Im Haus von Karis Nachbarin Jette Beckum stand die Tür offen. Ihr grau getigerter Kater hockte auf der Schwelle und blickte Kari mit zusammengekniffenen Augen entgegen. Als sie ihr Rad am Zaun abgestellt hatte, erhob er sich und kam mit einem leisen Miau auf sie zu. Kari beugte sich zu dem Stubentiger hinunter und kraulte ihn hinter den Ohren, was er mit dem Schließen der Augen und lautem Schnurren quittierte. Dann miaute er erneut, zeigte einen Katzenbuckel und sprang mit aufgerichtetem Schwanz davon.
»Jette?«, rief Kari ins Haus hinein. Als keine Antwort kam, ging sie seitlich an dem Gebäude vorbei in den hinteren Teil des Gartens.
Jette kniete vor einem großen Erdbeerbeet und streute etwas aus.
»Nanu. Du wirst doch kein Gift auslegen?«, begrüßte Kari die Ältere. Die war über jeden Zweifel erhaben. Kari kannte niemanden, der nachhaltiger und chemiefreier lebte und gärtnerte.
»Wermutkraut. Gegen die Schnecken. Die fressen hier sonst alles kahl.« Lächelnd erhob sie sich, klopfte sich ein paar Erdkrumen an der ausgeleierten grünen Hose ab, fuhr sich dann durch das schlohweiße, kurze Haar und schaute Kari neugierig an.
»Dein Mieter war hier. Der mit der Garage. Er hat ein Päckchen vorbeigebracht.«
»Hast du es hier?«
Jette schüttelte den Kopf. »Ich habe es dir rüber in die Kate gelegt. Für den Fall, dass du mich nicht antriffst. Wusste ja nicht, wann du kommst.«
»Danke!«, rief Kari. »Ich habe es leider etwas eilig. Aber die Tage sehe ich noch mal vorbei und bringe ein bisschen Zeit mit.«
Kari ging ins Nebenhaus. Auf dem Esstisch in der Küche lag ein brauner Briefumschlag. Sie holte ein Mobiltelefon heraus. Als sie es einschaltete, verlangte es eine PIN. Stirnrunzelnd schüttelte sie den Umschlag, aber es lag kein Zettel dabei. Erst, als sie hineinspähte, erkannte sie einen vierstelligen Code. Bent hatte ihn auf die Innenseite des Kuverts geschrieben. Kari stutzte, als sie die Zahlenfolge sah. 1902. Der 19. Februar. Das Geburtsdatum ihres Vaters. Unwillkürlich lächelte sie. Bent war ein ungewöhnlicher Mann, der über viele Dinge Bescheid wusste. Vor ein paar Wochen war sie hinter eines seiner Geheimnisse gekommen. Sie war sich sicher, dass er noch mehr davon hütete. Doch schon zuvor hatte sie gespürt, dass ihn etwas umgab, das ihn von anderen Menschen abhob. Er war ihr auf eine Weise gefährlich erschienen, die sie nicht deuten konnte, weil sie zwischen Anziehung und Fluchtinstinkt schwankte. Sie änderte die PIN, trug den Umschlag zum offenen Kamin und zündete ihn an. Erst als er komplett verbrannt war, verließ sie das Haus.
Im alten Bauernhof war alles ruhig. Marlies stand breitbeinig im Wohnzimmer, die Arme verschränkt. »Die beiden haben sich ein paar Brote gemacht und sind auf ihren Zimmern. Bea geht es besser. Sie langweilt sich ohne Musik und Videos. Was heißt: ohne ihr Handy.«
»Haben wir keinen alten iPod oder so was?«
Marlies zuckte mit den Schultern. »Hier ist nichts, was ich ihr geben könnte.«
Kari blickte zum Bücherregal. Dort standen ein paar zerlesene Krimis und historische Romane.
»Soll sie halt lesen«, meinte sie. Marlies unterdrückte ein Grinsen.
