Sie hörte die Stimme, als sie fast schon direkt vor der Haustür stand. Ein halblautes Murmeln, gefolgt von einem gurrenden Lachen drang zu ihr heraus. Kari blieb vor Schreck ein paar Sekunden stocksteif stehen, als sie die Stimme erkannte. Begriff, was das zu bedeuten hatte. Dann übermannte sie Ärger. Sie wusste nicht, was schlimmer gewesen wäre – eine fremde Person auf dem Grundstück oder das. Wütend stürmte sie ins Haus, nahm auf der Treppe in den ersten Stock immer zwei Stufen auf einmal und riss die Tür zu Sandras Zimmer mit Schwung auf. Der Raum war leer. Verwirrt drehte sich Kari um sich selbst. Hatte Sandra sie gehört und sich versteckt? Es gab keine Möglichkeit, sich zu verbergen, vom großen Kleiderschrank mal abgesehen. Doch in dem fand sich lediglich ein überraschend umfangreiches Arsenal an Kleidungsstücken. Sandras Stimme war nicht mehr zu hören. Kari lief zurück ins Erdgeschoss. Marlies saß in der Küche, das Handy in der Hand. Auf dem Tisch stand ein über Bluetooth verbundener Drucker, der gerade ein Blatt ausspuckte. Marlies hob den Kopf, als Kari den Raum betrat.
»Wir haben ein Problem«, murmelte sie.
»Das kann man wohl sagen«, gab Kari scharf zurück. »Wo ist Sandra?«
»Oben, in ihrem Zimmer.«
»Ist sie nicht, ich habe gerade nachgesehen.« Im selben Moment hätte sie sich ohrfeigen können. Sie drehte um und rannte erneut ins Obergeschoss. Die Badezimmertür war verschlossen.
»Sandra!« Kari schlug mit der Faust dagegen. »Machen Sie auf!«
Drinnen schepperte etwas. »Moment!«, rief Sandra zurück. »Ist gleich frei.« Wieder das Scheppern.
»Ich trete die Tür ein!« Kari war außer sich. Hinter ihr kam Marlies die Treppe hoch.
»Was zum Teufel ist hier los?«
»Ich zähle bis drei!«, schrie Kari und donnerte mit dem Fuß gegen die Tür.
»Was geht denn hier ab?« Marlies stand jetzt direkt neben ihr.
»Himmel. Sind Sie verrückt geworden?« Die Tür flog auf. Dahinter stand Sandra Leonhardt. Das Haar zerzaust, als habe sie gerade einen Strandspaziergang bei heftigem Wind gemacht.
»Nicht ich bin verrückt. Sie sind es. Wo ist das Telefon?«
»Telefon?«, echote Marlies. Sie trat einen Schritt zurück, als wolle sie unter keinen Umständen etwas mit dem zu tun haben, was jetzt gleich geschehen würde.
»Telefon?«, versuchte Sandra, sich ebenfalls unwissend zu stellen.
»Ich erwürge Sie, ich schwöre es, wenn Sie mir nicht sofort sagen …«
»Kari! Bitte!« Marlies war neben sie getreten und griff nach ihrem Arm.
Mist, dachte Kari und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Beinahe hätte sie noch etwas Unverzeihliches gesagt. Jetzt atmete sie tief ein und aus und fuhr in normaler Lautstärke fort. »Ich habe Sie gehört. Also – wo ist das Handy?« Sandra sah nicht so aus, als wolle sie Klarheit in die Sache bringen. Sie plusterte sich vielmehr auf und zeigte mit einer gewollt ironischen Handbewegung ins Badezimmer.
»Bitte sehr. Suchen Sie es. Sie werden nichts finden.« Mit diesen Worten versuchte sie, an Kari vorbei aus dem Raum zu spazieren.
»Sie bleiben hier.« Karis Hand schnellte nach vorn. Ihre Finger spannten sich um Sandras Unterarm. »Marlies, du wartest ebenfalls.« Keinesfalls wollte sie ein Risiko eingehen. Und sei es auch nur das, dass Sandra ihr unterstellen könnte, sie habe ihr ein Handy untergeschoben.
