schützen. Wenn Sie es mir und meiner Kollegin leicht machen und mit uns zusammenarbeiten, geht das einfacher.«
Sandra stellte die Karotten auf den Tisch, legte ein paar Zwiebeln dazu und wühlte in einem der Schränke herum. Dort förderte sie eine Packung roter Linsen zutage.
»Ich koche eine marokkanische Suppe«, erklärte sie und ließ sich, bewaffnet mit einem Gemüseschäler, auf einen der Stühle fallen.
Kari hatte ihren Joghurt gegessen und warf den Becher in den dafür vorgesehenen Müllsack. »Ein Gericht aus der alten Heimat?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete die Frau am Küchentisch.
»Sie wissen über meine Herkunft Bescheid.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Was wissen Sie sonst noch?«
»Nicht viel«, gab Kari zu. Das, was Jo ihr auf die Schnelle beim Briefing während des ersten Telefonats über die Eheleute Leonhardt erzählt hatte, war kaum dazu gedacht, weitergegeben zu werden.
»Dann sage ich es Ihnen.« Ein Lächeln, das zwischen Erheiterung und Verbitterung schwankte, huschte über Sandras Gesicht. »Mein Vater war ein Bauer.« Wieder dieser schnelle, prüfende Blick. Sie wollte wissen, wie das Gesagte bei ihrem Gegenüber ankam. Kari zeigte nicht, dass sie das bereits gewusst hatte.
»Ein Bauer«, fuhr Sandra fort und nahm eine der Karotten in die Linke, den Gemüseschäler in die Rechte und begann, das Gemüse zu schälen. »Aber einer, der ganz besondere Felder bewirtschaftete. Kennen Sie Marokko?« Kari nickte knapp. »Aha. Dann wissen Sie vielleicht, dass es unwegsame Gegenden im Rif-Gebirge gibt, in denen im großen Stil Cannabis angebaut wird. Als ich ein Kind war, gab es keine Überlegungen, das Zeug zu legalisieren. Marokkanischer Kif war und ist noch immer hoch geschätzt. Bis heute gilt er vielen, die sich auskennen, als das beste Cannabis der Welt«. Sandras wegwerfende Handbewegung sollte wohl ausdrücken, dass sie sich aus dieser Droge nichts machte. »Man bringt es über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien und von dort in den Rest Europas. Bevor ich zur Welt kam, war das wesentlich schwieriger, weil es die EU mit ihren offenen Grenzen nicht gab. Der Preis, den ein Anbauer bekommt, ist verhältnismäßig niedrig, die Wertsteigerung erfolgt mit jedem Weiterverkauf. Mein Vater hatte schon früh feste Abnehmer. Anfangs waren das eher die Hippies, die sich und ihre Freunde selbst versorgten. Später wurde der Handel kommerzialisiert, aber da erzähle ich Ihnen nichts Neues.« Die geschälte Karotte landete in einer blauen Emailleschüssel. »Einer der größten Abnehmer meines Vates war Gereon, mein späterer Ehemann.« Kari war das kurze Zögern vor dem letzten Wort nicht entgangen. »Er hatte ein enges Netz aufgezogen, um Cannabis und andere Drogen von Marokko aus zu schmuggeln. Damals passierten einige Dinge, die mein Leben beeinflussen sollten.« Jetzt ratschte der Gemüseschäler wesentlich energischer über die Karotten. »Wir waren zu dritt. Ich bin das jüngste Kind meiner Eltern und die einzige Tochter.« Sie blickte kurz hoch, als wollte sie sicherstellen, dass Kari ihr weiter zuhörte, bevor sie fortfuhr, das Gemüse zu putzen. »Mein ältester Bruder starb als Erster. Bei einer Messerstecherei in Marseille, der Heimat unserer Mutter. Es war ein Bandenkrieg ausgebrochen. Der Mörder kam aus einer rivalisierenden Gang. Kurz darauf verunglückte mein anderer Bruder tödlich mit dem Wagen.« Sandra ließ die Hände sinken und starrte ins Nichts. Kari erkannte tiefen Schmerz in diesem Blick. »Er stand mir am nächsten und ich dachte, mir bricht das Herz.« Sie sank gegen die Lehne des Küchenstuhls. »Meine Mutter hat es nicht überlebt. Von einem Tag auf den anderen wurde sie zunehmend weniger. Und dann, eines Morgens, lag sie tot im Bett. Einfach so. Können Sie sich das vorstellen?« Sandra schien immer noch erstaunt darüber, dass ein Schicksalsschlag einen Menschen zerbrechen konnte. »Mein Vater beschloss daraufhin, mich zu verheiraten. Ich war gerade einmal siebzehn, als er mir Gereon vorstellte.« Sie seufzte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Einen Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag fand die Hochzeit statt.«
»Eine Art Verbindung, wie man sie schmiedet, um die geschäftliche Beziehung abzusichern.« Kari schob die Hände in die Hosentaschen.
