Kari hatte nach all den Strapazen der vergangenen Tage erstaunlich gut geschlafen. Als sie erwachte, war es bereits neun Uhr. Im Haus war es still, aber sie hörte Stimmen von draußen und ging hinaus. Trine und Jette standen auf dem Nachbargrundstück im Garten – mit etwas beschäftigt, das aus mehreren Eimern heraus heftig stank.
»Pfui Teufel! Was ist das denn?« Kari hielt sich die Nase zu.
»Brennnesseljauche.« Jette rührte mit einem Stock in der trüben Brühe herum. »Das Beste, was es für Gemüsebeete gibt.« So, wie es aussah, hatte Karis Nachbarin einen halben Wald dafür abgemäht.
»Gut, dass ich keine Gemüsebeete habe«, stellte Kari klar. »Und auch keine anlegen werde.«
»Weil?« Jette richtete sich auf und stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Weil meine Tochter wieder nach Berlin geht. Stimmts?« Trine strich sich lächelnd eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Ach so«, brummte Jette. »Ich hatte gehofft, du bleibst jetzt hier. War nett mit uns.«
Sie legte die Deckel auf die Eimer, was die Luft schlagartig verbesserte.
Jette und Trine wechselten einen beredten Blick.
»Ich fahre heute wieder nach Dänemark zurück«, verkündete Trine.
»Was?«, fragte Kari entgeistert. Für sie war das Gespräch vom Vortag noch lange nicht beendet.
»Es bleibt genügend Zeit, sich ein bisschen zu unterhalten«, fuhr ihre Mutter fort. Jette stahl sich im Hintergrund davon und Kari sah ihr nachdenklich hinterher. Würde wirklich auch sie Schwierigkeiten bekommen? Immerhin war es ihre Mistgabel gewesen, die den Hals des Profikillers aufgeschlitzt hatte.
Wie sich herausstellte, hatte sich Trines Haltung nicht verändert. Als Kari aus der Dusche kam, war ihre Mutter bereits dabei, ihre Sachen in eine Reisetasche zu packen.
»Du willst wirklich fahren?«, fragte Kari ungläubig. Wie konnte die Frau, die sie geboren hatte, so kühl agieren? Andererseits war es ja genau das, was ihre Tochter ihr insgeheim schon immer vorwarf.
»Ja. Und du solltest jetzt den Deckel auf diese unselige Geschichte machen. Denk einfach mal darüber nach, was geschehen wäre, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Jette würde nicht mehr leben. Ich ebenso wenig. Du wärst ebenfalls tot. Der Kerl wollte etwas von dir wissen. Entweder, er hätte es erfahren, oder er hätte eingesehen, dass du es ihm nicht sagen kannst oder willst. In jedem Fall wäre dein Ende besiegelt gewesen.«
»Du sagst, dass du von deinem Vater schießen gelernt hast. Auf der Jagd.«
Trine sah misstrauisch hoch zu ihrer Tochter. »Aber man jagt normalerweise mit einem Gewehr. Und die Handhabung von Gewehren und Pistolen ist eine andere.«
»Kari. Was willst du mir damit sagen? Oder unterstellen?« Trines Stirn lag in Falten. Sie wirkte streng und unnahbar und damit genau so, wie ihre Tochter sie kannte.
»Ist dir bewusst, dass du das allererste Mal mir gegenüber von deiner Herkunftsfamilie gesprochen hast?« An Trines rechtem Auge begann das Lid zu zucken. Mit einer heftigen Bewegung drehte sie sich von ihrer Tochter weg. Kari sah, wie es in ihrer Mutter arbeitete. »Immer, wenn ich dich früher danach gefragt habe, weil ich gerne meine Großmutter und meinen Großvater mütterlicherseits kennenlernen wollte, hast du abgeblockt. Uns wissen lassen, dass es keine familiären Bindungen gibt. Warum?« Kari ging zwei Schritte auf ihre Mutter zu und berührte sie sanft an der Schulter. »Sag es mir doch einfach. Für mich war immer klar, dass deine eigene Kühle mir gegenüber etwas damit zu tun haben muss. Dass du selbst vielleicht ebenfalls nichts anderes erfahren hast als Kind oder Jugendliche.« Sie hatte befürchtet, dass sich Trine von ihr losmachen, sie mit einer Ausrede abspeisen würde. Umso erstaunlicher war deren milde Reaktion.
»Möglicherweise hast du recht. Die Beziehung zu meinen eigenen Eltern war schwierig. Aber nicht kalt oder hart. Das nie. Dass mein Vater mich mit auf die Jagd genommen hat, ist die Wahrheit.« Sie drehte sich zu Kari um und legte ihr die Hand an die Wange. »Ich weiß, dass du mich für kühl hältst. Zu wenig mütterlich.« Sie seufzte kurz. »Und das bin ich vermutlich. Dieses Gluckenhafte liegt mir nicht. Dennoch bist du mein Kind und ich möchte dich schützen. So ich es bei einem erwachsenen Menschen eben kann.« Sie musterte Kari mit einem mitfühlenden Blick. »Was diesen Mörder betrifft, bin ich der festen Überzeugung, dass es gut ist, wie es ist. Es wäre fatal, wenn du und ich deswegen in Schwierigkeiten gerieten.«
Stumm musterten sie sich. Kari seufzte.
»Was quält dich so?«
»Was mich quält?« Kari hob die Hände.
»Was ist mit deinem Job?«
»Ich war suspendiert. Habe einen Fehler gemacht. Oder wurde verraten. Solange ich es nicht weiß, habe ich keine Ruhe. Ich will vor allen Dingen zurück in den Dienst, um diese Sache klären zu können.« Sie war selbst erstaunt, dass ihr all das so flüssig über die Lippen kam.
»Dann ist es gut so, wie es ist. Dass Jette und ich uns um die Sache gekümmert haben. Je weniger du weißt, desto besser.«
Die Sache . So nannte ihre Mutter das also. Kari verstand, was Trine ihr sagen wollte. Noch mehr Schwierigkeiten konnte sie zurzeit brauchen wie einen Kropf am Hals.
Trine trat einen Schritt zurück. »Aber wenn du es anders siehst, wenn du wirklich wissen willst, was wir mit ihm gemacht haben, sage ich es dir.« Stumm sahen sie sich an. Kari wusste, dass sie anders hätte reagieren müssen. Dennoch schüttelte sie den Kopf.
»Vielleicht später«, murmelte sie.
Zum Abschied umarmten sie sich vor dem Haus und Kari entdeckte zu ihrer Überraschung Tränen in Trines Augen.
»Er fehlt mir«, sagte sie zu ihrer Tochter. Die wusste genau, wer gemeint war, ging es ihr doch genauso. Sobald sie an ihren Vater dachte, wurde sie wehmütig.
»Du fehlst mir auch«, setzte Trine noch hinzu, bevor sie in das bereits wartende Taxi stieg. Kari winkte ihrer Mutter nach, bis der Wagen außer Sichtweite war. Dann machte sie sich auf den Weg zu jemandem, mit dem ebenfalls ein Gespräch fällig war.