»Sie will es sich überlegen.«
»Weißt du, ich habe noch einmal nachgedacht. Über Sandras Handy.« Es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen, dass Marlies und ihr Kollege einfach gründlicher hätten sein sollen. Zwar waren Sandra und Bea ihre Mobiltelefone abgenommen worden, genauso wie alle anderen elektronischen Geräte, über die man ins Netz gehen und die man orten konnte, aber dem Umstand, dass jemand ein Zweitgerät mit sich führen könnte, war nicht Rechnung getragen worden. Und jetzt flog ihnen das alles um die Ohren. »Ausgehend von der Annahme, dass Sandra ihre PIN nirgends notiert hat, jedenfalls haben wir nichts gefunden, kein Notizbuch, keinen Zettel, haben wir gerade mal drei Möglichkeiten, an die Inhalte, genauer, die Nummer desjenigen zu kommen, mit dem Sandra telefoniert hat.« Kari zählte sie an den Fingern ab. »Erstens: Wir warten auf das Ergebnis der Funkzellenauswertung, das vermutlich nie kommen wird.« Denn das würde bedeuten, dass zunächst sämtliche Handys, die zur fraglichen Stunde über denselben Sendemast eingeloggt gewesen waren, daraufhin überprüft werden mussten, ob von ihnen aus zu diesem Zeitpunkt telefoniert worden war. »Sandra hat mindestens drei Minuten lang gesprochen. Sie redete bereits, als ich sie vor dem Haus gehört habe und ich brauchte eine Weile, sie im Badezimmer zu lokalisieren. Da wir nicht wissen, wie lange genau, kann ihr Gespräch kaum isoliert werden.« Ganz zu schweigen davon, die jeweiligen Gesprächsteilnehmer anhand von deren Nummern zu identifizieren. »Ich glaube kaum, dass ein Richter einen derartig weit in den Datenschutz eindringenden Beschluss unterschreibt, auch wenn Jo sein Möglichstes dafür tun wird.«
Marlies nickte versonnen.
»Zweitens: Wir hacken Sandras Handy. Dazu müssten wir es in unsere Dienstelle nach Berlin schicken. Was dauert, mal abgesehen von der Geheimhaltung, unter der wir hier operieren. Oder wir finden hier vor Ort jemanden.«
»Kennst du etwa einen Hacker auf der Insel?« Marlies rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Das wäre in puncto Diskretion keine gute Lösung.«
Da musste ihr Kari recht geben. Daher vertiefte sie den Gedanken gar nicht erst, obwohl sie erst kürzlich durch Bent Sörensen einen in solchen Dingen äußerst begabten jungen Mann kennengelernt hatte.
»Drittens: Wir foltern Sandra so lange, bis sie uns den Code verrät.«
Marlies wedelte abwehrend mit den Händen, grinste aber dabei. Sie hatte die Ironie verstanden.
»Wer sagt uns denn, dass es sich um einen Code handelt«, überlegte sie dann laut. »Es könnte eine Gesichtserkennung sein. Oder ein Fingerabdruck.«
»Nein«, entgegnete Kari und schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin mir sicher, es ist eine PIN.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Als wir im Badezimmer standen, hat Bea behauptet, sie kenne den Code. Du hast Sandra gesehen, ihre Hände, ihre Blicke. Sie wurde sofort nervös, hat versucht, ihrer Tochter zu signalisieren, sie solle still sein.«
»Stimmt. Außerdem … wenn du ein zweites Mobiltelefon hättest. Eines, das du vor dem Gatten und der Tochter geheim hältst, um mit einem Lover zu telefonieren. Und gesetzt den Fall, dein Ehemann ist jemand, der ausrasten kann und wenig Skrupel kennt, würdest du da nicht lieber auf einen Zahlencode setzen?«
»Um nicht gezwungen zu werden, mittels körperlicher Gewaltanwendung dein Telefon entsperren zu müssen, ohne es zu wollen?«
»Genau.« Marlies nickte nachdrücklich.
»Na ja, einen Zahlencode kann man ebenfalls aus jemandem herauszwingen, besonders, wenn man nicht zimperlich ist.«
»Schon. Aber in diesem Fall würde ich dreimal eine falsche Ziffernfolge angeben und mich auf Nervosität berufen. Zumindest gewinnt man damit Zeit.«
»Nach drei Fehlversuchen sperrt sich das Handy.«
Kari sah hoch. In ihrem Kopf begann es zu rattern.
