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Sherri bekam die Immobilien-Flyer jetzt schon seit einer ganzen Weile. Man schrieb ein einziges Mal, an einen einzigen Makler, und plötzlich hatten sie alle deinen Namen samt Adresse. Bauernhöfe in Connecticut, Timesharing-Angebote am Jersey Shore, urige Rückzugsorte in den Adirondacks. Natürlich war für Larry – auch wenn er nie darauf gekommen wäre, ihr das zu sagen – schon dieses Vierzimmerhaus an der Nordküste von Staten Island ein Rückzugsort. Er hatte es im Jahr ihrer Hochzeit zu den Konditionen der Eisenhower-Ära gekauft, und weil seine vom Berufsverband der Polizisten gestützten Gehaltserhöhungen die Inflation hinter sich ließen, hatten sie die Mittel gehabt, verschiedene Annehmlichkeiten einzubauen, wie die Bar im Keller, das Geländer im Bad und den Durchbruch in der Esszimmerwand, durch den er die Teller in die Küche reichen konnte, ohne aufstehen zu müssen. Seit einiger Zeit jedoch war es Sherri ernst mit einer Veränderung. Am Valentinstag war er mit ihr in einem altmodischen Erholungsort nördlich der Stadt gewesen, und sie hatte am nächsten Morgen herumfahren wollen, um sich Immobilien anzusehen. Während er langsamer fuhr, damit sie irgendeine Einfahrt einsehen konnte, die sich wie ein Kondensstreifen zwischen den Nadelbäumen auflöste, hatte er begriffen, dass das Leben, das sie sich für sie beide vorstellte – du könntest dir eine Werkstatt einrichten, wir könnten den Keller vermieten – in Wirklichkeit ihre Art war, über Frühpensionierung zu sprechen. Wegen der finanziellen Klemme wollte die Truppe wieder einmal die Gehaltsliste eindampfen, und sie war es leid, dazusitzen und darauf zu warten, dass das Telefon klingelte. Der Plan stand, als sie sich wieder ihm zuwandte: Er sollte sich freiwillig melden, um die Formalitäten in Gang zu setzen. Und dann, eine Woche später, hing plötzlich ein Foto von genau diesem Haus, dem, vor dem sie mit laufendem Motor gestanden hatten, an der Korkpinnwand über dem Wandtelefon in der Küche. Er versuchte sich vorzustellen, wie er auf Krücken die unscharfe und fast senkrechte Zufahrt hinunterging, um die Post zu holen. Dass das der Höhepunkt seines Tages sein würde. Wie er sich dann wieder hinauf mühte und an einer Werkbank Holzspielzeug bastelte.

Jetzt fand er sie draußen beim abgedeckten Pool, in eine Pferdedecke gewickelt und ein Buch aus der Bibliothek lesend, während neben ihr auf der Armauflage des Adirondack-Gartensessels ein Becher Tee vor sich hin dampfte. Draußen konnte es nicht mehr als zehn Grad sein, aber das war wärmer als seit Monaten, und Sherri hatte immer schon dieses Bedürfnis gehabt, draußen zu sein. Er ließ sich auf der anderen Armlehne nieder und tat sein Möglichstes, nicht vor Schmerz zusammenzuzucken. Sie tat ihm den Gefallen, sich ihre Lesebrille ins Haar zu schieben, das noch immer sandfarben war, wenn auch jetzt mit grauen Strähnen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass eine Frau mit dem Alter noch schöner werden konnte. Er holte den Zeitungsausschnitt aus der Tasche und drückte ihn auf das verwitterte Holz. »Das hier habe ich an der Pinnwand gefunden.«

»Natürlich, Liebling. Ich hab’s da hingehängt, damit du es findest.« Sie machte keine Anstalten, den Zettel zu nehmen.

»Soll ich irgendwas damit machen?«

»Ich dachte, du könntest vielleicht mal da anrufen. Hier. Ich hab die Nummer umkringelt. Ziemlich durchsichtig. Für eine List.« Sie hatte das Buch zugeklappt. Um ihre Mundwinkel zeigte sich eine leichte, kleine Falte, als würde sie ihn auf den Arm nehmen, aber ihre Stimme klang absolut ernst. »Erinnerst du dich nicht daran, vom Valentinstag? Das war das mit den Giebeln, nördlich von New Paltz.«

»In dem Hotel waren lauter Hippies.«

»Du hast gesagt, es gefällt dir.«

»New Paltz ist wie ein Magnet für die. Energiefelder oder so was.«

»Ehrlich, Larry. Ich hab langsam das Gefühl, dass ich ein bisschen hingehalten werde. Weißt du, wie wenig du diese Woche zu Hause warst?«

Er griff nach ihren Händen. Kräftig, warm vom Tee. »Wieso sollte ich dich hinhalten?«