Kari betrat das Badezimmer. Auf der Ablage über dem Waschbecken stand Sandras lederner Kulturbeutel, im Becken selbst lag ein Kajalstift. Jetzt war klar, was geklappert hatte. Kari, die vermutete, dass ein Teil des Inhalts des Beutels beim Verstecken des Handys herausgefallen war, durchsuchte ihn. Nicht einmal, zweimal, denn sie fand nichts. Sie stellte den Lederbeutel zurück. Sandra verschränkte in einer trotzigen Bewegung die Arme vor der Brust, während Kari das ganze Badezimmer absuchte. Jedes Handtuch hochnahm, die Duschkabine checkte, hinter den Heizkörper sah und schließlich den Deckel des Wasserbehälters hochhob. Was bei Sandra ein laut hörbares »Pfff«, auslöste. Marlies wurde zusehends nervöser und trat von einem Bein aufs andere.
»Kari, was soll das denn?«, fragte sie mit hilflos klingender Stimme.
»Ich weiß, was ich gehört habe«, knurrte die zurück. Noch einmal checkte sie mit ihrem Blick den ganzen Raum ab. Wo konnte Sandra das Handy versteckt haben?
Sie war ratlos, bis sie erneut die zerzausten Haare der anderen wahrnahm. Sandra hatte ihre Mähne zwar mit ein paar Handbewegungen wieder geglättet, aber jetzt hatte Kari einen Anhaltspunkt. Als sie sich umdrehte und das kleine Fenster öffnete, hörte sie hinter sich ein Stöhnen. Sandra wusste, dass sie verloren hatte. Kari beugte sich hinaus. Das Handy war, mit einem Haargummi gesichert, außen am Reet festgeklemmt. Mit fast schon meditativer Ruhe befreite Kari das Gerät und wandte sich zu den beiden Frauen im Badezimmer um. Sie sprach kein Wort, hielt nur das Telefon hoch.
»So«, sagte sie nach einer Weile. »Und jetzt hätte ich gerne eine Erklärung. Und zwar von euch beiden.«
Sandras Blick huschte zu Marlies, die wie versteinert wirkte. Dann durchlief sie ein Ruck.
»Ich möchte ebenfalls gerne wissen, was das zu bedeuten hat. Und wie Sie dieses Handy an uns vorbei ins Haus schmuggeln konnten.« Sie war blass geworden und zwei steile Falten standen auf ihrer Stirn. Kari sah, dass ihre Kollegin ebenso verwundert und verärgert war wie sie.
»Ich brauche das«, presste Sandra hervor. Mit einem Mal wirkte sie ängstlich. »Das ist … eine Art Lebensversicherung.«
»Wie bitte?« Kari trat einen Schritt auf Sandra zu. »Ihre Lebensversicherung sind wir. Und wenn dieses Mobiltelefon geortet wird, schweben wir alle in Gefahr. Sie. Ihre Tochter. Meine Kollegin und ich. Womöglich weitere Kolleginnen und Kollegen, die sich darum kümmern, dass Sie, Frau Leonhardt, lebend in den Gerichtssaal kommen und ihn lebend wieder verlassen, nachdem Sie Ihre Aussage gemacht haben.«
Sie holte tief Luft. »Also: Mit wem haben Sie telefoniert?«
Sandra Leonhardt schwieg. Ihr Mund war nur noch ein Strich, ihre Augen funkelten wie dunkelgrünes Feuer.
»Sagen Sie schon!«, fuhr Marlies die Frau an. »Wir müssen es wissen.«
Sandra blickte von ihr zu Kari und wieder zurück. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Das geht nicht«, sagte sie leise und blickte zu Boden.
»Das geht. Sie müssen es einfach nur sagen«, verlangte Kari.
Wieder schüttelte Sandra den Kopf. Kari und Marlies wechselten einen Blick. Wenn ihre Zeugin nicht reden wollte, würde es ungemütlich werden.
Kari blickte auf das Gerät in ihrer Hand. Es war ausgeschaltet. Ein einfaches älteres Modell.
»Wie lautet der Code?«
Sandra starrte sie lediglich an. »Nein«, sagte sie. »Das ist unmöglich. Aber ich kann Ihnen eines versichern: Im Telefon ist eine einzige Nummer gespeichert. Und von demjenigen, dem sie gehört, geht keinerlei Gefahr aus für mich und meine Tochter.«
»Ich glaube es nicht«, murmelte Marlies halblaut.
»Glaubt es ruhig. Sie sagt die Wahrheit. Ausnahmsweise einmal.« Drei Köpfe fuhren herum. Vor der Badezimmertür stand Bea. Sie war blass und wirkte zerbrechlich in einem übergroßen Sweatshirt, in dem sie fast ertrank. »Mit ihrem Zweit-Handy telefoniert sie mit ihrem Lover.«
»Was …«, stieß Sandra gepresst hervor und riss schockiert die Augen auf.
