13

Vorhang auf. Aber da hingen gar keine Vorhänge. Wo war sie? Ein großes Fenster. Licht auf einer farbig gestrichenen Wand. Richtig: die neue Wohnung. 13. Stock. Brooklyn. Wie gerade fast alles in ihrem Leben, waren die Vorhänge in einer Umzugskiste, irgendwo in diesem großen Haufen von Kisten, wahrscheinlich in der allerletzten, in der sie nachschauen würde. Regan glaubte, oder dachte zumindest, dass sie es glaubte, dass der Inhalt der Kisten sich umschichtete, wenn die Deckel geschlossen waren, und manchmal sogar durch Teleportation von einer Kiste in eine andere wechselte, so dass das, was man gerade am dringendsten benötigte, immer genau da war, wo man nicht danach suchte. War das eine Metapher für irgendetwas? Durch das nach Osten gerichtete Fenster knallte ihr Licht wie ein stumpfes Trauma ins Gesicht. War das eine Metapher für irgendetwas? Und weshalb war ihr das bisher noch nicht aufgefallen? Normalerweise war sie früher auf, deshalb. Irgendjemand war schon auf – sie roch gebratene Eier, und im Wohnzimmer lief der Fernseher –, aber das war, offensichtlich, nicht sie selbst. Wieso konnte nicht der Fernseher in einer Kiste sein, und die Vorhänge schon aufgehängt? Kreidestaub schien sich ihr auf Mund und Hals gelegt zu haben. Ihr Daumen pochte. Schmerz kroch von ihren Schläfen in das Gewölbe ihres Schädels, wo ihr vertrocknetes Gehirn jetzt saß, ein mickriger Herrscher auf einem zu großen Thron, und vor sich hinschwatzte, anstatt zu tun, was es hätte tun sollen, nämlich ihren Kater auszuschlafen. Das war zu viel Champagner gewesen – sie hatte ihn ausgekotzt, wie sie sich jetzt erinnerte, am Straßenrand des FDR-East River Drive, was auch das pelzige Gefühl in ihrem Mund erklärte, obwohl sie sich die Zähne geputzt haben musste, sie wäre niemals ohne Zähneputzen ins Bett gegangen, oder etwa doch? Ganz ehrlich, wer hätte sich daran erinnern können? Sie war sich sicher, wenn sie sich umdrehte, weg vom Sonnenlicht, würde die Rückseite ihres Hirns gegen die Schädeldecke schwappen, und der Schmerz würde oszillieren, aber sie musste es tun oder würde nie wieder einschlafen können. Sie hielt die Vorhänge ihrer Augenlider geschlossen, holte tief Luft und drehte sich stöhnend um. Irgendein Unterton von Aktivität kam im Nebenzimmer zum Erliegen. »Mom?« Sie sollte wirklich aufstehen, sie wusste nicht, was sie davon hielt, dass Will den Herd benutzte, während sie schlief, aber die Eier rochen wie der Tod. Das war eines ihrer Katersymptome, erinnerte sie sich, die, bis sie Kater schließlich ganz hinter sich gelassen hatte, zu einer barocken Fülle von Symptomen angewachsen waren. Synästhesie. Herzrasen. Merkwürdige Höreindrücke. Größenwahn. Selbsthass. Neurose. Die Unfähigkeit, wenn sie einmal wach war, das Einzige zu tun, was sie gesund machen konnte, nämlich wieder einzuschlafen. Sie zog sich ein Kissen über den Kopf und warf einen vorsichtigen Blick auf den Wecker. 8.15 Uhr. Wie konnten sie jetzt schon wach sein, wenn es doch an jedem anderen Morgen so schwierig gewesen wäre wie Zähneziehen, Will schon so früh aufzuwecken? Wieso konnten sie, in der Kiste ihres Lebens, nicht noch im Bett sein, süße Träume träumend, das reine Potential? Der Schmerz machte jetzt ernst und ging mit Dolch und Säbel auf ihr Kleinhirn los. Im Kopf ging sie die nächsten Schritte durch. Aufsetzen. Noch einmal Zähneputzen; Wasser trinken; Aspirin schlucken. Ihr Gesicht darauf vorbereiten, die Gesichter zu treffen … Nicht schön, aber notwendig. Denn wenn es eines gab, was Regan über sich selbst wusste, dann war es, dass sie nicht wieder einschl

 

 

