Das Erste, was Kari am nächsten Morgen sah, waren die Rückansichten von Bea und Marlies, die im Wohnbereich eine Yogastellung übten: Hände und Füße am Boden aufgestützt, die Körpermitte wie in einem umgedrehten V nach oben gestreckt.
»Lass den Atem ruhig fließen«, wies Marlies die Jüngere an. »Jetzt das rechte Knie beugen. Dann das linke. Den Oberkörper absinken lassen. So ist es gut.«
Kari überließ die beiden ihren Übungen. Es war erfreulich, dass Bea in Marlies eine Person gefunden hatte, die ihr Halt in dieser Situation gab. Nachdem sie geduscht hatte, nahm sie eine Tasse Kaffee zu sich, begleitet von einer Schüssel Cornflakes mit Milch.
Ihre Kollegin betrat die Küche. Ihre Wangen waren leicht gerötet, die Augen blitzten wach.
»Täte dir auch gut, ein paar Übungen am Morgen.«
»Du meinst, weil ich nicht joggen kann?« Sie waren übereingekommen, möglichst jede Situation zu vermeiden, in der eine von ihnen allein mit den beiden anderen Frauen blieb. »Hat Jo sich gemeldet?«, wollte sie dann wissen. Marlies schüttelte den Kopf. Sie stand an der Spüle, wo sie ein Glas mit Wasser volllaufen ließ, um es in großen Schlucken zu trinken. Ein heller Gong ertönte. Die beiden Beamtinnen sahen sich fragend an.
»Hoffentlich kein neugieriger Nachbar«, murmelte Marlies und spähte hinter der Gardine hervor zum Gartentor.
Kari hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Es gab keine Gegensprechanlage, also musste sie raus gehen.
»Hi. Du bist Marlies?« Der Mann am Tor war ungefähr in ihrem Alter. Groß, blond und attraktiv.
»Marlies?« Kari legte den Kopf schief. Das war kein Nachbar.
»Ich bin Arne. Jo schickt mich.« Der Blonde sah mit gerunzelter Stirn zum Haus hinüber. Seine Hände wanderten unter der leichten Jacke zum Rücken. Was wie eine lässige Haltung aussah, konnte allerdings auch bedeuten, dass sich dort eine Waffe verbarg.
»Jo?« Kari konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
Hinter ihr klappte die Tür, sie hörte eilige Schritte.
»Hi«, rief Marlies atemlos aus, noch bevor sie neben Kari anhielt. »Sorry, aber die Nachricht kam erst jetzt bei uns an.«
»Welche Nachricht?« Kari drehte sich nicht zu ihrer Kollegin um. Sie mustere immer noch den Mann am Tor.
»Arne Johannson. Willkommen auf Föhr.« Das stellte wohl Marlies’ Begrüßung des Mannes dar.
»Kann mir mal jemand erklären, was los ist?«, forderte Kari.
»Ich bin eure Verstärkung.« Der Blonde lächelte gewinnend. Endlich nahm er die Hände hinter dem Rücken hervor. »Aber vielleicht sollten wir das drinnen klären.«
Er beugte sich nach unten und griff nach einer am Boden abgestellten Reisetasche. Marlies öffnete ihm das Tor und gemeinsam begaben sie sich ins Haus.
»Jo hat dich angekündigt«, setzte Marlies im Wohnraum das Gespräch fort. »Allerdings erst für heute Nachmittag.«
»Ich war schneller als geplant.« Arne sah sich im Haus um, checkte alles genau ab. Kari hatte sich etwas von den beiden entfernt. Sie begriff nicht, was vor sich ging. Hatte Jo nicht gesagt, er könne niemandem vertrauen? Wo kam dieser angebliche Kollege so plötzlich her? Bevor sie nachbohren konnte, kam Bea aus ihrer Kammer. Sie blieb mit einem Ruck stehen, als sie den Neuankömmling sah.
»Hej«, grüßte der gut gelaunt. Bea schaute unsicher zu Marlies.
»Das ist Arne, ein Kollege von uns.«
Beas Blick wanderte zu ihm zurück. Ein leichtes Erröten war nicht zu übersehen. Innerlich verdrehte Kari die Augen. Der Kerl war sehr attraktiv mit seinen blauen Augen und dem Kinnbärtchen. Aber gewiss kein Objekt, das angeschmachtet werden sollte. Noch eine Komplikation konnten sie sich nicht leisten.
»Wer sind Sie?« Sandra war ebenfalls aus ihrem Zimmer gekommen. Ihr Haar war ungekämmt, sie trug Pyjama und Morgenrock, ihre Augen waren verquollen, sie wirkte müde.
Marlies klärte sie auf.
