Kapitel 36

»Haben Sie gesehen, wohin mein Begleiter gegangen ist?«

Das ältere Paar am Nebentisch blickte gleichzeitig von ihrem Kreuzworträtsel auf.

»Kuno, hast du gesehen, wohin der junge Mann gegangen ist?«

Kuno schüttelte bedauernd den Kopf.

Kari fragte bei den anderen Passagieren weiter, die um sie herum saßen. Die meisten hatten das Display eines Smartphones vor der Nase und schienen ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Aber von einer Fähre konnte niemand so leicht verschwinden. Es sei denn … Kari verbot sich, auch nur daran zu denken, dass Bea etwas passiert sein könnte. Nein. Sie drehte sich um sich selbst. Wenn es stimmte, was die Frau auf der Toilette gesagt hatte, war Bea bis vor wenigen Minuten dort gewesen. Jetzt war sie weder im Fahrgastraum noch auf dem Sonnendeck. Da gab es nicht mehr viele Möglichkeiten. In ihrem Kopf ratterte es. Während der Pandemie war es gestattet gewesen, während der Überfahrt im Auto sitzen zu bleiben. Was, wenn diese Regel noch galt? Blitzschnell drehte Kari um und lief zum Ausgang. Nahm im Sturmschritt die Treppe zum Fahrzeugdeck hinunter. Voll dunkler Vorahnung riss Kari die Tür auf, ließ sie vorsichtig wieder zufallen. Hier unten war es dunkel und kühl. Dicht an dicht standen PKW und kleinere Lieferwagen in mehreren Reihen hinter- und nebeneinander. Das Wasser gluckste an den Schiffswänden. Es war niemand zu sehen. Bis auf einen Schatten, der für eine Sekunde die Atmosphäre veränderte. Ein kalter Hauch streifte Karis Nacken. Sie stand ganz ruhig. Versuchte zu ergründen, was es war. Stille. Sie schluckte. Bewegte sich im Schneckentempo weiter in den Raum hinein. Plötzlich tauchte eine Gestalt neben ihr auf. Den Arm zum Schlag erhoben. Instinktiv duckte sie sich weg, bereit, ebenfalls zuzuschlagen. Bis sie sah, wen sie vor sich hatte.

»Arne«, zischte sie. »Du hast mich erschreckt.«

Arne hob als Antwort den Finger an die Lippen. Gleich darauf deutete er auf den Bereich des Decks, der am weitesten von ihnen entfernt lag.

»Bea. Ich habe sie mit einer Fremden hier runtergehen sehen und bin den beiden gefolgt.«

Jetzt hörte Kari es auch. Jemand redete sehr, sehr leise. Arne forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, sich mit ihm dorthin zu begeben. Sie huschten durch das Halbdunkel zwischen Kolonnen von geparkten Autos hindurch. Kari blieb hinter einem Lieferwagen stehen, als sie das Dach des weißen Kleinwagens erkannte, den sie bereits einmal gesehen hatte. War es ein Zufall? Sie glaubte nicht daran. Jetzt tauchte der Schopf der sommersprossigen Frau auf. Sie machte sich am Kofferraum zu schaffen.

»Sehr nett von dir«, sagte sie zu jemandem. Es war Bea, die antwortete. Kari zog ihre Waffe. Sie war mit wenigen schnellen Schritten bei den beiden Frauen.

»Was soll das?«, fragte sie schroff und zog Bea gleichzeitig vom Wagen weg.

»Ich wollte Franka nur was helfen. Sie trägt doch einen Arm in Gips.« Bea war so arglos. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schwebte. Die Frau, die sich Franka nannte, schaute mit leichtem Bedauern zu dem Mädchen. Arne war leise hinter sie getreten. Sie bemerkte ihn nicht.