»Sie sagen es. Ich hatte keine Wahl. Aber ich hätte es schlimmer treffen können. Zum einen bestand mein Vater damals darauf, dass ich ein eigenes Haus bekam. Für Gereon kein Problem. Es kam ihm zupass, dass er die Villa auf meinen Namen eintragen lassen konnte. Er zahlte sogar Miete, das war die zweite Bedingung meines Vaters. Er war altmodisch. Traditionell denkend. Aber sein einziges verbliebenes Kind wollte er abgesichert wissen. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich mir über Geld keine Gedanken mehr machen muss. Mein Mann«, wieder ein kurzes Zögern vor dem letzten Wort, »hat es mir auch darüber hinaus nicht schwer gemacht, mich in diese Ehe zu fügen. Anfangs habe ich mich sogar wohlgefühlt mit ihm. Was wünscht man sich in diesem Alter? Was haben Sie sich gewünscht, als sie achtzehn waren?« Die Karotten waren vergessen. Sandra lehnte sich nun nach vorn und blicke Kari mit fragend hochgezogenen Brauen an.
»Ich habe mich aufs Abi vorbereitet und von einer Reise nach Neuseeland geträumt«, antwortete die wahrheitsgemäß.
Sandra schien verblüfft. »Oh«, sagte sie. »Da sind wir wohl unterschiedliche Typen. Mir hat der Luxus gefallen, den Gereon mir geboten hat. Ein Pelzmantel«, sie verdrehte die Augen, als sei ihr das heute peinlich, »schicke Schuhe, Einkaufsbummel in Paris. Na, Sie wissen schon.« Sie pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Dazu ein großes Haus, Personal.« Versonnen betrachtete sie ihre Hände und Kari tat es ihr gleich. Auch wenn Sandra jetzt hier saß, die mit dem legendären schwarzroten Lack manikürten Nägel an den Kuppen abgestoßen, die gepflegten Finger leicht gelblich verfärbt von den Karotten, ein Schälmesser vor sich, war doch offensichtlich, dass sie in ihrem bisherigen Leben wenig körperliche Arbeit geleistet hatte. Sie war verwöhnt worden und würde diesen Lebensstandard in Zukunft nicht ablegen wollen. Und auch nicht müssen.
»Aber?«, stieß Kari das Gespräch neu an, als Sandra so plötzlich schwieg, wie sie angefangen hatte zu reden.
»Aber das ist nicht alles im Leben«, antwortete Sandra. Dann nahm sie das Schälmesser wieder auf und fuhr schweigend fort mit ihrer Arbeit.
Nachdem die Suppe fertig war, brachte Sandra ihrer Tochter ein Tablett mit einem Teller davon nach oben. Danach aßen die drei Frauen gemeinsam am Küchentisch. Das Gericht schmeckte überraschend gut. Ein bisschen scharf, mit einem Hauch von Zitrone. Kari hätte es Sandra nicht zugetraut, so gut kochen zu können. Eine Unterhaltung kam nicht mehr in Gang. Aber das war für Karis Geschmack okay so.
Der Vormittag war aufregend genug verlaufen. Sie grübelte über die Begegnung mit Bent nach. Wieso kannte er Sandra? Sie schien ihn umgekehrt nicht zu kennen. Sonst wäre ihre Reaktion vor der Haustür eine andere gewesen. War er dennoch in Gefahr? Kari wurde bewusst, wie wenig ihr über den Kneipenwirt bekannt war. Bent hingegen war jemand, der sehr viel wusste. Sie hatte nie herausgefunden, welche Quellen er anzapfte, um so gut über Geschehnisse und Menschen Bescheid zu wissen. Mehr als einmal hatte er ihr mit Informationen geholfen. Jetzt machte es sie unruhig. Sein alarmierter Gesichtsausdruck, als Sandra aus dem Haus getreten war. Die Art, mit der er sie, Kari, dazu hatte bringen wollen, mit ihm zu kommen. Das alles sprach Bände. Sie hatte sich zusammenreißen müssen. Das Gespräch hatte auf Außenstehende wirken sollen, als wären sie Fremde.
»Kari?«
»Hm?« Marlies’ Stimme holte sie aus ihren Gedanken.
»Noch einen Kaffee?«
»Nein, danke.« Sie war schon nervös genug. Sandra winkte ebenfalls ab. »Ich gehe mir mal die Beine vertreten.« Kari erhob sich, stellte ihr Geschirr in die Spülmaschine, wusch sich die Hände und verließ das Haus. Einmal ging sie rundherum. Niemand war zu sehen. Weit vorne lief eine Spaziergängerin, ihre rote Jacke leuchtete regelrecht in der Sonne, die gelegentlich durch die Wolken blitzte. Kari atmete tief ein. Es roch nach Meer und Salz und Wiese. Ein Schwarm Vögel flog von einem Nachbarfeld auf und ließ sich gleich darauf wieder nieder.
