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Gefährliche Orte
Wenn Sie vor die Tür Ihrer Stube treten, sind Sie ausschließlich von Gefahren umgeben. Nicht direkt für Leib und Leben (das sind Bedrohungen, denen sich ein Stubenhocker immer bewusst ist), sondern den Gefahren sozialer und organisatorischer Natur. Selbst alltägliche Vorgänge geraten an unbekannten Orten zu schier unüberwindlichen Herausforderungen. Auf Reisen kommt man an Orte – absichtlich oder versehentlich –, die man nie und nimmer freiwillig aufsuchen würde. Dann kann es nur ein Ziel geben: so schnell wie möglich wieder wegzukommen.
Die Fußgängerzone
Sie ist eine Ausnahme der Regel, dass Sie da draußen immer auf seltsame und gefährliche Orte stoßen. Die deutsche Fußgängerzone zu erforschen stellt niemanden vor große Herausforderungen. Sie betreten sie, latschen ein Stück entlang – schon kennen Sie alle im Bundesgebiet. Jede Fußgängerzone scheint von der gleichen Person entworfen worden zu sein. Waschbeton überall, immer die gleichen öden Läden, die auch noch in der gleichen öden Anordnung zueinander stehen. Das liegt daran, dass Fußgängerzonen in Deutschland tatsächlich auf das Konto von ein und derselben Person gehen. Der 1945 in Lüdenscheid geborene Ulf Poller hat hinter den Kulissen die Strippen gezogen. Im Schatten der Studentenunruhen von 1968 verfügte er eine amtliche Direktive, dass fortan alle deutschen Fußgängerzonen ihre Besucher nicht überfordern dürfen. Diese geheime Vorgabe hat sich all die Jahre und Jahrzehnte unter den Städteplanern gehalten und darf nicht hinterfragt oder verändert werden. Daher haben Innenstädte hierzulande seitdem die gleichen Geschäfte und die gleiche Gestaltung.
Für Sie als Stubenhocker hat deswegen eine Fußgängerzone durchaus etwas Beruhigendes an sich. Sie werden dort kein Geschäft finden, das Sie noch nie vorher gesehen hätten. Aber eine Fußgängerzone ist trotzdem nicht ohne, denn sie zieht Menschenmassen an. Halten Sie sich von ihr fern zu bestimmten Zeiten: die 6 Wochen vor Weihnachten, die 3 Wochen vor Ostern, an Samstagen, an verkaufsoffenen Sonntagen, zur Mittagszeit, nach Feierabend (also ab 16 Uhr). Wenn Sie wirklich eine Besorgung in einer Fußgängerzone erledigen müssen, dann tun Sie das werktags zwischen 10 und 12. Danach fliehen Sie auf Ihr Sofa.
Die Altstadt
Viele Städte bestehen aus Industriegebieten, in denen man die Uhrzeit am Geruch ablesen kann, aus Wohnblöcken, in denen einige Etagen ausgebrannt sind, aus Vorstädten, in denen quäkende Kinder auf Schaukeln hängen. Solche Städte haben kaum etwas, womit sie für sich werben können. Also tun sie das, was alle machen, die selbst keine Leistung vorzuweisen haben: Sie sind stolz auf ihre Vergangenheit. Irgendwo steht ein altes, relativ gut erhaltenes Haus, das rein zufällig nicht im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde (wahrscheinlich, weil die Stadt als Ziel nicht relevant war). Also wird in der Nähe des Hauses ein Restaurant eröffnet und mit Steuernachlässen eine Drogerie angelockt, in der Hoffnung, dass sich weitere Einzelhändler niederlassen. Bald schon eröffnen eine Bierbar, eine Cocktailbar, eine Trinkhalle, noch eine Trinkhalle, eine Tankstelle, eine Kneipe, ein Getränkemarkt und eine weitere Trinkhalle. Die umliegenden Gebäude, von denen zumindest die Grundmauern noch vor dem Krieg gebaut worden sind, werden unter Denkmalschutz gestellt. Es wird das Poller-Prinzip angewendet und die Ecke zur Fußgängerzone deklariert. Die Region darf ab sofort offiziell »Altstadt« genannt werden. In den Stadtarchiven wird verzweifelt nach Begebenheiten recherchiert, die der Gegend mehr historischen Ballast geben. Bald hängen an jedem zweiten Haus in dieser »Altstadt« grüne Schilder, auf denen beschrieben wird, wie 1765 jener halb berühmte Dichter einmal eine Nacht in diesem Haus verbracht hat (bzw. im Vorgänger des aktuellen Wohnsilos), dass jenes Haus 1888 schon einmal unter mysteriösen Umständen abgefackelt wurde oder dass an dieser Stelle bis 1911 die städtische Jauchegrube stand.
