Kapitel 29

Am Sonntagmorgen erwachte Kari beim ersten Tageslicht. Sie nickte Arne zu, der im Wohnzimmer saß und las. Dann duschte sie, befühlte vorsichtig die schmerzende Beule unter ihrem Haar und betupfte die in allen Farben schillernden Blutergüsse am Körper mit Jettes Tinktur. Danach bereitete sie in der Küche eine frische Kanne Kaffee. Sie wäre gerne nach draußen gegangen, zu einer langen Joggingrunde aufgebrochen. Aber das konnte sie in ihrem Zustand knicken. Da sie aber später sowieso noch zum Friedhof wollte und Marlies und Arne allein lassen musste, verzichtete sie auch auf einen Spaziergang.

»Versuch das Brot. Es ist lecker.« Der Däne tauchte in der Küche auf. Er bediente sich am Kaffee und zeigte auf ein Kastenbrot, das verführerisch duftete.

»Du bist gut beim Kochen und Backen«, stellte Kari fest. Er nickte lächelnd. Als er die Tasse hob, fiel ihr Blick auf das Freundschaftsband an seinem Arm. »Von Bea?«

»Jepp. Sie meinte, es solle ein Andenken sein.«

Kari rührte etwas Zucker in ihren Kaffee und trank in kleinen Schlucken. »Wie geht es weiter bei dir?«

»Du meinst morgen?« Er lehnte sich entspannt gegen den Türrahmen. »Sobald ihr die Insel sicher verlassen habt, geht es für mich erst nach Kopenhagen, danach in den Urlaub.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«

Er lachte. »Wir Dänen lieben es in den Ferien sonnig. Inselhopping in Griechenland.«

Kari, die gar nicht mehr wusste, wann sie zuletzt Urlaub gemacht hatte, mit Ausnahme des zwangsweisen Aufenthalts auf Föhr, nickte versonnen.

»Stelle ich mir schön vor.«

»Segelst du?«

»Oh. Nein. Das nicht.« Sie winkte lachend ab. »Alle in meiner Familie sind Wasserratten. Ich schlage da aus der Art und halte mich lieber an Land auf.«

Ihr Handy vibrierte und mit einem entschuldigenden Blick verließ sie die Küche.

»Wir haben Sandra Leonhardts Behauptung überprüft«, begann Jo ohne jede Anrede. Ein Zeichen dafür, dass das, was er gleich sagen würde, wichtig war. »Das gesamte Grundstück der Leonhardts wurde mit Spürhunden abgesucht. Nichts. Nada. Niente. Kein Toter unter einem Busch oder anderswo. Die einzigen sterblichen Überreste stammten von Kaninchen und Meerschweinchen.«

»Habt ihr überall gesucht?« Was hatte Sandra ihr erzählt?

Er hat den Toten im Garten begraben. Einen Rosenstock darauf setzen lassen. Solange er blühte, stand jeden Morgen eine Blume auf meinem Frühstückstisch.

Leonhardts Imperium war groß. Er besaß neben der Hamburger Villa noch andere Immobilien. Aber davon hatte Sandra nicht gesprochen. Es war klar gewesen, sie meinte die Villa, in der die Familie lebte.

»Seid ihr sicher, dass nichts übersehen wurde?«

»Kari, bitte!«

»Es berührt das Kernthema des Prozesses ja nicht«, sagte sie lahm.

»Das nicht. Aber ich frage mich, wie verlässlich diese Zeugin überhaupt ist.«

Diese Zeugin zog es an diesem Morgen vor, lange zu schlafen. Während Arne Bea Kartenkunststücke beibrachte und Marlies joggen ging, lief Kari nervös im Haus herum. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Wäre am liebsten nach Utersum zurückgefahren. Bis sie sich eingestand, dass sie gar nicht wissen wollte, wie alles weitergegangen war. Mit halbem Ohr hörte sie zu, was der dänische Kollege mit Bea sprach. Bis plötzlich ein paar Worte sie dazu brachten, die Ohren zu spitzen.