»Du dachtest, ich weiß das nicht?« Bea verzog angeekelt das Gesicht. Sie sah aus, als wolle sie ihrer Mutter gleich vor die Füße spucken. »Ich habe schon lange gemerkt, dass da was läuft. Und dieses Handy«, ihr Kinn zeigte auf das Gerät in Karis Hand, »habe ich vor Monaten entdeckt.« Ihr Blick verdüsterte sich. »Du hängst Papa dran, nur wegen deinem …«
»Halt den Mund!« Sandra hatte die Stimme erhoben. Sie klang kalt und scharf und Bea zuckte sichtbar zusammen. »Du weißt nicht, was du redest. Dein Vater ist ein Verbrecher. Er bietet dir gar nichts. Keine Werte. Keine Sicherheit. Keine Zukunft.« Sie schluckte heftig, bevor sie fortfuhr. »Ich mache das nicht nur für mich, sondern auch für dich.«
»Ich kenne den Code«, sagte Bea, als habe sie nicht gehört, was ihre Mutter sagte.
Sandras Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Du … was?«
Bea sprach weiter zu Kari. »Ich schreibe ihn auf. Wenn ich im Gegenzug zurück zu meinem Vater kann.«
Marlies entfuhr ein erschrockener Laut. Sandra schnappte nach Luft. Kari ließ das Mobiltelefon sinken.
»Wir sind hier nicht auf einem Bazar«, erklärte sie Bea zugewandt. »Und auch nicht bei Wünsch dir was. Wir haben einen Job zu erfüllen. Du und deine Mutter haben sich verpflichtet, unseren Anweisungen Folge zu leisten. Wenn ihr das nicht tut, breche ich den Einsatz ab. Ihr könnt dann gehen, wohin ihr wollt. Telefonieren, mit wem ihr wollt. Ungeschützt, aber das scheint hier ja allen gänzlich egal zu sein.«
Marlies setzte zu einem Protest an. Ob sie sich ungerecht behandelt fühlte oder auf Karis reichlich eigenmächtige Interpretation der Schutzmaßnahmen, die sie natürlich nicht abbrechen konnten und durften, hinweisen wollte, war Kari egal. Sie sah, wie geschockt Sandra aussah, und auch Bea wich einen halben Schritt von der Tür zurück, als wolle sie sich von ihren eigenen Worten distanzieren.
»Also – wie lautet der Code?« Karis Blick ruhte auf Bea, die plötzlich nervös auf ihrer Lippe kaute.
»Nicht«, bat Sandra leise. Mutter und Tochter sahen sich stumm an. Dann senkte Bea den Kopf.
»Ich habe gelogen. Ich weiß es nicht. Ich wollte nur, dass sie einen Schrecken bekommt.« Sie hob den Kopf und auf einmal waren ihre Augen kalt. »Aber das mit dem Lover stimmt. Sie betrügt meinen Vater seit Monaten.« Ihr Blick wanderte von Kari zu Sandra. »Vermutlich will sie ihn mitnehmen. In unser schönes neues Leben. Während ich …« Sie brach ab. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut. Ihre Augen wurden feucht und ihr Finger stach in Richtung ihrer Mutter in die Luft wie ein Schwert. »Während ich alle zurücklassen muss, die mir etwas bedeuten.« Die letzten Worte stieß sie unter Schluchzen aus, bevor sie sich umdrehte und in ihrem Zimmer verschwand.
»Keine Sperenzchen mehr«, hatte Kari Marlies zugeflüstert. Während die ins Erdgeschoss ging, riss Kari die Tür zum Zimmer gegenüber auf. Es war staubig und das Bett war nicht bezogen, dennoch schob sie Sandra dort hinein. »Sie werden hier bleiben. Ich bringe Ihnen Bettwäsche und Handtücher. Ihre persönlichen Sachen erst, wenn wir sie durchsucht haben.«
»Hören Sie.« Sandra griff nach Karis Arm. »Ich kann das alles erklären. Es ist nicht so, wie Sie denken.«
Kari schüttelte die andere ab. »Frau Leonhardt. Ich dachte eigentlich, wir hätten uns verstanden. Ihr Benehmen ist unfassbar dumm.«
»Nein. Nein, das ist es nicht.« Sandra baute sich vor Kari auf. »Bitte. Vertrauen Sie mir. Ich bringe weder Sie noch mich in Gefahr.«
Kari schüttelte den Kopf über so viel Uneinsichtigkeit. »Bis wir Ihr Zimmer durchsucht haben, muss ich Sie hier einschließen«, sagte sie knapp und schloss die Tür. Auf dem Flur atmete sie erst einmal tief durch. Diese Frau raubte ihr den letzten Nerv. Hatte sie mittags einsichtig gewirkt, schien nun Hopfen und Malz verloren. Sie hoffte, dass Bea mehr wusste. Aber das Mädchen verneinte glaubhaft. Sie war zwar dahintergekommen, dass es einen neuen Mann im Leben ihrer Mutter gab. Wer er war, konnte sie aber nicht sagen.