»Zwölf Stunden, Schlaf nicht eingerechnet.«

Jetzt war er mit Seufzen dran. Er ließ ihre Hände los und wandte sich der straffen blauen Folie zu, die den Pool bedeckte. Sie waren unter den Ersten in der Nachbarschaft gewesen, die einen angelegt hatten, damals, als sie noch dachten, sie würden Kinder haben. Im Boden eingelassen, weil Larry mit Leitern Schwierigkeiten hatte. Doch war er einmal im Wasser, konnte er sich bewegen wie jeder andere auch. An Sommermorgen war er früher seine Bahnen geschwommen. Nachmittags zogen die Kinder der Nachbarn einen nassen Pfad in die Küche, wo Sherri Kekse aus Fertigmischungen backte und Kannen voll Limonade anrührte. Aber diese Kinder waren jetzt erwachsen, hatten aufgehört, Weihnachtskarten zu schicken oder ihren Highschoolabschluss anzukündigen. Zwei von ihnen waren an die Westküste geflüchtet, einer saß im Knast. Auf einer Seite des Gartens war ein Maschendrahtzaun mit grünem Sichtschutz errichtet worden. An warmen Tagen konnte man dahinter eine neue Gruppe von Kindern hören, die lachten und Schimpfwörter ausprobierten und in ihren eigenen Becken planschten.

»Du hast bestimmt einen Fall«, sagte sie.

»Es gibt immer viele Fälle, Schatz. Das ist das Problem.«

»Nein, es muss einen besonderen geben. Was soll sonst der Grund sein? Sicher nicht, dass deine Chefs deine Mühen so schätzen, ha ha. Aber wenn du nicht mit mir darüber redest –«

»Das war doch deine Idee, die Arbeit nicht mehr mit nach Hause zu bringen. Ich wusste, dass es dich beunruhigen würde.«

»Was soll ich denn machen?«, sagte sie. »Du weißt genau, dass ich immer versuche, dich nicht in eine blöde Situation zu bringen, aber was ist mit meiner Situation? Wenn ich nichts sage, wird dir dieses Vater-Ding noch wichtiger als ich. Es geht um ein Kind, richtig? Oder was Aussichtsloses. Oder beides. O Gott, sag nicht, dass es beides ist.«

Es stimmte. Schon vor New Paltz hatte der Cicciaro-Fall begonnen, die anderen beiseitezuschieben. Er hatte sich das selbst nicht eingestanden, weil er den Fall niemals würde abschließen können. Er war unabschließbar. Doch dies war der Fall, der ihm nach Hause gefolgt war. Der in seine Träume eingedrungen war. »Du solltest für mich arbeiten. Anstelle von McFadden.«

»Ich kenne dich, Larry. Ich kenne dein kleines Messiassyndrom, das du für so geheim hältst. Warte. Lass mich ausreden. Ich verstehe, dass du das Gefühl hast, das nicht einfach loslassen zu können. Aber wir werden nicht jünger. Und wenn du jede Woche siebzig Stunden bei der Arbeit bist, bringt uns das kein Stückchen näher daran, hier wegzukommen. Es wird immer noch einen anderen Fall geben.«

»Streiten wir uns gerade? Ist das ein Ultimatum?« Er saß immer noch auf der Armauflage des Sessels.

Sie legte eine Hand auf seinen Rücken, ihre Finger umfassten die krumme Wirbelsäule. »Wir unterhalten uns, wie Erwachsene. Sieh mich an, Liebling. Ich hätte dich nicht geheiratet, wenn ich dich für einen Mann gehalten hätte, der Ultimaten braucht.«

»Ich verspreche dir, Sherri –«

»Oder Versprechen«, hatte sie gesagt, als er sich hinunterbeugte, um sie zu küssen.

Trotzdem war es merkwürdig; am nächsten Montag, als er sich früh aus dem Büro davonmachte und mit der Nachmittagszeitung ins Beth Israel Hospital fuhr, plagte ihn das Gefühl, ihr sein Wort gegeben zu haben. Wieso sonst kehrte er hierher zurück, kurz vor Ende der Besuchszeit? Er schaltete den beigen Magnavox-Fernseher in der Ecke aus, den der Vater des Mädchens angelassen hatte. Das Fenster sollte geschlossen bleiben, damit sich kein Staub in dieser nominell sterilen Umgebung ausbreitete, aber Pulaski kurbelte es maximal weit auf, bis der Spalt gut zehn Zentimeter breit war. Außen auf der Fensterbank war Schmelzwasser. Das Mädchen würde die Vögel niemals sehen, die aus den Pfützen tranken, doch er stellte sich vor, dass sie, irgendwo tief in der Hülle ihres Körpers, die frische kalte Luft spüren, die Linienbusse hören konnte, die sich vorbeischoben, und die Drogengeschäfte, die im Park gegenüber passierten, und wusste, dass sie nichts verpasste. Und vielleicht mochte sie den Geruch von losem Tabak so sehr wie er. Er hatte sich jedoch kaum die Pfeife angesteckt, als eine Intensivkrankenschwester hereingerauscht kam und ihm erklärte, er dürfe auf dieser Etage nicht rauchen – sah er nicht die Maschine, die sie zum Atmen brauchte? – und das Fenster wieder zukurbelte. Er widerstand dem Drang, seine Dienstmarke herauszuholen; sie wusste, wer er war. Und sie war ja im Recht.