Vorhang auf. Der Fernseher war noch an, doch jetzt liefen keine Zeichentrickfilme mehr; die durch die Wände gedämpften Stimmen klangen zu erwachsen dafür. Außerdem: Die Dusche lief. Kissenbezüge aus Flanell umhüllten ihren Kopf wie den einer Mumie, doch innen drin war einfach nichts. Sie hätte sich jetzt nicht einmal die Schuhe binden können. Sie war erstaunt, überhaupt über die Sprache zu verfügen, um zu denken, vorausgesetzt, Menschen dachten überhaupt in Sprache. Sie ließ den Spalt Licht zwischen den Kissen sich weiten. Es war fast zehn, sagte die Uhr. Weiter zu schlummern wäre einer Abdankung gleichgekommen; sie hatte ihre acht Stunden gehabt, mehr oder weniger. Und doch entfernte sie jede Bewegung weiter von der warmen Hülle, die ihr Körper in der Nacht ausgehöhlt hatte. Sie musste versuchen, ganz genau diese Position wieder einzunehmen. Doch was hatte sie diesmal geweckt? Nicht der Wecker, denn den hatte sie nicht gestellt, und auch nicht der Fernseher, denn der war bereits an gewesen. Nein, es war das Gefühl, beobachtet zu werden. Mit heldenhafter Anstrengung drehte sie sich auf den Rücken, ließ ihre verletzte Hand aus dem Weg plumpsen, und da, einen Schritt vor der geöffneten Schlafzimmertür, ragten Streichholzbeinchen aus einem Nachthemd hervor. Statisch aufgeladenes, wirres Haar. Es war Cate.

»Will hat gesagt, ich soll nicht zu dir gehen, aber ich hab gesagt, du würdest es wollen.«

Jede Silbe war ein winziger Hammerschlag vor den Staudamm, der Regans Kopfschmerz zurückhielt. Sie zog die Decke ein Stück zurück und klopfte auf ein warmes Fleckchen Matratze. »Komm her, Schatz. Aber sei … vorsichtig, Mommy tut der Kopf weh.«

Es war zu spät. Jede Unsicherheit war verschwunden, als Cate herüberhüpfte und sich ins Bett warf. Und natürlich war es eine Art Erleichterung, diesen kleinen, sich windenden Backofen neben sich zu haben, der einen daran erinnerte, dass es noch andere und wichtigere Körper gab als den eigenen. Eine Hand kroch über ihre Stirn wie ein kleines Haustier, fühlte, ob sie Fieber hatte, wie sie es so oft bei Cate getan hatte. Es war eine ihrer Lieblingsausreden geworden, wenn sie nicht zu Keith wollte. Mommy, ich hab Fieber, fühl mal meine Stirn.

»Mir geht’s gut, Süße.« Falten bildeten sich auf dem faltenlosen Gesicht, zogen es zu einer Grimasse des Missfallens zusammen. Regan fiel ein, wie ihr Atem riechen musste und hielt sich die Hand vor den Mund. »Entschuldige«.

»Mommy! Was ist mit deiner Hand passiert?« Cate untersuchte den verbundenen Daumen bereits wie eine Wahrsagerin, und so sehr es auch weh tat, Regan liebte es, diese rücksichtlose Rücksichtnahme, die Art, wie Cate, mit ihren sechs Jahren, den Unterschied zwischen ihrem eigenen Schmerz und dem Schmerz der anderen noch nicht recht verinnerlicht beziehungsweise halluziniert hatte.

»Nichts Schlimmes, Süße. Nur ein Kratzer.«

»Müssen wir trotzdem zu Dad?«

»Auf jeden Fall.« Ein Krampf explodierte in Regans Kopf, als sie sich aufsetzte. »Hör mal, meinst du, du könntest Mommy ein Glas Wasser und ein paar Aspirin bringen?«

»Will kommt nicht aus dem Bad raus.«

»Nicht petzen, Schatz. Außerdem sind die in meinem Bad. Da müsste ein Arzneikasten auf dem Schrank stehen. Auf der Flasche steht A, S, P … Wenn’s nicht da ist, ist es in einer der Umzugskisten.«

Eine Aufgabe zu haben schien die Angst aufzusaugen, die Cate sonst umspülte. Sie war ihrer Mutter Tochter. Doch sie brauchte nur ein Viertel der Zeit, die Regan gebraucht hätte, um das Aspirin zu finden. Zufrieden sah sie zu, wie ihre Mutter drei Tabletten in die Hand nahm, und passte auf, dass sie sie mit Wasser herunterspülte. »Du wirst mal eine tolle Ärztin sein, Cate.«

»Eine Ponyärztin.«

»Eine Veterinärin. Und jetzt, Süße«, sagte Regan, beinahe flüsternd, als würde sie Cate in eine Verschwörung einweihen, »brauch ich ungefähr zwanzig Minuten, bis die hier anfangen zu wirken. Meinst du, du kannst aufpassen, dass dein Bruder nicht reinkommt?«

Cate nickte.