»Sie ist verletzt. An der Schulter. Nicht wahr?« Kari schob Bea hinter sich, aus der Reichweite der anderen hinaus. »Eine Schussverletzung würde ich sagen. Nicht wahr, Franka? « Kari sprach den Namen so aus, dass sehr deutlich wurde, dass sie ihn für eine Lüge hielt. Die Blonde blieb stumm. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Es wirkte arrogant. »Ich weiß es ganz genau. Denn ich habe Ihnen diese Verletzung beigebracht. Als Sie uns in dem Haus bei Witsum überfallen haben. Um eine Frau zu töten. Im Auftrag ihres Ehemanns.« Kari bewegte sich einen halben Schritt auf die Frau zu. Deren Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. Bea japste erschrocken nach Luft. »Hat er Ihnen auch den Auftrag erteilt, die Tochter zu entführen? Wollten Sie das jetzt nachholen?«

Die Blonde hatte sich während des Gesprächs bisher nicht gerührt. Sie stand da, fast schon lässig, die Rechte in der Schlinge, die Linke ans Autodach gelegt. Sie war Rechtshänderin und Kari hatte nach dem Einbruchversuch ihre Pistole an sich genommen. Dennoch blieb sie auf der Hut. Es gab durchaus Menschen, die beidhändig schießen konnten, und Profikiller meist besaßen mehr als eine Waffe.

»Was soll das denn? Woher wussten Sie, dass sich Bea auf der Fähre befindet? Es macht übrigens keinen Sinn mehr, sie zu entführen. Die Sache ist so und so gelaufen.«

Die Blonde fuhr erschrocken herum, als Arnes Stimme in ihrem Rücken ertönte. Dann wandte sie sich erneut Kari zu. Ein verstörter Ausdruck war in ihre Augen getreten. Arne und Kari wechselten einen vielsagenden Blick. Bea gab einen unterdrückten Laut von sich.

»Du meinst, Franka hat nicht mitbekommen, in welche Richtung sich die Dinge entwickelt haben? Dass ihr Auftrag überflüssig geworden ist?« Kari lächelte fein.

Arne stand mit locker übereinandergeschlagenen Armen hinter der Fremden, in deren Augen ein hektischer Ausdruck getreten war. Kari musterte die Frau, die ihr so freundlich, so harmlos vorgekommen war. Sie war es. Diese Frau hatte sie überfallen. Sie hatte versucht, Sandra im Schutzhaus zu töten und hatte es anschließend geschafft, Marlies zu entkommen. Größe, Statur und der androgyne Körperbau stimmten. Deshalb waren sie und Marlies immer von einem Mann ausgegangen.

»Sie dachten doch nicht wirklich, dass Sie Bea einfach so mitnehmen können?« Kari trat einen Schritt zur Seite und spähte ins Innere des Kofferraums. Eine Flasche. Ein paar Geschirrtücher. Eine Rolle Klebeband. Alles, für sich genommen, nicht verdächtig. Aber sie war sich sicher, dass die Flasche Chloroform enthielt. Die Frau hatte ihre Ausrüstung die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt. Allzeit bereit, den einen oder anderen dunklen Auftrag auszuführen. »Sie müssen ganz schön gut sein in Ihrem Job.« Kari war überzeugt, dass das zutraf. »Eine Killerin gegen zwei Personenschützerinnen. Da muss man sich seiner Sache sicher sein.«

»Streng genommen gegen drei. Mein Zielobjekt kann schießen.«

Bea gab einen erschrockenen Laut von sich.

»Sie haben recht. Dennoch haben Sie den Auftrag übernommen.«

Ein eitles Aufblitzen in den Augen ihres Gegenübers zeigte Kari, dass sie auf dem richtigen Weg war.

»Ich arbeite gerne allein.«

»So wie bei Ihrem letzten Auftrag?«

Die Blonde blinzelte.

»Kleiner Tipp: derselbe Auftraggeber. Fast dieselbe Konstellation. Ein Zielobjekt, zwei Personenschützer. Na, klingelt es?«

Arne hob im Hintergrund anerkennend die Brauen.

Die Blonde wandte den Kopf, als wolle sie prüfen, ob noch jemand mithörte. Dann schaute sie stumm zu Boden. Es war ihr anzusehen, dass sie nach einem Ausweg suchte.

»Sie sind Gereon Leonhardts Frau fürs Grobe. Aber dieses Mal haben Sie Pech gehabt. Sandra ist Ihnen entkommen. Sie ist in Sicherheit.«

Die Reaktion der anderen war merkwürdig. Sie gluckste und schüttelte gemächlich den Kopf. Als sie Kari ansah, tanzte ein triumphierendes Flackern in ihrem Blick.

»Ich glaube, da sind Sie nicht richtig informiert.«