Kari rüttelte an der Tür. Die Kneipe war um diese Zeit geschlossen. Aber sie wusste ja, dass sich Bents Wohnung über der Gaststätte befand. Sie lief zum Seiteneingang und klingelte Sturm. Nach einer scheinbaren Ewigkeit summte der Türöffner. Hastig rannte sie die Treppe hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Im ersten Stock erwartete sie eine halboffen stehende Wohnungstür. Sie zog ihre Waffe und stieß die Tür auf. Der lange Flur war leer. Kari wandte sich dem Raum vis-à-vis zu. Der Küche, wie sie wusste.
»Bent!«, rief sie, noch ohne sich zu zeigen.
»Hier sind wir«, antwortete er.
Sie spähte um die Ecke. Bent stand dort, gegen einen hüfthohen Küchenschrank gelehnt. Bea vor ihm, wandte ihr den Rücken zu. Sein Schutzschild gegen sie, die eine Waffe in der Hand hatte? Kari blieb abrupt stehen.
»Lass sie los.« Karis Stimme klang dunkel. Sie war so zornig, sie hätte ihn am liebsten angeschrien.
»Hallo«, sagte Bent. Gerade so, als wäre diese Situation das Selbstverständlichste auf der Welt.
Jetzt erst bemerkte Kari, dass es nicht Bent war, der das Mädchen festhielt. Vielmehr hatte Bea sich an den Mann geklammert. Deren Antwort auf Karis Aufforderung bestand aus einem heftigen Schluchzen und einer noch festeren Umarmung. Kari musste schlucken, als sie die beiden so sah. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Bent Bea tröstete. Weswegen auch immer. Nun hob er die Hand, um dem Mädchen übers Haar zu streichen. An seinem rechten Handgelenk baumelte ein buntes Band.
»Kari. Nimm bitte die Waffe runter.« Wie konnte er so ruhig sein? »Ich bin unbewaffnet und Bea ist es auch. Soweit ich weiß.« Er schob den Teenager etwas von sich und blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Oder?« Bea schniefte. Endlich drehte sie sich zu Kari um. Sie wischte sich mit den Fingern die Tränen aus den Augen.
»Verschwinde. Lass mich in Ruhe!«
Kari senkte die Waffe.
»Komm her zu mir«, forderte sie. Aber das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Ich bleibe hier. Bei ihm. Er bringt mich zu meinem Vater.«
Kari atmete tief aus. Sie starrte Bent an. Der wiederum sprang ihr überraschenderweise bei.
»Du musst tun, was Kari sagt.« Bea stieß bei seinen Worten einen klagenden Laut aus. »Sie hat recht. Selbst wenn du nicht mit deiner Mutter zusammen ins Zeugenschutzprogramm gehen willst, musst du mit den Behörden kooperieren.«
»Und warum hast du die Behörden nicht darüber informiert, dass Bea bei dir ist?« Kari hob kampflustig das Kinn.
»Wollte ich ja. Aber das Mobiltelefon, du weißt schon welches, ist ausgeschaltet.«
Kari schluckte. Er hatte recht, das Prepaid-Handy lag in ihrer Kate.
»Bea hat mir erzählt, dass du ein Freund ihres Vaters bist.«
»Und ich habe Bea gerade erzählt, dass das so nicht stimmt.« Bent wandte sich dem Mädchen zu. »Bitte, Bea. Erzähl Kari, was du mir erzählt hast. Und sag ihr, was ich dir geantwortet habe.« Nun war sein Blick weniger tröstend, sondern ernst.
»Ich verstehe das nicht«, stammelte Bea. Sie löste sich zögerlich von Bent und wandte sich Kari zu. »Ich dachte, mein Vater hätte ihn geschickt. Dass er mich holen kommt.« Sie fuhr sich durch das bereits reichlich verwuschelte Haar. »Aber Bent streitet das ab.« Sie verstummte mit einem hilflosen Blick.
»Es ist alles ein großes Missverständnis«, versuchte Bent, die Situation zu erklären. Bei den nächsten Worten sah er Kari direkt in die Augen. »Ich kenne Gereon. Habe ihn mehrfach in seiner Villa getroffen – dort hat Bea mich gesehen. Wir waren einander damals durchaus freundlich, wenngleich nie freundschaftlich, verbunden. Als ich an eurem Schutzhaus an der Godel aufgetaucht bin, dachte sie, ich käme in seinem Auftrag.« Bea wandte ihm ihr Gesicht zu. Ihre Augen waren geschwollen vom Weinen. Sie wirkte so jung und schutzlos, dass es Kari das Herz zusammenzog. Bent strich ihr tröstend über die Wange, bevor er sich vom Sideboard abstieß und ein paar Schritte auf Kari zuging.
»Bleib bloß stehen«, knurrte die und hob erneut die Waffe. Jetzt stand Bea nicht mehr zwischen ihnen. Dennoch fühlte sich die Heckler&Koch auf einmal schwer wie Blei in ihrer Hand an. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass sie zitterte.