»Zwanzig Minuten, dann steh ich auf, versprochen. Jetzt komm her.« Sie drückte Cate einen Kuss auf die Stirn, und während sie aufs Kissen zurücksank und ihre Augenlider Richtung Süden sacken ließ, konnte sie das Mädchen aus dem Raum hopsen hören, um vor dem Kinderbadezimmer zu warten, bis sie Will herumkommandieren durfte.

 

 

Vorhang auf, noch einmal. Es war fast Mittag, behauptete die Uhr, und die knochenweißen Wände und vor Brillantine glänzenden Fußböden um sie herum pulsierten im gelblichen Licht. Es gab Fenster auf zwei Seiten. Die Maklerin hatte nicht aufgehört, die »Südlage« zu erwähnen – das schien ihre Antwort auf jeden Vorbehalt gewesen zu sein, den Regan in Bezug auf die Wohnung vorgebracht hatte, und diese Antwort hatte sie auf die Schnelle finden müssen. »Ach, aber die Südlage ist großartig.« Regans Grundeinstellung der gesamten Menschheit gegenüber war zu diesem Zeitpunkt von Misstrauen geprägt, und sie konnte dem Enthusiasmus der Frau nicht so recht glauben, die ihr schließlich etwas zu verkaufen versuchte. Sie hatten auch in der East Sixty-Seventh Südlage gehabt, aber das hatte nur bedeutet, dass sie einen schönen Blick auf die Fenster des fast identischen Gebäudes gegenüber hatten. Und nach ein paar Wochen in dieser neuen Wohnung hatte sie es vergessen, genau wie sie die weiteren Verkaufsargumente vergessen hatte. Nebenkosten inbegriffen hieß, dass man vom Vermieter abhängig war, wie lang und wie sehr man heizen konnte, und für heißes Wasser. Gemütliche Schlafzimmer/Schränke hieß entweder das eine, oder das andere, du hast die Wahl. Sie waren mitten in der lichtlosen Zeit des Jahres eingezogen, als der Himmel höchstens bis zum Farbton von fettarmer Milch aufhellte. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, sickerte das letzte Sonnenlicht schon hinter dem World Trade Center vom Horizont, und kurz bevor sie die Jalousien herunterließ, erschien ihr die gekippte Schüssel des Hafens wie ein Blech aus Blei, das nur von den Lichtern einer langsamen Fähre unterbrochen wurde. Jetzt verstand sie: Hier in Brooklyn Heights gab es keine Hindernisse, die den Weg versperrten, und wenn der Himmel aufriss, so wie heute, strahlte das Mittagslicht wie ein zweiter Himmel vom Wasser ab. Es war, als versuchte man, auf der Sonnenoberfläche zu schlafen.

Sie zog die Mullbinde zurück, die sie sich nicht recht erinnern konnte, um ihren Daumen gelegt zu haben. Vor der orangefarbenen Bettdecke sah der Schnitt lila aus, möglicherweise entzündet. Und dann gab es noch diesen anderen Kummer: Ihr Vater, achtundsechzig und bestenfalls nur halbsenil, würde am Montag angeklagt werden. Sie wünschte sich wieder, dass ihr Bruder hier wäre, um sie zu stützen. Und trotzdem, das Licht auf den Wänden und der Decke und auf den goldenen Härchen ihrer Arme entsprach etwas tief in ihr drin. Und außerdem war da noch die unmittelbare Aussicht auf Kaffee, den sie, in weiser Voraussicht, gestern gekauft hatte. So viel zum Thema Alkoholismus. Okay, Welt. Okay. Sie stand jetzt auf.

 

 

Sie schlurfte in Pantoffeln und Bademantel in das große Zimmer und passte auf, dabei nicht ihren dampfenden Kaffee zu verschütten oder über die Kisten zu stolpern, die im Türdurchgang aufgestapelt waren. Der Weihnachtsbaum stand einsam in seiner Ecke, ohne Möbel, die ihn umgaben. Wie sich zeigte, war alles, was dafür nötig war, um einem Tannenbaum den Reiz zu nehmen, direktes Sonnenlicht. Ein paar Fetzen Geschenkpapier waren wie Wollmäuse in die Ecke geweht. Ein Kranz aus trockenen Nadeln schmückte den Fußboden.