»Sie sind jetzt zu dritt?« Sandras Blick triefte nur so vor Misstrauen und blieb an Kari hängen, als wolle sie sie auffordern, die Rechtmäßigkeit von Arnes Anwesenheit zu bestätigen.
»Nach den gestrigen Vorkommnissen kann ein weiterer Personenschützer nicht schaden.« Marlies war Sandras Anspannung nicht entgangen.
»Können Sie beide uns kurz allein lassen?«, fiel Kari ein. »Wir müssen etwas klären.«
Sandras Brauen hoben sich. Sie legte die Hände auf Beas Schultern und dirigierte ihre Tochter in ihr Schlafzimmer. Die wehrte sich erstaunlicherweise nicht. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
Der von Jo angekündigte Kollege beugte sich nun zu seiner Tasche, holte einen dicken wattierten Umschlag hervor und hielt ihn Kari entgegen. »Hier, für dich.«
Sie öffnete das Päckchen. Heraus fiel ein in weiches Plastik vakuumiertes Mobiltelefon.
»Abhörsicher und nicht zu orten.« Arne lächelte nicht mehr. Er hatte verstanden, dass Kari ihm nicht so ohne Weiteres über den Weg traute.
»Woher kommst du?« Sie hatte den weichen Unterton bemerkt.
»Aus Kopenhagen. Mein Chef und Jo kennen sich.« Er sah Marlies und Kari abwechselnd an, während er weitersprach. »Ich weiß von seinem Problem. Er wollte niemanden von euren eigenen Leuten einsetzen. Die beiden haben etwas gedeichselt. Kann man im weitesten Sinne Amtshilfe nennen. Allerdings habe ich mich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet. Ich bin vorrangig hier, um euch den Rücken zu decken.«
»Ach«, sagte Marlies. Ihre Verblüffung deutete Kari so, dass diese Information für sie neu war.
Kari wandte sich Marlies zu. »Kann ich mal Jos Anweisung diesbezüglich sehen?« Sie hörte selbst, wie schroff ihre Stimme klang. Obwohl sie mit Marlies inzwischen gut auskam, musste sie sich versichern, dass es mit Arnes Anwesenheit seine Richtigkeit hatte. Marlies tippte auf ihrem Handy herum und reichte es an Kari weiter.
Ihr bekommt Verstärkung. In Anbetracht der Situation hier schicke ich euch einen Kollegen aus Dänemark.
Es folgten Foto, Name und ein paar Eckdaten zu Größe und Aussehen. Als voraussichtliche Ankunftszeit war der Nachmittag angegeben. Es stimmte alles, soweit Kari das beurteilen konnte.
»Okay«, sagte sie und gab Marlies das Handy zurück.
»Ich bin gebrieft was eure Zeuginnen angeht. Zeigt ihr mir das Haus?«
»Ach herrje.« Marlies legte die Hand auf den Mund. »Wo sollst du denn schlafen?«
Arne hob fragend die Brauen. »Kein Platz mehr?«
»Marlies und ich teilen uns ein Zimmer. Bea lehnt es ab, bei ihrer Mutter zu schlafen. Sie nutzt lieber eine Abstellkammer. Mehr haben wir nicht zur Verfügung.« Während sie sprach, kam Kari eine Idee. »Aber im Keller gibt es eine Art Partyraum. Mit einer Couch. Und einer Nasszelle.«
»Nasszelle?« Arne lachte lautlos.
»Neben der Sauna. Dusche und Waschbecken.«, erinnerte sich jetzt Marlies.
»Okay, das reicht mir.«
Arne und Marlies verschwanden im Abgang zum Keller. Kari ging eilig in die Küche, um das Mobiltelefon aus seiner Hülle zu befreien. Es war bis auf ein Verschlüsselungsprogramm komplett leer. Sie richtete den Sperrcode ein, speicherte Jos Nummer und versuchte danach gleich, ihren Chef zu erreichen. Er meldete sich nicht, die Mobilbox war ausgeschaltet. Sie beschloss, es später erneut zu versuchen. Wenigstens war sie jetzt nicht mehr abgeschnitten von der offiziellen Kommunikation.