Diejenigen, die in die Altstadt kommen, interessieren sich allerdings nicht für Hinweisschilder, sondern für die unterschiedlichen Möglichkeiten alkoholischer Druckbetankung. In Düsseldorf wurde deswegen sogar die Biersorte nach der Altstadt benannt – es erleichtert den Trinktouristen sowohl den Bestellvorgang als auch die Identifikation mit der Trinkregion ihrer Wahl. Etwas weiter rheinaufwärts war das nicht möglich – bis auf einen Dom gab es dort nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr, also musste das Bier so genannt werden, wie man die Stadt mit zwei Promille ausspricht.
Die Städte, die tatsächlich noch ganze alte Straßenzüge besitzen, sind angehalten, diese mit modernen Glasfassaden und Stahlkonstruktionen so weit wie möglich zu verbergen, als wäre man von den alten Gebäuden peinlich berührt. Sie wollen so modern wie nur möglich daherkommen, um hippe Start-ups anzulocken.
Die Autobahnraststätte
Eine gute Autobahnraststätte ist eine, die Sie nicht lange von Ihrer Reise abhält. Also ist eine schlechte Autobahnraststätte, von der Sie so schnell wie möglich wieder verschwinden wollen, eine gute Autobahnraststätte.
Viele von ihnen bemühen sich nach Kräften, Ihnen in dieser Hinsicht entgegenzukommen. Sie wirken von außen, als hätten sie schon die Truppen auf dem Weg zur Ostfront verköstigt: dunkler Backstein, flache, fiese Dächer und eine Außenanlage mit dem rustikalen Charme eines Gefängnishofes in Kasachstan. Innen wird es auch nicht besser: Das Essen an der heißen Theke wird angerichtet nach dem Kochbuch »1001 Möglichkeiten, was Sie aus Bratwurst machen können«. Was Sie dann auf Ihrem Teller finden, ist so kalt wie das Herz der Verkäuferin, die Sie im Dialekt der jeweiligen Region runterputzt, wenn Sie sich erdreisten, mit einem großen Schein bezahlen zu wollen. Die Bestuhlung wurde in der örtlichen Grundschule geklaut. Es gibt eine Petition, die Tapete unter Denkmalschutz zu stellen. Die Toilette im Keller ist römischen Ursprungs, wurde damals aber nur verwendet, um die Köpfe der gefangenen Germanen einzulagern, und so riecht es auch heute noch.
So und nicht anders hat eine Autobahnraststätte zu sein. Man verbringt kaum mehr als 15 Minuten dort, um zu tanken, aufs Klo zu gehen, etwas zu essen (wenn es sich nicht vermeiden lässt) und schleunigst wieder abzuhauen.
Gefährlich wird es, wenn Sie auf eine von diesen modernisierten Raststätten geraten.
Große Panoramafenster und ein weitreichender, einladender Spielplatz sollten Sie misstrauisch machen. Die Auswahl an der heißen Theke ist reichhaltig, und das Essen macht den Eindruck, nicht zu spontanen Vergiftungen zu führen. Ein untrügliches Anzeichen sind die Sanitäranlagen. Sehen diese frisch gefliest aus? Werden Sie persönlich begrüßt und bekommen den Weg gewiesen? Werden Sie auf der Toilette mit Vogelgezwitscher, beruhigender Musik und multilingualen Hinweisen genötigt? Ohren zuhalten! Das ist eine subtile Art der Gehirnwäsche, damit Sie länger auf der Raststätte bleiben und noch irgendwelche hässlichen Schlüsselanhänger kaufen, bevor Sie weiterfahren!
Dies ist ein Ort, an dem Sie Gefahr laufen, wertvolle Zeit zu verlieren, die Sie besser auf der Autobahn im Stau zubringen sollten, um wenigstens das Gefühl zu haben, voranzukommen. Lassen Sie sich hier nicht nieder! Entspannen Sie nicht! Die Reise ist noch lange nicht vorüber!
Einkaufszentren
Ob in Deutschland oder im Ausland: Einkaufszentren stehen genau dort, wo sonst nichts los ist. Jenseits des Konsumtempels finden Sie Plattenbauten, stinkende Industrieanlagen oder apathisch starrende Kühe (meistens alles gleichzeitig).