»O Mann, Mom. Du siehst aus wie Edith Bunker aus All in the Family«, sagte Will und drehte sich wieder zum Fernseher um, bevor sie ihr Gesicht zu der Miene verziehen konnte, die er erwartete. Die Trennung hatte ihn, wie es schien, bereits älter werden lassen. Die Art, wie er jetzt in ihrer Nähe dichtmachte, wie er verschlossen und der Welt überdrüssig wurde, stand ganz vorne in ihrem Katalog der Sorgen. Sie setzte sich neben ihn auf die Couch, und er starrte und starrte auf die Werbespots, als könnten die Antworten auf die großen Fragen des Lebens jeden Augenblick am unteren Bildschirmrand aufblitzen. In der alten Wohnung hatte es eine strenge Obergrenze gegeben, fünf Stunden Fernsehen pro Woche; die hatte er allein heute vielleicht schon überschritten, doch von den vielen Teilen des alten Glaubenssystems, die sich mit einem Mal in Luft aufgelöst hatten, schien es dieses, fürs Erste, am wenigsten wert zu sein, darüber zu streiten. »Wo ist deine Schwester?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Na, ich find’s schön, dass du ihr Frühstück gemacht hast.« Sie strich ihm das nasse Haar aus den Augen. Sie wusste, dass er sich hässlich fand, weil er gerade in diesem Alter war, aber in ihren Augen war er, auch in Schlafanzughose und einem von Keiths ausgeleierten alten T-Shirts – auch wenn er ihr nie vergeben würde – hübsch. »Du hast dich toll um sie gekümmert, diese ganze Zeit über. Ich weiß, das wird ihr irgendwann mal viel bedeuten. Mir bedeutet es sehr viel.«

»Mom –«

»Okay.« Sie hielt ihm ihren Becher hin, und er nahm einen Schluck und versuchte, seine angewiderte Grimasse vor ihr zu verbergen.

»Cate hat gesagt, dir geht’s nicht gut«, sagte er.

»Mir geht’s gut, das wird schon.«

»Hat’s wenigstens Spaß gemacht? Hast du Opa gesehen?«

»Er und deine Großmutter fanden die Weihnachtgeschenke ganz toll«, sagte sie. Die Kinder wussten noch nichts von dem Besuch in der Mayo Clinic, und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.

»Cate ist, glaube ich, in ihrem Zimmer und packt. Sie tut so, als müsste sie ihre fünf Lieblingskuscheltiere auswählen, und ihre Lieblingsbücher und jeden einzelnen Pulli, den sie vielleicht anziehen will.«

»Wir könnten euch Schränke kaufen. Dann könntet ihr in beiden Wohnungen Klamotten haben.«

»Das ist es nicht«, sagte er und griff wieder nach ihrem Kaffee. Zumindest im Augenblick war er vor allem deshalb böse auf sie, weil sie sie so lange allein gelassen hatte: Sechzehn, achtzehn Stunden war es her, dass sie Mrs Santos die Tür aufgemacht und ihnen einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Sie würde sich mehr anstrengen müssen; das Buch, das ihr Analytiker ihr gegeben hatte, warnte vor den Verlustängsten, die Kinder entwickeln konnten. Aber wie sollte sich das nach einer Scheidung vermeiden lassen? Auch wenn sie doppelt so viel Aufmerksamkeit und Fürsorge benötigten, hatte man selbst nur halb so viel zu geben, weil man doppelt so hart arbeiten musste, um doppelt so viel Geld zu verdienen, und weil man seinen eigenen verdoppelten Bedürfnissen gerecht werden musste. »Das kommt mir nicht richtig vor. Wir bleiben nur eine Nacht.«

»Na ja, vielleicht müsstet ihr diesmal auch noch den Sonntag bleiben.«

»Wieso?«

Jetzt kamen die Mittagsnachrichten, und sie sorgte sich plötzlich: Was, wenn sie sich diesen Fetzen der »Dr.« Zig-Sendung letzte Nacht im Radio nicht eingebildet hatte, wenn sie wieder einmal von Amory betrogen worden war? Was, wenn er die Vorführung vor Gericht nicht auf Montag verschoben hatte? Was, wenn ihr Sohn sah, wie sein Großvater und Namensvetter in Handschellen aus einem Flugzeug geführt wurde? Manchmal musste sie gegen die Versuchung ankämpfen, sich ihm anzuvertrauen, als wäre er so erwachsen, wie er sich gab. »Frag mich nicht, wieso. Schmeiß einfach, wenn du deine Sachen packst, noch einmal Hemd und Unterwäsche mehr dazu. Wir treffen Dad in einer Stunde.«

»Ich bin schnell.«

»Das weiß ich, aber warum machst du’s nicht gleich, dann können wir uns zusammen um Cate kümmern.«

Als er den Raum verlassen hatte, konnte Regan ihrer Neugier nachgeben. Sie drehte den Fernseher leiser und stellte sich einen Meter vor den Bildschirm. Tatsächlich war im dritten Bericht ein Reporter zu sehen, der mit Ohrenschützern vor dem jetzt sonnigen Central Park stand. Ihr Herz schlug heftig; das viele Blut ließ ihre Kopfschmerzen zurückkehren. Sie kniete sich hin, um besser zu hören. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Reporter über die Schießerei von letzter Nacht sprach. Der Zustand des Opfers, einer Studienanfängerin an einem der örtlichen Colleges, war kritisch. Eine Minderjährige. Möglicherweise ein versuchter Raubüberfall. Die Polizei verfolgte verschiedene Spuren, mehr war nicht bekannt. Sie hasste sich für die Erleichterung, die sie verspürte: Es war, als hätte die Schießerei die Anklage gegen Daddy irgendwie ungeschehen gemacht. Der Name wird aufgrund ihres Alters nicht genannt, sagte der Typ gerade, als Regan durch eine Stimme von hinter ihr aufgeschreckt wurde. »Mom?«