»Nehmen wir mal an, Sandra kennt ihre PIN auswendig, wovon auszugehen ist. Das Gerät bedeutet den Draht zu einer Person, die ihr wichtig ist und der sie vertraut. Da merkt man sich diese vier Ziffern. Aber was, wenn ein misstrauischer Ehemann oder eine auf ihre Mutter wütende Teenager-Tochter das Handy findet und testet, ob es sich entsperren lässt? Was dann?«
»Wie du schon sagtest. Das Handy wird nach drei Versuchen gesperrt.«
»Was braucht man, um es dann wieder freizugeben?«
»Die PUK oder einen anderen übergeordneten Code«, antwortete Marlies langsam.
Kari schnippte mit den Fingern. »Genau! Und diese Zahlenfolge benötigte man eher selten. Deshalb kennt sie kaum jemand auswendig, zumal sie aus mehr als vier Ziffern besteht.«
»Diese Zahl würde man sich notieren.« Marlies’ Kopf zuckte nach oben. »Das heißt, wir filzen Sandras Sachen ein weiteres Mal, suchen genau danach. Wenn wir was finden, sperren wir das Handy absichtlich, um mit dem Code dann Zugang zu bekommen.«
»Bleibt die Frage, wie wir es anstellen, ohne dass sie etwas bemerkt.«
Sie mussten nicht lange warten. Ungefähr eine halbe Stunde später ging Sandra ins Badezimmer. Sobald sie die Dusche rauschen hörten, huschte Kari nach oben. Sandras Zimmer zu durchsuchen war keine langwierige Angelegenheit. Außer einer Handtasche, der Reisetasche und dem Kulturbeutel, der im Bad stand und später angeschaut werden konnte, hatte sie nichts dabei. Kari wusste, dass es weder ein Notizbuch noch etwas Ähnliches gab. Das hätte sie bei der ersten Durchsuchung gefunden. Aber wo sonst konnte man sich eine Ziffernfolge notieren, ohne dass es auffiel? Im doppelten Boden der Reisetasche? Nein. Eher an einer Stelle, die schnell zugänglich war. Sie kippte die Handtasche aus und schaute sich jeden Gegenstand unter genau dem Blickwinkel an. Eine Puderdose. Ein Lippenstift. Ein halb volles Päckchen Papiertaschentücher. Eine Dose mit Pfefferminzbonbons. Ein Etui mit einer Lesehilfe erstaunte Kari. Sie hatte Sandra bisher nie mit Brille gesehen. Daher untersuchte sie das Etui ganz besonders akribisch, fand aber nichts. Eine Packung Vitamintabletten folgte. Aber weder außen noch auf dem Beipackzettel war etwas notiert worden. Eine Tube Handcreme. Sie schüttelte die leere Tasche, durchsuchte das Seitenfach und tastete nach einem doppelten Boden, fand aber nichts. Stück für Stück legte sie die Sachen zurück. Bei der Packung mit den Papiertaschentüchern zögerte sie. Sie war fast voll. Kari lauschte nach draußen. Alles ruhig. Sie zog ein Taschentuch nach dem anderen aus der Packung. Drehte und wendete es. Fand nichts. Steckte alle, so gut es ging, wieder zurück. Was hatte sie übersehen? Befand sich das, was sie suchte, vielleicht doch im Koffer? Ihr Blick wanderte zum Schrank, in dem die Reisetasche stand. Weiter zu der offenen Tasche. Fiel auf die Vitamintabletten. Sie dachte an Bent, der ihr das Handy geschickt und die PIN auf der Innenseite des Umschlags notiert hatte. Sie griff nach der kleinen Schachtel, zog den Blister, in dem nur ein Dragee fehlte, sowie den Beipackzettel heraus, öffnete den unteren Teil der Packung und spähte hinein. Bingo! , hätte sie am liebsten ausgerufen. Dort, auf dem Innenteil der Lasche, waren von Hand sechs Zahlen notiert worden. Kari schrieb sie auf, faltete die Schachtel wieder zusammen, steckte alles in Sandras Handtasche zurück und verließ das Zimmer. Marlies blickte auf, als sie Kari aus dem Flur kommen sah. Die nickte ihrer Kollegin zu und zeigte mit der Hand ein Daumen-hoch-Zeichen. Sie konnte es kaum erwarten zu sehen, mit wem Sandra heimlich telefoniert hatte.