Kari drehte sich um und schaute am Haus entlang. Die Sicherheitskameras waren unter dem Reetdach kaum zu sehen. Wenn man nicht danach suchte. Profikiller würden sie entdecken. Vermutlich aber erst, nachdem sie selbst entdeckt worden waren. Sie ging zum Gatter, kontrollierte den Bewegungsmelder. Dann verließ sie das Grundstück. Nur wenige Minuten später stand sie am Durchgang zum Wasser. Sie umrundete das mannshohe Schild mit der stilisierten Eule darauf, mit dem die Nationalparkverwaltung den Beginn des Nationalparks Wattenmeer anzeigte und um entsprechendes Verhalten bat. Daher ging sie lediglich wenige Schritte an der Sitzbank vorbei zum Meeressaum hinunter.
Das Wasser hatte sich bereits ein Stück weit zurückgezogen, bald würde Ebbe herrschen. Ein paar Möwen zogen mit heiseren Schreien ihre Runden am Himmel. Ein Wasservogel mit roten Beinen stolzierte im feuchten Sand herum und pickte gelegentlich etwas auf. Kari schob die Hände in die Hosentaschen und blickte zum Horizont. Während der letzten Wochen, als sie nicht gewusst hatte, ob sie wieder in ihren alten Job würde zurückkehren können oder auf ewig im Innendienst schmoren oder auf einen anderen, für sie völlig unattraktiven Posten innerhalb ihrer riesigen Behörde abgeschoben werden würde, hatte sie oft so am Meer gestanden. Hatte dem Wind und den Wellen gelauscht. Sich auf sich konzentriert und gehofft, dass alles gut würde. Widerwillig musste sie an den völlig schiefgelaufenen Einsatz denken, der sie in diese Lage gebracht hatte. Vlado, ihre Zielperson, war auf ihr unerklärliche Weise verschwunden und bis zum heutigen Tag nicht mehr aufgetaucht. Jo hatte erst für sie gekämpft und sie dann fallengelassen. Jetzt hatte er sie reaktiviert. Das gleich mit einem so wichtigen Einsatz. Leonhardt war ein Schwerstkrimineller im Maßanzug. Er saß in Untersuchungshaft, seit ein leitender Mitarbeiter seines Unternehmens Bereitschaft signalisiert hatte, gegen seinen Arbeitgeber auszusagen. Natürlich erst, nachdem er selbst ins Visier der Fahnder geraten war. Dieser Zeuge lebte nicht mehr. Leonhardt musste geglaubt haben, die Sache sei für ihn gut gelaufen. Nun sprang seine eigene Frau in den Zeugenstand. Warum? Nichts von dem, was Sandra erzählt hatte, ließ Rückschlüsse darauf zu, was sie dazu veranlasst hatte auszusagen. Und Bea ging davon aus, dass ihre Mutter log. Kari seufzte und malte mit der Spitze ihrer Stiefel kleine Figuren in den Sand.
»Hallo!« Eine fremde Stimme holte sie aus ihren Gedanken.
»Moin.« Kari erkannte die sommersprossige Autofahrerin. »Nanu? Ich dachte, Sie wollten nach Oldsum?«
Die Frau lachte. »War ich auch. Die Orte hier auf der Insel sind ja überschaubar. Da ist man schnell durch. Jetzt …«, sie unterbrach sich, setzte einen kleinen Rucksack ab und fummelte einen Inselplan heraus, »… wollte ich mir das Vogelschutzgebiet ansehen, bevor ich zur Borgsumer Mühle und weiter nach Goting Kliff fahre.« Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die Karte, während der Wind ihr blondes Haar durcheinanderwirbelte.
»Sind Sie nicht mehr mit dem Wagen unterwegs?«, wollte Kari wissen.
»Ja und nein.« Die Fremde schob sich eine Strähne hinters Ohr, die ihr gleich wieder ins Gesicht geweht wurde. »Mein Auto habe ich oben im Dorf abgestellt und fahre mit dem Rad weiter.«
Kari drehte sich um. An die dunkelbraune Holzbank hinter ihr stand ein rotes Damenrad gelehnt.
»Macht man doch so hier auf Föhr?« Lustige Funken tanzten in den hellbraunen Augen der Fremden. Jetzt wandte sie sich der Meerseite zu. »Bisschen unspektakulär hier, oder?«
Dem hatte Kari nichts entgegenzusetzen.
»Ich glaube, Sie müssen sich beeilen mit ihrer Tour.« Kari deutete nach oben. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb die Wolken vor sich her. »Es sieht nach Regen aus.«
»Ist zu befürchten. Heute ist es wirklich unbeständig.« Die Fremde rümpfte die Nase, packte ihre Karte wieder ein und hob zum Abschiedsgruß die Hand. Kari sah ihr hinterher, als sie ihr Rad nahm und es in Richtung Damm schob. Auch für sie war es Zeit zu gehen. Sie war schon zu lange weg.