»Wolltest du nicht packen?«

»Ich hab gesagt, ich bin schnell.«

»Gut, dann lass mich ein paar Sachen überziehen und wir gehen runter zum Spielplatz und flitzen ein bisschen herum, bis euer Vater kommt.«

»Ich bin zwölf, Mom. Ich flitz nicht herum.«

»Ich bin sechsunddreißig, und sogar ich muss manchmal herumflitzen«, sagte sie. Was sie eigentlich musste, war, all diesen Erinnerungen zu entkommen. »Komm, heute soll es draußen richtig warm werden. So einen Tag haben wir vielleicht ewig nicht mehr.«

 

 

Es waren weniger als einhundert Schritte von der Haustür des neuen Hauses bis zum schmiedeeisernen Tor des Pierrepont Street-Spielplatzes – das hatte die Maklerin gesagt, und Cate hatte es am Nachmittag des Umzugs überprüft, wobei sie etwas größere Schritte als üblich machte, »Erwachsenenschritte«, hatte sie Regan erklärt, während sie jeden einzelnen minutiös mitzählte. Es war ein schöner kleiner Park, in einer Lücke, in der zwei oder drei Stadthäuser Platz gefunden hätten, mit Blick auf den Hafen, und heute, weil der Großteil des Schnees geschmolzen war, wimmelte es auf den Spielgeräten vor Kindern, unter die sich Cate sofort mischte. Ihre kleinen Körper pumpten das Blut so viel effizienter; jeden Augenblick würde Cate zurückgeeilt kommen und fragen, ob sie ihren Mantel ausziehen dürfe. Regan setzte sich auf eine Bank in der Nähe einiger Frauen, die sie aus dem Supermarkt drüben in der Hauptgeschäftsstraße zu kennen glaubte. Sie gab ihr Bestes, eine verantwortungsvolle, nicht verkaterte Mutter zu spielen, und nickte ihnen zu, deutlich genug, um zu einer Antwort einzuladen, aber auch leicht genug, um es zur Not als Versehen abzutun. Das Nicken, das von den Frauen zurückkam, war zu leicht, um es als Einladung zu deuten, also wandte sie sich wieder den Kindern zu. Cate, mit ihrem Eingeborenen-Gefühl für Entfernungen, hatte am heftigsten gegen den Umzug aus der East Sixty-Seventh protestiert, mit der Begründung, dass sie dann weit weg von ihren Freundinnen sein würde. Jetzt hatte sie zwei neue. Sie hatten sich aus dem Pulk gelöst, auf die heimliche Art, die Mädchen beherrschten, und scharrten jetzt mit Stöcken am Fuße eines Baumes, der noch immer von weißen Schneeverwehungen bedeckt war. Sie hätten gerne mehr Schnee gehabt, dachte sie; es war der erste des Jahres gewesen, und sie waren zu jung, um zu wissen, dass sie das Tauwetter genießen sollten, solange es hielt. Sie widerstand dem Drang, ihnen zuzurufen, auf die Vögel in den Ästen über ihnen aufzupassen, deren Dreck den nassen Asphalt darunter grün-grau-weiß gefärbt hatte, denn wer auch immer gesagt hatte, die Jugend sei an die Jungen verschwendet, lag total falsch. Das Erwachsenenalter war die eigentliche Verschwendung.