»Dann wollen wir mal sehen, was es mit Sandras geheimnisvollen Telefonaten auf sich hat.« Sandras Zweithandy war ein unauffälliges schwarzes Gerät. Nicht so neu, elegant und teuer wie das, das ihre Zeugin normalerweise benutzte. Kari musste an ihr eigenes geheimes Mobiltelefon denken. Das war ebenfalls einfach. Billig womöglich. Aber zweckmäßig. So wie das, welches sie jetzt Marlies reichte.
Sie zog den Zettel mit der Zahlenfolge aus der hinteren Jeanstasche und sagte Marlies den vermeintlichen Code an. Die tippte mit angestrengtem Gesichtsausdruck. Ein leises Pling zeigte an, dass es geklappt hatte. Ein leichter Adrenalinschub brachte Karis Kopfhaut zum Prickeln.
»Wow«, formte Marlies tonlos mit den Lippen. Sie rutschte direkt neben Kari, beide beugten sich über das Display. »Sie hat wirklich nur eine einzige Nummer eingespeichert.«
»Glaubst du, dass es die ihres Liebhabers ist? Falls sie wirklich einen hat?« Kari betrachtete den Eintrag. Das im Protokoll verzeichnete letzte Telefonat war das, das Kari gehört hatte. Dazu kamen zwei weitere vom Tag zuvor.
»Werden wir bald wissen.« Marlies zückte ihr eigenes Mobiltelefon und tippte eine Kurzwahltaste an.
»Ja?« Jos Stimme.
Kari neigte sich näher zu Marlies, um mithören zu können.
»Ich gebe dir eine Mobilfunknummer. Mit diesem Teilnehmer hat Sandra Leonhardt bereits dreimal telefoniert, seit sie im Zeugenschutz ist. Kannst du sie überprüfen?«
»Moment«, hörte Kari Jo sagen.
Irgendwo im Haus wurde lautstark eine Tür geschlossen. Kari legte den Finger an die Lippen, ging zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Bea schlappte auf Socken durch die Diele und verschwand in ihrem Zimmer. Kari kehrte zu Marlies zurück. Die machte ein ratloses Gesicht.
»Jo sagt, es kann dauern«, flüsterte sie Kari zu. Dann, zu ihrem Gesprächspartner gewandt, »alles klar. Melde dich, sobald du was herausbekommen hast.«
Kurz darauf verzog Kari sich in ihr Zimmer, um ein paar Stunden zu schlafen. Marlies würde sie gegen drei Uhr morgens wecken, damit sie die zweite Schicht übernahm. Sie lauschte nach draußen. Auf dem Flur war alles ruhig. Sie zog das Mobiltelefon hervor. Auch hier war nur eine einzige Nummer einprogrammiert. Kari kannte sie nicht. Bent hatte sich also ebenfalls ein Prepaid-Handy organisiert. Sie tippte die Nummer an und schrieb nur ein Wort: Danke. Dann schloss sie die Augen und atmete tief ein und aus, bis sie einschlief.
Durch ein leises Klopfen an der Tür wurde Kari ein paar Stunden später geweckt. Sie war verschlafen und musste sich ein paar Hände kaltes Wasser ins Gesicht spritzen, um einigermaßen klar im Kopf zu werden.
»Ich habe Kaffee gekocht«, flüsterte Marlies noch, bevor sie sich schlafen legte. Kari tappte in die Küche. Der Bildschirm war dunkel. Niemand war in die Nähe der Kameras und ihrer Bewegungsmelder gekommen. Um die letzten Reste des Schlafes abzuschütteln, dehnte Kari ihre Muskeln, trabte eine Weile auf der Stelle und bewegte die Arme, als wolle sie fliegen. Dann trank sie den ersten Kaffee und wanderte durch sämtliche Räume im Erdgeschoss, bevor sie sich in dem Sessel im Flur niederließ.