In den nachfolgenden Stunden gingen sie zu dritt alle relevanten Informationen durch. Da Jo sich weder im Hinblick auf den geheimnisvollen Gesprächspartner von Sandra noch mit Neuigkeiten zum Prozessbeginn gemeldet hatte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf unbestimmte Zeit einzurichten. Arne erwies sich als erfreulich pragmatischer Kollege. Nach der internen Absprache mit seinen zwei Kolleginnen sprach er mit Bea und Sandra. Erstere war sichtlich hellauf begeistert von ihm. Letztere genauso spröde wie anfangs bei Kari. Die nutzte die Gelegenheit, um am späten Nachmittag eine Runde zu laufen. Sie brauchte frische Luft und Bewegung. Das Wetter an diesem Tag war unbeständig. Sonne und Wolken wechselten sich ab, aber die Temperatur bewegte sich bereits im mittleren zweistelligen Bereich. Kari verließ das Haus und lief über den Meetsweg in Richtung Strand. Von dort aus über den Bohlenweg weiter. Es war mild, aber es pfiff ein kräftiger Wind, der die Haare aller, die unterwegs waren, durcheinanderwirbelte. Auf den Bänken entlang des Weges hatten es sich Spaziergänger gemütlich gemacht. Kari lief, bis ihr Kopf frei war, dann kehrte sie um.
Als sie ins Haus kam, waren Bea, Marlies und Sandra im Wohnzimmer in eine hitzige Diskussion verstrickt.
»Auf keinen Fall, du bist viel zu jung«, hörte Kari Sandras aufgebrachte Stimme.
»Du hast keine Ahnung«, schleuderte ihre Tochter zurück.
Marlies erhob sich, als Kari in der Tür auftauchte. »Bea will die Pille«, flüsterte sie ihr zu.
»Weil sie einen festen Freund hat?« Kari schielte über Marlies’ Schulter hinweg zu den beiden Streithennen.
»Nö. Ich glaube, es geht ihr mehr darum, sich gegen ihre Mutter durchzusetzen. Eine Machtprobe, mehr nicht.«
Der Streit endete abrupt, als Arne den Raum betrat. Bea starrte verbiestert zu Boden. Sandra musterte den Dänen mit kühlem Blick.
»Wer hilft mir, eine Einkaufsliste zu erstellen? Ich glaube, der Kühlschrank ist leer.« Lächelnd sah er Mutter und Tochter an, als habe er von deren Debatte nichts mitbekommen.
»Ich!« Bea sprang auf und rannte an Arne vorbei in die Küche. Marlies und Kari tauschten einen vielsagenden Blick.
»Bleib an ihr dran«, flüsterte Kari, bevor sie duschen ging. So schnell, wie sich Bea anderen Menschen anschloss, konnte das unter Umständen zu Schwierigkeiten führen. Alle, nur nicht meine Mutter, schien sie damit sagen zu wollen.
Nachdem sie geduscht und sich umgezogen hatte, fand Kari Arne allein in der Küche. Er schraubte an einer von zwei Überwachungskameras herum, die vor ihm lagen. Aus Beas Kammer drang Musik. Sandra war in ihrem Zimmer.
»Kari, das ist ein dänischer Name«, bemerkte Arne, ohne aufzusehen.
»Meine Mutter ist Dänin.«
»Dann verstehst du das auch, oder?«, sagte er auf Dänisch.
»Ein bisschen. Sie hat ab und zu mit mir in ihrer Muttersprache geredet«, antwortete sie ebenso. »Wo ist Marlies?«, fuhr sie dann fort.
»Sie wollte einkaufen gehen«, entgegnete Arne. Er blickte nur kurz auf.
»Ohne Einkaufszettel?« Kari hob das dicht beschriebene Blatt eines Notizblocks hoch.
»Was?« Jetzt hob der Däne den Kopf. Sah, was sie in der Hand hielt. »Den hat sie vergessen.« Er ließ das technische Gerät auf die Tischplatte sinken.
»Ist sie schon lange weg?«
Arne schüttelte den Kopf. »Eben erst zur Tür raus. Wollte zu Fuß gehen.«
Kari machte auf dem Absatz kehrt und lief vors Haus. Der kürzeste Weg nach Nieblum hinein führte über die Strandstraße. Kari schnappte sich ihr Rad und fuhr los. Gleich nachdem sie auf die Straße eingebogen war, sah sie weiter vorn den charakteristischen hellen Schopf ihrer Kollegin. Marlies ging zügig, doch dann bog sie von der Straße ab und verwand in Richtung des kleinen Parks der An de Meere lag.
Kari bremste ihr Rad kurz vor dem Punkt ab, an dem Marlies die Straße verlassen haben musste. Etwas an der Situation beunruhigte sie und riet ihr zur Vorsicht. Am Radparkplatz ließ sie ihren fahrbaren Untersatz stehen und ging zu Fuß weiter.
Als sie Marlies entdeckte, blieb ihr vor Schreck fast das Herz stehen. Ihre Kollegin stand dort, heftig gestikulierend. Was sie sagte, konnte Kari nicht verstehen, dafür war die Entfernung zu groß. Was sie schockte, war die Person, mit der die andere sprach. Sie erkannte ihn sofort. Kari spürte, wie ihr Hals trocken wurde. Es war ihrer beider Chef, Jo Weinheimer.