Will lehnte unterdessen grübelnd gegen einen verlassenen Teil des Zaunes, vor seinen Füßen seine Reisetasche und die seiner Schwester. Es wäre unendlich uncool gewesen, neben seiner Mutter zu sitzen, ein Eingeständnis seiner eigenen Schwierigkeiten, Freunde zu finden, obwohl der einzig erdenkliche Grund, warum irgendein Kind nicht mit ihrem brillanten und warmherzigen und unheimlich sensiblen Sohn hätte befreundet sein wollen, der jetzt seine Arme kreuzförmig ausstreckte und die Hände zwischen die Gitterstäbe steckte, Neid gewesen wäre. Er sah aus wie ein Werbeplakat für Langeweile. Hinter ihm waren der Himmel, New Jersey und das Wasser ein Parfait von abnehmender Helligkeit. Er hatte recht gehabt. Er war zu alt für Spielplätze. Aber sie wollte nicht, dass sie die lange Fahrt mit der Subway oder dem Taxi nach Uptown allein unternahmen – es erschien ihr nicht sicher –, und als Keith, nachdem sie sich geweigert hatte, ihm auf halber Strecke entgegenzukommen (wieso sollte sie?), sich bereiterklärt hatte, hierherzukommen und sie abzuholen, stellte sie fest, dass sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn in der neuen Wohnung zu sehen, oder auch nur im Hausflur vor der Wohnung. Das war schließlich der Zweck des Umzugs, und vielleicht auch, warum alles noch in Kisten war – denn sie konnte nicht genau wissen, was sie (die andere sie, wer auch immer das war) angefasst hatte. Und deshalb würden sie von jetzt an, bis die Kinder alt genug waren, jeden Dienstag und Samstag hier sein und auf Keith warten … was ganz genau das war, das fiel ihr jetzt auf, was sie gerade tat. Sie hatte diese Bank wegen des guten Blicks ausgewählt, nicht auf ihre Kinder, sondern auf den Eingang des Parks. Und was würden die anderen Frauen denken, wenn er kam? Sie verschränkte die Arme.

Dann zerrte Cate ihren Bruder zu dem Baum hinüber, und die anderen kleinen Mädchen schrien und lachten und flohen vor dem riesigen Eindringling. Will bückte sich, um sich die Stelle anzusehen, an der sie herumgestochert hatten. Er sah zu Regan herüber, und sein Blick ließ sie das Ding auf dem Boden in anderem Licht sehen. »Süße – ihr Süßen – nicht anfassen, bitte.« Eine gewisse besorgte Unterfrequenz brachte die anderen Frauen dazu, sich zu ihr umzudrehen, doch sie war bereits aufgestanden und auf dem Weg zu dem Haufen Federn, den sie freigelegt hatten. »Das wimmelt wahrscheinlich vor Keimen.« Und jetzt, durch diesen unbedeutenden Notfall zurück in ihre Rolle als Mutter gedrängt, kniete sie sich auf den Asphalt, ignorierte die feuchten Salzkörner, die sich in ihre Knie bohrten, und sah sich das Ding an.

Es war nicht die Art von Vogel, die man in der Stadt je sah. Er war entschieden zu groß, so wie ein Football oder ein Schoßhund. Und zu bunt, um zwischen den Häusern und Straßen nicht aufzufallen. Das Gefieder war so blau und orange wie Dschungelblüten, mit schwarzen Zacken. Sie versuchte sich alles in Erinnerung zu rufen, was sie je über Vögel gewusst hatte. Ein Specht vielleicht, oder eine Art mutierter Eichelhäher? Sein Kopf musste unter seinem Körper stecken. Außerdem war da ein Stock in ihrem Blickfeld, dessen zitterndes Ende nur Zentimeter von dem Vogel entfernt war, und sie nahm an, dass es Will war, der ihn hielt, doch als sie danach griff, sah sie, dass ein neues Kind daran hing, oder kein neues Kind – ihre Kinder waren vermutlich die neuen Kinder hier –, aber ein Kind, das nicht ihres war. Er war entweder japanisch oder koreanisch, dem Alter nach zwischen Cate und Will, mit Haar, das wie schwarzes Stroh hinten aus seiner Yankees-Kappe herausragte, und einem glatten kleinen Gesicht, das nichts verriet. In den Sekunden, die er ihrem Blick standhielt, spürte sie, dass er älter war als Will. Als sie selbst sogar. Das musste am Kater liegen, dieser tosende Mystizismus oder Rassismus oder was auch immer. Dann zuckte der Junge mit den Schultern und ließ den Stock los.

Er zitterte etwas in ihrer Hand. Sie wollte aufhören, als sie das leichte Gewicht des Vogels an seinem Ende spürte, doch (das war absurd) der japanische Junge schien ihre Leistung, aus dem Schatten seiner Kappe heraus, zu beurteilen, und von weiter hinten, aus der verschwommenen Halbdistanz, sahen die Mütter, denen dieser Park gehörte, ihr ganz sicher zu.

»Was machst du da, Mommy?«, fragte Cate. Will sagte zu ihr, sie solle leise sein, doch er sah ein wenig blass aus, als Regan den Stock weiter in den Spalt zwischen der Flügelunterseite und dem Asphalt schob. Ehrlich gesagt wusste sie es selbst nicht. Atmete der Vogel noch? Würde sie ihn von seinen Qualen befreien müssen? Es war ekelerregend, wie es nachgab, das herunterhängende Flügelgelenk, das sich weigerte, sich vom Boden zu lösen. Und dann, als würde ein Stück Film fehlen, klappte der Körper um und der Kopf, der zuvor versteckt war, kam zum Vorschein. Ein Auge fehlte, oder war eingeschlagen, das war unter dem getrockneten braunen Blut nicht genau zu erkennen. Das Blut hatte die Federn verfilzt – das hatte sie am Boden festkleben lassen. Doch das andere Auge, intakt, nicht größer als eine Erbse, starrte in den leeren Himmel hinauf. Es hatte ein winziges Augenlid, fiel ihr auf. Sie stellte sich vor, wie der Vogel während des Schneesturms vom Weg abgetrieben wurde, seine Wanderung abbrach, sich in die falsche Gegend verirrte, allein, aber in der Annahme, dass er sich in der Luft halten könnte, dass alles genauso weitergehen würde wie bisher. Sie hatte letzte Nacht nicht geweint, als sie die Bahre gesehen hatte, doch jetzt ließ sie sich beinahe – beinahe – gehen. Der fremde Junge hielt sie davon ab.