»Ich bin es gewohnt, auf mich aufzupassen«, sagte Bea. »Außerdem hatten wir alle Bodyguards. Mein Vater, weil er ein erfolgreicher Unternehmer ist. Ich, weil ich seine Tochter bin.« Sie erläuterte, dass sowohl ihre Nanny als auch ihr Chauffeur über eine entsprechende Ausbildung verfügten. »Du könntest mein neuer Beschützer sein«, lockte sie. Arne lachte.

»Ich bringe dir lieber noch ein bisschen was über Selbstverteidigung bei.« Bea schmollte, konnte dem charmanten Kerl aber nicht böse sein. Wenige Minuten später lachten sie schon wieder zusammen. Als Arne aufstand, um kurz rauszugehen, bewegte sich Kari auf Bea zu.

»Hatten du und deine Mutter auch Bodyguards?« Bea sah mit einem gelangweilten Blick auf. »Sage ich doch. Meine Mutter aber immer Frauen. Die sind weniger aufgefallen, wenn sie sie bei ihren Shopping-Exzessen begleitet haben.«

Kari wandte sich ab, als Arne zurückkehrte. Er klatschte in die Hände und fragte Bea, ob sie Lust habe, sich mit ihm in der Küche zu betätigen. Begeistert sprang sie auf und folgte ihm. Auf Kari machte sie den Eindruck, als genieße sie es durchaus, im Mittelpunkt zu stehen, gesehen zu werden. Etwas, das ihre Mutter ihr nicht gab oder nicht geben konnte. Beas Äußerung war verwirrend. Wenn Sandras Bodyguard eine Frau war, hatte sie dann gelogen mit ihrer Aussage über den Gesprächspartner? Befand sie sich in einer lesbischen Liebesbeziehung? Zusammen mit dem, was Jo ihr am Telefon erzählt hatte, ergab das kein ehrliches Bild. Nun tauchte eine Erinnerung auf. Sandra, die kürzlich vor dem Fernseher gesessen hatte. Ein alter Schwarzweißfilm mit Marlene Dietrich im Programm. Marokko. Gleichzeitig musste Kari an einen anderen Film der Diva denken. Ein Gerichtsdrama. Es ging darum, dass eine Frau gegen ihren ehemaligen Liebhaber aussagte. Als diese Aussage sich als falsch entpuppte, war er ein freier Mann. Er konnte nicht mehr für dieses Verbrechen angeklagt werden. Wie sich herausstellte, war alles eine abgekartete Sache und genau so geplant gewesen. Kari wurde kalt. Was, wenn Sandra sie alle belog? Nicht nur mit der Geschichte über das Mordopfer im Garten. Mit der Beziehung zu einem oder einer Bodyguard. Sondern darüber hinaus mit dem, was sie angeblich über Gereon Leonhardt in der Hand hielt. Nur, um ihren Mann offiziell mit Aussagen zu belasten, die im Prozess widerlegt werden konnten? Dann wäre das Verfahren geplatzt, Leonhardt würde das Gericht als freier Mann verlassen. Sie und alle anderen stünden wieder am Anfang. Hinter ihrer Stirn pochte es. In diesem Fall wäre auch der Überfall fingiert gewesen. Und klar, dass Sandra die Tippgeberin über ihren Aufenthaltsort gewesen war. Sie musste Jo einen dahingehenden Hinweis geben, falls er selbst bisher nicht darauf gekommen war. Aber erst wollte sie Sandra auf den Zahn fühlen.

Die geruhte an diesem Tag erst spät aus ihrem Zimmer zu kommen. Sie sah schlimm aus. Alle konnten sehen, dass sie geweint hatte. Ohne ein Wort mit jemandem zu wechseln, verschwand sie im Badezimmer. Das Wasser rauschte lange. Danach hörte man den Föhn. Erst geraume Zeit später tauchte sie wieder auf.

»Ich muss mit Ihnen reden.« Marlies, inzwischen zurück von ihrer Joggingrunde, kam Kari zuvor. Sie wirkte ernst und Kari fragte sich, ob auch sie einen Anruf von Jo erhalten hatte. Die beiden verschwanden in Sandras Zimmer. Sie musste sich gedulden. Beas Kichern drang aus der Küche in den Wohnbereich. Wenigstens eine, die an diesem Tag gute Laune verbreitete. Eine gute halbe Stunde nachdem Sandra und Marlies sich zurückgezogen hatten, kam Karis Kollegin aus dem Zimmer.