»Wie wäre es, wenn ich uns allen einen Kaffee koche? Damit setzen wir uns hin und beratschlagen, wie es weitergehen soll«, schlug Bent vor.
»Dazu brauche ich keinen Kaffee«, knurrte Kari. »Bea muss sofort mit mir zurückkommen. Unser …« Sie verschluckte den Rest des Satzes, weil es Bent nichts anging, auf welchem Weg sie die Insel verlassen würden. »Unser Transfer wartet nicht.« Im Grunde war es sowieso bereits zu spät. Wenn der Heli pünktlich abflog, schafften sie das nicht mehr. Wie auf Kommando begann Karis Handy zu vibrieren.
»Geh ruhig dran. Ich werde dich nicht erschießen«, brummte Bent und wandte sich der Kaffeemaschine zu. Kari zog das Handy aus der Hosentasche. Es war eine Textnachricht von Marlies.
Wo bleibt ihr?
Schaffen es nicht
, tippte Kari. Sie würde Bea auf einem anderen Weg zurück nach Hamburg bringen müssen. Die ließ sich jetzt auf einen der Stühle am Esstisch fallen. Ihr Blick war starr. Sie kratzte sich ununterbrochen an den Unterarmen.
»Ich versichere dir, dass alles so ablaufen wird, wie wir es besprochen haben«, wandte sie sich erneut dem Mädchen zu. »Deine Mutter hat eingewilligt, dich bis zu deiner Volljährigkeit in einem Internat unterbringen zu lassen. Danach kannst du entscheiden, wo und wie du leben willst.« Sie wurde vom Zischen der Barista-Maschine unterbrochen. Kaffeeduft breitete sich in der Küche aus. Im selben Moment gaben die Wolken am Himmel die Sonne frei und goldene Strahlen fluteten durchs Fenster. Die Situation wirkte derartig absurd normal, all das passte so gar nicht zu dem, was hier ablief. Bent stellte drei Tassen auf den Tisch, dazu Zucker und Milch. Kari beobachtete ihn misstrauisch. Bea verkündete, sie müsse mal kurz ins Badezimmer. Als sie die Tür klappen hörten, wandte Bent sich Kari zu.
»Sagst du mir jetzt, warum du mit einer gezogenen Waffe hier aufkreuzt und glaubst, dass ich plötzlich dein Feind bin?« Sein Gesicht war hart geworden, seine schiefergrauen Augen lagen fordernd auf Kari.
»Das ist ganz einfach«, erwiderte die. Sie wiederholte all die Verdachtsmomente gegen ihn. Angefangen bei seinem Auftauchen am Schutzhaus, das Bea so fehlinterpretiert hatte, bis zu ihrem Zusammentreffen mit einem weiteren Killer.
»Wer, außer dir, konnte all das wissen?«, schleuderte sie ihm entgegen.
»Denk mal nach«, forderte er schroff. »Ich habe versucht, dich zu warnen!«
»Ah. Noch ein Indiz! Hätte ich fast vergessen!«, hielt sie ihm mit erhobener Stimme entgegen. »Dein detailliertes Wissen über Gereon Leonhardt und all die Leute, die er auf seine Frau, und damit auch auf ihren Personenschutz, angesetzt hat!«
»Was ist los?«, murmelte Bea, die just in diesem Moment in die Küche zurückkam. Ihr Haar war am Ansatz feucht, das Gesicht wirkte, als habe sie es gewaschen. Sie blickten sich alle stumm an.
»Gut«, durchbrach Bent das Schweigen nach einer Weile. »Dann erzähle ich euch beiden jetzt meine Geschichte. Bea, du kannst ruhig hören, was ich Kari zu sagen habe. Du solltest wissen, was dein Vater für ein Mann ist. Deine Entscheidung auf dieser Grundlage treffen.«
Bea sah Bent mit einem fast schon rührenden Vertrauen im Blick an.
»Ich bin auf einige Phasen meiner Vergangenheit nicht stolz. Das kann man auch über einige Jahre sagen, die ich in Hamburg gelebt habe. Dort habe ich Gereon Leonhardt kennengelernt. Aber nicht als sein Handlanger oder Mitarbeiter. Ich war sein Gast.« Bent fuhr sich seufzend übers Haar. »Dein Vater, Bea, betrieb damals eines der größten illegalen Spielcasinos in der Stadt. Halbwelt, Prominenz, Politik. Alle zockten bei ihm.« Sein Blick wanderte zu Kari. »Auch ich.« Kari zuckte mit den Schultern. Das haute sich jetzt nicht gerade vom Hocker.