»Alles in Ordnung, Miss?«

Sie schniefte. Es ging ihr gut. Es musste ihr gutgehen. »Den muss eine Katze erwischt haben.«

»Wenn’s eine Katze gewesen wäre, wäre da mehr Blut«, sagte der Junge, ganz Wissenschaftler.

»Okay, irgendein Raubtier jedenfalls. Will, holst du mir bitte eine Tüte oder Kiste oder so was? Wir wollen ihn nicht hier liegen lassen, wo jeder drauftreten kann.«

Als Will mit einer alten Zeitung zurückkam, schaufelte sie den Vogel mit dem Sportteil auf. Es erschien ihr würdelos. Sie überlegte, den japanischen Jungen zu fragen, ob er eine besondere Falttechnik kannte, aber besann sich dann eines Besseren. Stattdessen fand sie eine fast volle Mülltonne und legte das kleine Zeitungsbündel hinein. Auf dem Boden daneben waren ein paar vertrocknete Zweige, an denen noch die Blätter hingen. Sie griff nach einem und platzierte ihn sachte auf der Zeitung. »Möchte jemand ein paar Worte sprechen?« Weil das niemand tat, sagte sie, »Auf Wiedersehen, Vogel.«

»Wiedersehen, Vogel«, wiederholte Cate und legte einen weiteren Zweig dazu. Will und der andere Junge waren zu alt oder zu sehr Jungs für solche Sentimentalitäten, doch jeder von ihnen legte noch einen Zweig dazu, und als sie fertig waren, waren die Zeilen, die Nachrichten einer weiteren Knicks-Niederlage enthielten, unter dem winterlich-braunen Laubhaufen kaum noch zu sehen. Einen Augenblick lang entspannte sich Regan.

Dann brachte etwas sie dazu, sich umzudrehen. Keith beobachtete sie vier vom Eingang des Parks aus. Doch vor allem, sie konnte nicht anders, als es zu bemerken, beobachtete er sie. Den Stoppeln und einer gewissen Verkniffenheit um seine Augen nach zu urteilen, vermutete sie, dass er die Nacht genauso verbracht hatte wie sie, betrunken – vielleicht gemeinsam mit dieser anderen Frau, seinen Beteuerungen zum Trotz, oder mit einer anderen. Es erschien ihr fast ungerecht, wie die Krise ihn noch besser aussehen ließ, der stahlblaue Schatten, der seine kräftige Kinnpartie umspielte, die verwundeten blauen Augen, die nicht ganz mittige Furche auf seiner Stirn, die früher nur sichtbar wurde, wenn er in Gedanken versunken war. Und es kam ihr fast ungerecht vor, dass er sie offen und ohne Groll anschauen konnte, wenn die Trennung doch seine Schuld war. Um sich davon abzuhalten, auf ihn zuzugehen, legte sie die Hände auf die Schultern ihrer Kinder. Das Vogelritual hatte sie auf kühne Weise miteinander vereinigt; sie blickten unisono von der Mülltonne auf, wie grasende Antilopen bei einem entfernten Geräusch. Keiner von ihnen rannte zu ihrem Dad, bemerkte sie mit Erleichterung, und auch mit Schmerz. Und Keith kam auch nicht auf sie zu. Er schien die unsichtbare Linie zu erkennen, die auf dem Asphalt gemalt war. Dieser Ort gehörte Regan, nicht ihm. Will holte die Taschen, die er am Zaun gelassen hatte, und gemeinsam durchquerten sie den schmelzenden Park.