Kari drehte sich auf dem Absatz um, kehrte in Sandras Zimmer zurück und durchsuchte es von oben bis unten.
Als Kari ins Erdgeschoss zurückkehrte, saß Marlies im Wohnraum und tippte auf Sandras Handy herum. »Und? Probierst du dich durch die Geburtsdaten?«
»Beas ist es nicht. Sandras eigenes auch nicht. Und das ihres Mannes versuche ich erst gar nicht.« Da sich das Gerät nach dem dritten Fehlversuch komplett abschalten würde, verstaute Marlies es in der ebenfalls durch ein Passwort gesicherten Box, in der auch Karis Mobiltelefon lag. Die hoffte, dass Bent Wort hielt und ihr ein anonymes Prepaid-Handy besorgt hatte.
»Hast du eine Erklärung für das alles?«
Marlies drehte sich zu Kari um. »Nein«, sagte sie. »Ich habe die beiden Frauen akribisch gefilzt, als wir hier ankamen. Ich bin sicher, dass Sandra das Handy nicht bei sich oder in ihrer Handtasche hatte.«
»Und das Gepäck?«
Marlies zögerte und biss sich auf die Lippe. »Mein Kollege. Er muss es übersehen haben.«
Kari nickte versonnen. »Sandras Reisetasche hat ein Geheimfach. Nichts Besonderes, wenn man richtig sucht. Eher so, um es Taschendieben nicht zu einfach zu machen. Ich habe zwei dicke Bündel Geldscheine in diesem Fach entdeckt. Vermutlich lag das Handy ebenfalls dort drin.«
»Und als du sie im Badezimmer überrascht hast, musste sie es kurzfristig verstecken«, fuhr Marlies fort. »Sonst hätten wir es womöglich nicht gefunden.«
Sie hob den Kopf und sah Kari direkt an. »Entschuldige bitte. Ich verstehe jetzt, was du meinst. Ich war zu unbedarft. Ich bin enttäuscht von mir selbst.«
Kari verzichtete darauf, der anderen eine Standpauke zu halten. Marlies wirkte ehrlich zerknirscht.
»Wir filzen Beas Sachen ebenfalls. Ich will ausschließen, dass die Mutter die Tochter als ihr Muli benutzt. Du informierst Jo, dass wir hier eine ungeklärte Situation haben.« Marlies nickte. Keine Spur mehr von der Aufsässigkeit, die sie einen Tag zuvor Kari gegenüber an den Tag gelegt hatte. Ob das so blieb, war schwer vorherzusagen. Sie hatten die Zeit bis zum morgigen Abend zu überstehen, am Donnerstag die Abreise der beiden Frauen zu sichern und sie einem neuen Team zu übergeben, danach wäre dieser Einsatz beendet. Kari konnte es kaum erwarten. Das Gefühl, mit einer Kollegin zusammenzuarbeiten, die nicht denselben Blick auf die Dinge hatte wie sie, unvorsichtig war, war kein gutes. Dann fiel ihr etwas ein.
»Was hast du denn vorhin ausgedruckt? Du hast von einem Problem gesprochen?«
Marlies nickte und fuhr sich mit der Hand übers Haar. »Ausgedruckt habe ich ein paar Infos über Jens Thönishoff. Er ist aktenkundig. Ein Foto ist auch dabei.«
Kari zog die Brauen hoch. »Stellt er eine Gefahr dar?«
Marlies zuckte mit den Schultern. »Eher nicht. Das Aussehen stimmt mit dem Mann überein, den wir hier vor dem Haus hatten. Und die Vorstrafen sind nicht so wild. So Sachen wie Widerstand gegen die Staatsgewalt. Alles schon älter. Er war Teil einer Gruppe radikaler Naturschützer. Habe dir das Dossier ausgedruckt, damit du es in Ruhe lesen kannst.«
»Und das Problem?«
Marlies seufzte gequält. »Der Prozess wurde verschoben. Wir müssen uns länger als vorgesehen um Sandra und Bea kümmern.«