»Vielleicht sollte ich konkreter werden. Ich war damals Berufsspieler. Ziemlich erfolgreich. Die Kohle kam, die Kohle ging, hängen blieb immer ein dicker Batzen. Gereon fiel das auf. Erst suchte er meine Bekanntschaft. Dann bot er mir einen Job an.« Er trank seinen Espresso in einem Zug aus, bevor er fortfuhr. »Er wollte ein zweites Casino eröffnen. Ich sollte es leiten. So kam es zu dem, was ich mal Bekanntschaft nennen möchte.« Er wandte sich Bea zu. »Freunde waren dein Vater und ich nie, das möchte ich klarstellen. Ich sage dir auch, warum.«
Bea, die ihren Kaffee nicht angerührt hatte, sah unsicher von Bent zu Kari. Die legte der Jüngeren beruhigend die Hand auf den Arm, obgleich oder vielleicht auch gerade weil sie ahnte, dass Bents Geschichte eher das Gegenteil bewirken würde. »Mir war nicht von Anfang an klar, wie brutal er sein Terrain verteidigte. Er schreckte dabei auch vor Mord nicht zurück.« Beas Augen wurden groß.
»Nein«, widersprach sie. »Das glaube ich nie und nimmer!«
»Es tut mir sehr leid.« Bents Stimme war auf einmal ganz sanft geworden und Kari biss sich beklommen auf die Lippe. »Beweisen kann ich es nicht. Dennoch weiß ich es genau. Es gab damals Streit mit einer ausländischen Gang. Sie kamen eines Abends und versuchten, Unruhe zu verbreiten. Schrien rum, pöbelten Gäste an. Gereon ließ sie rauswerfen. Aber das war ihm nicht genug.« Bent holte tief Luft, bevor er fortfuhr. »Am nächsten Morgen wurden die drei Rädelsführer auf einer Müllhalde gefunden. Er hatte sie liquidieren lassen.« Sein Blick traf den von Kari. Er würde Bea die Einzelheiten ersparen. Aber sie ahnte, dass es keine einfachen Morde gewesen waren. »Auch ich bekam seinen Zorn zu spüren. Als ich absagte. Das machte ihn wütend.« Er blickte auf seine Hände. »Kurz darauf verließ ich Hamburg.«
Bea kaute auf ihrem Daumennagel herum. Ihre Lider flatterten. Sie wusste offensichtlich nicht mehr, was sie glauben sollte. Sie senkte den Blick.
»Er ist mein Papa«, flüsterte sie. Bent und Kari sahen sich an. Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Auch Kari hatte das Gefühl, dass es unmöglich war, sie umzustimmen. Sie räusperte sich.
»Wie gesagt, wir bringen dich nach Hamburg. Deine Mutter wird dich nicht zwingen, mit ihr in den Zeugenschutz zu gehen, wenn du partout nicht willst.« Ihr Handy vibrierte erneut. »Sie sind abgeflogen«, murmelte Kari. »Wir nehmen die Fähre.«
Mit Bent war sie noch lange nicht fertig. Aber das musste warten. Falls er sie verraten hatte, würde sie es herausfinden und ihn zur Rechenschaft ziehen. Doch jetzt war Sandra in Sicherheit, auf dem Weg nach Hamburg. Sie und Bea würden folgen. Schnell tippte sie die Adresse der Wyker Dampfschiffs-Reederei ein.
»Verflucht!«, stieß sie hervor.
»Was ist?« Bent, der ihr keinen Hinweis darauf gab, wie er es fand, dass sie ihn eben noch für den Komplizen eines Verbrechers gehalten hatte, beugte sich zu ihr.
»Die PKW-Plätze auf der nächsten Fähre sind ausgebucht. Wir können nur als Passagiere mitfahren.«
»Lass deinen Wagen hier stehen. Das ist besser als in Wyk. Ich fahre euch.« Er stand auf. Bea sah zu ihm. Sie wirkte verlorener denn je. »Danke für das Freundschaftsband. Ich werde es in Ehren halten. Und du kannst mich jederzeit hier auf der Insel besuchen.« Bea wirkte nicht, als hätte sie große Lust dazu. Kari konnte nachvollziehen, wie es ihr ging. Ihr junges Leben lag in Scherben. Jegliche Sicherheit war ihr genommen worden. Dennoch musste sie sie jetzt zur Eile drängen.
»Bea, komm. Wenn wir uns beeilen, kriegen wir die nächste Fähre in Wyk.« Sie textete bereits an Marlies.
Setze mit Bea nach Dagebüll über. Von dort aus mit dem Zug weiter nach Hamburg. Gib Bescheid, wohin, sobald ihr angekommen seid.
Sie steckte das Handy weg und streckte ihre Hand nach Bea aus. Einen Moment lang durchzuckte sie ein Schreck. Was, wenn Bent selbst es war, der von Gereon den Auftrag erhalten hatte, Bea zu entführen?
»Du bist immer noch misstrauisch«, unterbrach er ihre Gedanken. »Soll ich euch ein Taxi rufen?« Sie zögerte nur kurz, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ist okay.« Schließlich fühlte sich Bea in seiner Nähe wohl und wenn sie Glück hatte, würde die junge Frau kein weiteres Theater mehr veranstalten.