»Frohes Neues Jahr«, war das Erste, was Keith sagte, nachdem Cate sich an sein Bein geklammert hatte. »Ich hab dir einen Scheck über das Schulgeld fürs Frühjahr geschickt.«

»Schon eingelöst.« Regan war sich nicht sicher, ob sie sich die Hand geben oder sich umarmen sollten. Sie ließ sich von ihm auf die Wange küssen. »Ich weiß nicht, ob froh das richtige Wort ist.«

»Dann vielleicht glückliches. Die Doppel-Sieben. Es wird in jedem Fall besser als das letzte Jahr.«

Weil er so schlau gewesen war, der Party fernzubleiben, fiel ihr jetzt auf, hatte er wahrscheinlich noch nicht von der Anklage gehört, oder der Schießerei im Park, oder von überhaupt irgendwas. Sie hatte das irrationale Verlangen, sich ihm anzuvertrauen, doch die Kinder standen direkt neben ihnen, Will bereits näher bei ihm als bei ihr. »Keith, du musst mir einen Gefallen tun. Bei der Arbeit ist was dazwischengekommen, und ich muss am Montag vielleicht ganz früh hin. Würde es dir was ausmachen, sie bis dahin zu nehmen?«

Hinter ihrem beinahe-Exehemann verschwamm das brownstone-Brooklyn: Damen mit Einkaufswagen, Leute, die ihren Hund ausführten, marmorierte Eisplatten vor Häusern, deren Besitzer nicht gestreut hatten, und den ganzen Weg den Hügel hinauf Bäume, die in der dünnen Luft vor sich hin tropften. Er schien zu versuchen, ihre Pläne zu durchschauen. »Sicher, Regan. Kein Problem.«

»Das wär wirklich nett. Ich weiß, dass das eigentlich nicht dein Tag ist.«

»Nicht. Lass das sein«, sagte er. »Das ist eh schon schwer genug.« Und dann schälte er Cate von seinem Bein und hob sie hoch, und ihr Gesicht war nass vor Tränen. Regan wollte Cate die Hand auf den Rücken legen.

»Schatz, was ist los?«

»Was glaubst du denn, was los ist?«, sagte Will.

Cate brauchte einige Sekunden, um ihren Atem so zu beruhigen, dass sie für sich selbst sprechen konnte. »Wer kümmert sich um Mommy?«, heulte sie, und dann vergrub sie ihr Gesicht wieder in Keiths Mantel.

Keith wollte wissen, was sie damit meinte.

Regan errötete. »Nichts. Ich war heute Morgen ein bisschen angeschlagen, und Cate hat mir sehr geholfen.« Aber war es wirklich nichts? Denn sie würde für die nächsten sechsunddreißig Stunden auf sich allein gestellt sein, in der leeren Wohnung. In der alten Wohnung in Uptown war es kein Problem gewesen, wenn Keith auf der Couch seines Freundes Greg Tadelis geschlafen hatte und die Kinder zum Schlittschuhlaufen oder ins Kino mitnahm. Jene Wohnung hatte sie verstanden. Jener Spiegel war der, in den sie den ganzen Herbst über geguckt hatte, um sich zu vergewissern, dass sie, egal wie schlimm die Lage war, sich nicht den Finger in den Hals stecken würde. Doch letzte Nacht hatte sie sich wieder übergeben, und wenn die Kinder erst einmal weg waren, gab es nichts, was sie davon abhalten konnte, ins Bad zu gehen und es noch einmal zu tun, und noch einmal. Nichts außer ihr selbst.

»Ich komme klar, Schatz«, sagte sie und musste ein wenig näher an Keith herantreten, um die Schulter ihrer Tochter zu drücken. Sie konnte sein Aftershave riechen. Sie konnte seinen Blick auf sich spüren.

»Wir sollten uns mal unterhalten«, sagte er.

Sie ignorierte es. »Meistens findet man auf der Clinton ein Taxi. Achte darauf, dass die beiden sich die Hände waschen, wenn ihr da seid.« Sie drückte Cate noch einmal. »Gib Mommy einen Kuss, Süße. Mir wird’s gutgehen. Dir wird’s gutgehen.« Cate schniefte und nickte. »Passt aufeinander auf«, flüsterte Regan in Wills Ohr.

»Es sind bloß zwei Nächte.« Seine Umarmung war steif. Und dann musste sie einen Schritt zurücktreten, um den Kontakt zu unterbrechen. Sie hätte sie sonst niemals gehen lassen.

»Wünsch deinem Dad ein frohes neues Jahr von mir«, sagte Keith, sinnloserweise.

Sie sah zu, wie sie die Pierrepont Street hinaufgingen, Keith mit Cates Hand in seiner, in der anderen Hand die beiden Taschen. Wills Hände steckten in seinen Taschen, er hielt den Kopf gesenkt und sah dem Streusalz nach, das er in Richtung Rinnstein scharrte. Und ihr war das recht, nicht, weil sie ein schlechter Mensch gewesen wäre, sondern weil es keine Alternative gab. Sie konnte sich bis zu ihrer Rückkehr beschäftigen. Es gab Telefonate, die geführt werden mussten. Kisten, die – weiß Gott! – ausgepackt werden mussten. Ihr würde es gutgehen. Alles würde gut werden.