»Was ist los?«, fragte Kari sie.

Die Antwort bestand aus einer Kopfbewegung hin zu dem Raum, den die beiden Beamtinnen abwechselnd als Schlafzimmer nutzten.

»In einem von Leonhardts Autos wurden Hinweise auf einen unserer Beamten gefunden.«

»Was denn?«

»Blutspuren. Anhand der DNA konnten sie zugeordnet werden.«

Kari spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. »Was hat das denn zu bedeuten?«

»Frag nicht mich. Jo rief vorhin an. Sie sind mit Leichenspürhunden auf dem Gelände unterwegs gewesen. Einer hat so heftig angeschlagen, dass sie glaubten, etwas gefunden zu haben. Aber da lag kein Toter begraben. Dafür haben sie diese Blutspuren in einem Geländewagen entdeckt.«

»Waren sie … frisch?«

»Nein. Mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Die KTU musste kommen.«

»Keine Leiche?«

Marlies schüttelte bedächtig den Kopf.

»Die Identität des Kollegen steht dadurch also fest?«

»Jo gegenüber hält man sich diesbezüglich immer noch bedeckt. Was wir dennoch wissen: Es handelt sich bei dem Blut um das des verdeckten Ermittlers, der bei Leonhardt eingeschleust wurde.«

Kari schaute mit gerunzelter Stirn vor sich hin.

»Okay, wir kennen also den Namen des Mannes nicht. Lass uns dennoch mal rekapitulieren, was wir wissen. Sandra sagte, sie habe mit ihrem bisherigen Bodyguard telefoniert. Einem Mann, dem sie blind vertraut. Der ihr Geliebter ist, wie wir von Bea wissen. Dieser Mann nutzt das uns bekannte Handy des verdeckten Ermittlers. Es handelt sich also höchstwahrscheinlich um dieselbe Person. Was bedeutet, dass der verdeckte Ermittler eine Affäre mit der Ehefrau seiner Zielperson angefangen hat. Ob echt oder gefakt. Seine Blutspuren haben wir jetzt in einem Wagen aus Leonhardts Fuhrpark gefunden. Das bedeutet, dass es sich um keine tödliche Verletzung handelt, der Mann noch lebt, denn sonst könnte er nicht mit Sandra telefonieren.« Sie hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr. »Oder man hat ihn bereits vor einiger Zeit enttarnt und getötet. Derjenige, der das Handy weiterhin nutzt ist Sandras Lover und ahnt vielleicht nicht, dass wir das Mobilgerät zuordnen können.«

»Letzteres wirkt auf mich nicht überzeugend. Zu viele Wenn und Abers.«

»Ich tendiere ebenfalls zu Version eins. Wie auch immer seine Blutspuren ins Auto kamen.«

»Gibt es noch mehr Hinweise auf ihn? Was ist mit der Villa? Hat man sie ein weiteres Mal durchsucht?«

»Bisher nicht. Das Haus gehört ja Sandra. Offiziell steht es derzeit leer. Sämtliche Bewohner sitzen im Knast oder in Schutzhaft. Die Haushälterin ist die Einzige, die dort ausharrt und nach dem Rechten sieht.«

»Ich muss mit Sandra reden«, befand Kari.

»Besser nicht.« Marlies legte ihrer Kollegin die Hand auf den Arm. »Jo möchte, dass wir uns jetzt auf unser Kernthema konzentrieren. Die beiden zu schützen. In Hamburg wird Sandra von einer speziell geschulten Kollegin befragt werden. Ich glaube, die Staatsanwaltschaft will sichergehen, dass sie kein faules Ei ist.«

So wie es aussah, hatte Jo dieselbe Befürchtung wie sie. Kari nickte. Schweren Herzens. Sie hätte gerne von Sandra wissen wollen, was von ihren Behauptungen gelogen und was wahr war. Womöglich würde sie es aber nie erfahren.