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Reiseverweigerung
ist Wellness
Wir leben in einer Zeit, in der alle nach Ausgeglichenheit streben, nach Work-Life-Balance, nach innerer Ruhe. Die meisten Menschen versuchen diesen Zustand zu erreichen, indem sie in ihren hektischen, überbordenden Alltag zwischen die normalen Geschäftstermine noch zusätzliche Verpflichtungen wie Sport oder Geselligkeit einbauen, denen sie dann hinterherhetzen müssen, weil sie den Überblick verlieren und angesichts ihres übervollen Kalenders in Stress geraten. So richtet sich die Tagesplanung einzig danach, alle Aufgaben zu erledigen und zwischendurch pflichtschuldigst Entspannung zu suchen. Wenn das halbwegs gelungen ist, unterliegen diese Menschen dem Zwang, anderen Leuten von ihren Erlebnissen zu berichten und soziale Medien mit wandteppichgroßen Fotos zuzupflastern, auf denen sie im Wellnesstempel, in der Natur oder im Restaurant mit dem teuren Wein blöd rumgrinsen. Solche Veranstaltungen werden im Zweifelsfall gern auf ein ganzes Wochenende oder einen noch längeren Zeitraum ausgedehnt, und das nennt man dann Urlaub.
Der soziale Status eines Individuums wird in manchen Kreisen abgelesen an der Häufigkeit, Distanz und Dauer der jährlichen Auszeiten und der Frequenz der Wellness- und Urlaubstage. Mitleidig belächelt werden diejenigen, die nur ein Mal pro Jahr wegfahren. Schlimmstenfalls haben diese Einfaltspinsel sogar eine verachtenswerte Pauschalreise gebucht – damit landen sie auf der untersten Stufe der Erholungskette. Mit diesem immerwährenden Druck leben Leute, die gern verreisen. Jeder von ihnen muss mit den eigenen Erlebnissen und Urlauben angeben können und den ultimativen Urlaub erleben, die Mutter aller Entspannungen finden. Die Urlaube sollten länger sein, weiter entfernt und natürlich VERDAMMT NOCH MAL OFFENSICHTLICH ERHOLSAMER als der ihrer Zeitgenossen!
Reisen und die andauernde Jagd nach Wellness kann ziemlich erschöpfend sein.
Ist das wirklich etwas, dem Sie hinterherhecheln wollen? Möchten Sie sich in diesen unwürdigen Wettstreit begeben und dabei etwas fundamental Wichtiges aus den Augen verlieren: nämlich Ihr inneres Gleichgewicht?
Jeder Mensch ist anders. In den charakterlichen Ausprägungen gibt es viele Schattierungen. Gerade was die Bereitschaft angeht, sich mit der Welt auf der anderen Seite der Türschwelle zu befassen, unterscheiden sich Menschen stark. Und doch lassen sie sich knallhart in zwei Gruppen unterteilen:
• Reisesüchtige: Ihnen fällt die Decke auf den Kopf, sobald sich der erste Sonnenstrahl zeigt und sie immer noch nicht draußen sind. Ein Zeitraum von mehr als 2 Tagen, der nicht mit mindestens einem Ausflug ausgefüllt wird, ist für sie ein Gräuel. Sie lieben das Unbekannte und stürzen sich kopfüber in Abenteuer. Sie können aus dem Stegreif aufzählen, wo sie schon überall waren, und planen immerzu den nächsten Trip. Ständig sind sie auf der Suche nach Leuten, denen sie zum Thema Urlaub in den Ohren liegen können. Wenn sie mit ihren Gedanken alleine sind, drehen sie am Rad. Ihre Wohnung ist für sie ein notwendiges Übel, um dort Koffer, Rucksäcke, Zelte und Flugtickets aufzubewahren. Sie selbst verbringen darin so wenig Zeit wie möglich. Die Vorstellung, in den eigenen vier Wänden auf sich allein gestellt zu sein – vielleicht sogar für mehrere Stunden am Stück! –, ist für sie psychologisch gleichbedeutend mit sieben Jahren Einzelhaft in einem Keller im Schwarzwald. Immerzu brauchen sie die Bestätigung von außen, dass sie ein tolles Leben führen und viel erleben, sonst haben sie das Gefühl, überhaupt nicht zu existieren.