Als der Nachmittag zum Abend wurde, schichteten sich die Zeitungsteile wie geologischer Bodensatz auf dem Linoleum neben ihm. Das Beatmungsgerät beatmete. Das Herzüberwachungsgerät überwachte. Weitere Krankenschwestern kamen und gingen wieder; das Bett wurde hoch- und wieder heruntergefahren; der Beutel, der an ihrem Arm hing, war leer, voll, leer. Das Ziel war das Abschiednehmen: ein weniger an Vertiefung, kein mehr. Doch die Patientin unter der Decke war irgendwie ein Trost. Er versuchte sich vorzustellen, was Sherri gerade machte, auf der anderen Seite des tiefen, felsigen Hafenbeckens. Sicher, sie hatte Freundinnen, Tennis, die Teilzeitstelle in der Bibliothek, aber wie lange war es her, dass sie zuletzt mit einer Freundin Mittagessen war? Oder einen Schläger in der Hand gehalten hatte? Vielleicht blieb er hier, weil er sich angesichts der traurigen Tatsache des sterbenden Mädchens im Pflegebett Sherris Einsamkeit näher fühlte als er es gestern auf der Armlehne ihres Gartensessels getan hatte. Sie in ihrer kleinen erleuchteten Kiste auf jener Insel, er in seiner Kiste auf dieser. Einen Augenblick lang glaubte er, unter der sichtbaren Welt, eine Art blinde Infrastruktur zu spüren, die sie beide verband, oder sie drei, und die sie mit noch weiteren verband. Menschen, die er noch nicht einmal getroffen hatte.

Und in diesem Kreis der Verknüpfungen solltest du nach dem Verdächtigen suchen, unter den Bekannten oder Bekannten von Bekannten, zu denen in neun von zehn Fällen der Täter zählte. Du hast zum Beispiel noch immer nicht den schwarzen Typen ausgeschlossen, der sie gefunden hat, auch wenn du ihn etwas anderes hast glauben lassen. (Eine der Kolleginnen von der Privatschule, die Pulaski diskret angesprochen hatte, beschrieb den Typen als ein wenig exzentrisch. Aber eine andere sagte, sie glaube, er arbeite an einem Roman, was einiges erklärte.) Oder du solltest den Vater als Verdächtigen betrachten, einen Sizilianer mit einer kaputten Hand und der Angewohnheit, immer nur so viel zu sagen, wie nötig war, um damit durchzukommen. Die verschwundene Mutter. Den Liebhaber der Mutter. Wer auch immer die Blumen dagelassen hat. DD-5, so heißt das Formular, das du benutzt hast, eine Beschwerdeprüfung. Du hast sie in dreifacher Ausfertigung ausgefüllt. Das Problem war, dass das DD-5, mit seinen leeren Zeilen für die Fakten, alles andere außen vor ließ. Intuition zum Beispiel. Gefühl zum Beispiel. Die Frage zum Beispiel, wie weit diese Verbindungen genau reichten. Richard Groskoph. Mercer Goodman. »Dr.« Zig Zigler, der, wenn er nicht gerade den Äther mit den Verheerungen der Businessclass füllte, über Jungfrauenopfer und die Ungeheuer im Park schimpfte. All diese Spuren liefen, wie die Ley-Linien, über die er in seinen Time-Life Geschichtsbüchern gelesen hatte, bei diesem Cicciaro-Mädchen zusammen, die nichtsahnend dort lag, eine Schönheit im Glassarg, deren Königreich zerstört war. Aber das galt natürlich für jeden; wer stand nicht am Brennpunkt von tausend mal tausend Geschichten? Im Zentrum von Kräften, Schaltkreisen, Relais, die Pulaski nicht würde verbinden können, auch wenn er den ganzen Abend hier saß? Was bedeutete, dass die Schüsse bedeutungslos waren. Eine zufällige Begegnung. Einfach eine dieser Geschichten. Und er hatte versprochen (oder nicht?), sein Bestes zu geben, sich davon frei zu machen.

Das jedenfalls dachte er gerade, als ihm zum ersten Mal der Schatten in ihrem Nacken auffiel, eingeklemmt von dem Kissen. Sie zu berühren hätte gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstoßen, doch dann fiel ihm auf, dass er bloß das Kissen selbst bewegen musste, und schon kippte ihr Kopf zur Seite – er erschauerte – und offenbarte eine schwarze Tätowierung, zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser, knapp unterhalb der Stelle, wo der Verband abgeschnitten worden war. Es sah für ihn wie ein Symbol aus, Schutzbrille und Stachelhaare. Irgendwie vertraut. Wieso? Weil er dasselbe Bild auf dem Papier gesehen hatte, das er in der Hosentasche der Jeans im Park gefunden hatte.