Klassische Einkaufszentren versprühen auch heute noch den Charme des Kubismus: Stramm sind die Geschäfte nebeneinander angeordnet, überall stolpert man über klare Kanten und 90°-Winkel. Hier wird der Einkauf noch ernst genommen, einen solchen Klotz sucht man nicht auf, um Spaß zu haben. Verspielter kommen die neuen Einkaufszentren daher, die teilweise aussehen, als hätten sich Gaudí und Hundertwasser bei einer Zeitreise mit abgelaufenem Absinth zugekübelt. Irgendwer scheint der Meinung zu sein, dass Einkaufen durch so etwas zu einem »Erlebnis« wird, wobei ehrlicherweise ein Überfall am Hauptbahnhof oder ein hysterischer Taxifahrer auch in diese Kategorie fallen.
Als Stubenhocker meiden Sie ein Shoppingzentrum wie der Teufel das Planschbecken. Für Sie gibt es keinen Grund, auf engstem Raum mit Horden anderer Leute einzukaufen. Vielleicht müssen Sie jemanden begleiten? Suchen Sie sich ein abgelegenes Café und halten Sie sich dort an einem Getränk Ihrer Wahl fest, bis Sie wieder gehen können.
Strände
Für Sie als Stubenhocker ist ein Strand so ziemlich das Schlimmste, wo Sie hingeraten können. Brennende Sonnenstrahlen piesacken Sie, vor denen Sie sich nur schützen können, wenn Sie sich eine Fettschicht aus einer eklig riechenden weißen Substanz auftragen – und zwar ÜBERALL! Diese Schicht hat primär die Funktion, als Staubfänger für den überall herumliegenden Sand zu dienen. Die Stunden nach einem Strandtag verbringen Sie damit, die fiesen Körner aus Ihren Körperöffnungen zu pulen, sich abzuduschen und dann die Hotelleitung anzumotzen, dass der Abfluss im Bad schon wieder verstopft ist. Außerdem drängen sich die Menschen an einem Strand wie Ameisen auf Streuselgebäck. Und die meisten von ihnen sind fast nackt (oder nackt) und ziemlich fett (oder fett). Für manche Leute mag es erstrebenswert sein, sich zwischen vielen anderen Unbekleideten eingeölt im Sand zu wälzen, aber Stubenhocker haben andere Vorstellungen von Spaß.
Wenn Sie einen Urlaub mit Strandanschluss verbringen müssen, beispielsweise weil Sie Kinder haben, sollten Sie folgende Regeln beherzigen:
• Sorgen Sie mit Sonnenschirm, Minizelt und genügend Kleidung für Schatten. Wenn Sie es geschickt anstellen, müssen Sie sich nicht einmal mit Sonnenmilch einschmieren.
• Bringen Sie Getränke mit. Am besten eine ganze Kühltruhe. Verteidigen Sie diese mit Ihrem Leben (oder packen Sie ein paar Flaschen Bier extra ein, und verdienen Sie sich damit ein kleines nettes Taschengeld. Ihre Kinder können mithelfen und wären so auch gleich bespaßt).
• Gehen Sie nicht ins Wasser. Erstens haben Haie einen extrem guten Geruchssinn, zweitens sind sie im Bunde mit den Seeigeln. Sobald Sie in einen treten, sind Sie kampf- und bewegungsunfähig, und darauf lauert der Hai nur. Tun Sie diesen Hyänen der Weltmeere nicht den Gefallen, sich ihnen als Opfer darzubieten. Wenn Sie deswegen schräg angeschaut werden, murmeln Sie etwas von Ihrer Salzallergie.
• Bevor Sie Ihre Kinder loslassen, erklären Sie ihnen, dass Sie nichts aus dem Meer mitbringen dürfen, das keine Muschel ist.
Strände sind ein Mikrokosmos der menschlichen Interaktion. Hier werden Kriege ausgefochten, Romanzen begonnen (und beendet), Eis gegessen. Und Sie sind mittendrin. Zum Glück ist es einer der wenigen Orte, an denen Sie sich einfach hinlegen und tot stellen können, ohne dass deswegen gleich der Notarzt gerufen wird (was im Restaurant oder beim Bäcker ja nicht sonderlich zu empfehlen ist). Vermeiden Sie jeden Kontakt zu anderen. Eingeölte, halb nackte Menschen sollten nur aufeinander losgehen, wenn danach einer einen überdimensionierten Gürtel gewinnt. Ab und an wird Ihnen jemand etwas verkaufen wollen. Bieten Sie Ihr durchgeschwitztes Handtuch zum Tausch an. Der Verkäufer wird feilschen wollen. Betonen Sie, dass das hier nicht die Verhandlungen zum Euro-Rettungsschirm sind. So werden Sie ihn ruckzuck los und können sich weiter tot stellen. Wenn die Sonne untergeht, haben Sie alles überstanden und können zur Bar vorrücken.