• Stubenhocker: Sie sind ruhig, gern für sich und bekommen keine Panikattacken, wenn sie mal einen Tag nicht unter Leute gekommen sind. Im Gegenteil wird ihnen in Menschenaufläufen oder beim Gedanken an ferne Länder ganz mulmig. Sie verzweifeln nicht, wenn ein Tag keine Überraschungen oder Abenteuer mit sich bringt, sondern streben eher nach beruhigender Berechenbarkeit. Sie empfinden nicht die Notwendigkeit, dauernd anderen von sich zu erzählen, im Gegenteil, sie schätzen das ausgewählte kommunikative Miteinander. Ihre Wohnung ist für sie der Mittelpunkt ihrer Welt. Sie verbringen darin so viel Zeit wie möglich. Die Vorstellung, mehrere Stunden auf sich allein gestellt in den eigenen vier Wänden zu sein, lässt sie vor Freude jauchzen. Zwar mögen Stubenhocker durchaus die Gesellschaft anderer Leute. Aber einerseits sollte diese nur in kleinen Dosen genossen werden, und andererseits missbrauchen Stubenhocker ihre Mitmenschen nicht zur permanenten Selbstbestätigung.
Letztere, die konsequenten Stubenhocker, sind von einigen Leuten geradezu geächtet. Diese Nihilisten der Wellness! Ungläubig werden sie von den anderen angeschaut, die regelmäßig verreisen, während die Stubenhocker mit ihrem Leben, so wie es ist, zu Hause, ganz zufrieden sind, und die eigentlich nur ihre Ruhe haben wollen. Sie sind schon mit sich im Reinen, wenn sich der Geräuschpegel um sie herum in Grenzen hält, die Zimmertemperatur angenehm ist und ein Buch griffbereit liegt. Stubenhocker sind Leute, die erst denken und dann sprechen, was in der bundesdeutschen Gegenwart des 21. Jahrhunderts eher die Ausnahme darstellt. Sie bemühen sich nicht rund um die Uhr um ihren sozialen Status, und es ist nicht ihr Lebensziel, andere zu übertrumpfen – ganz besonders nicht im olympischen Finale der Langstreckenreise und dem 24-stündigen Wellnessmarathon. Sie verschwenden keine Zeit, keine Energie und kein Geld im Wettbewerb der Reisesüchtigen. Doch weil sie eine Minderheit sind, werden die Stubenhocker an den Rand gedrängt und belächelt von denjenigen, die in Urlaub fahren und danach aller Welt lautstark davon berichten müssen.
Die Zeit ist reif, die Stubenhocker zu rehabilitieren. Nein, nicht nur das. Wir müssen die freie und bewusste Entscheidung gegen das Verreisen zu dem erklären, was es wirklich ist: ein eigener Lifestyle.
Damit wir uns verstehen: Es ist nicht der berüchtigte »Urlaub auf Balkonien« gemeint. Dieser ist das Methadon-Programm der verklemmten Reisesüchtigen, eine vorgeschobene Entschuldigung, warum man keinen Urlaub macht, gepaart mit Verweisen auf berufliche, private oder finanzielle Verpflichtungen. Balkonien – dieses Utopia des spießigen Kleinbürgertums und der Feigheit. Nein, das will niemand. ECHTE Reiseverweigerung geschieht völlig selbstverständlich. Wenn jemand das B-Wort zu Ihnen sagt, dann recken Sie Ihr Kinn vor und erwidern mit fester Stimme: »Ja, ich bleibe zu Hause, und, nein, ich lasse mir keinen Druck machen, mit den Reisesüchtigen zu konkurrieren. Ich vereinbare keine Termine, die mit Klangschalen zu tun haben, ich jage nicht der Erholung hinterher, und ich werde niemanden damit belästigen, wie toll es mir doch dadurch geht. Nur weil ich nicht in Urlaub fahre und gelegentlich auf den Balkon rausgehe, möchte ich nicht in die Schublade der Balkonien-Waschlappen gesteckt werden! Mein Ziel ist es nicht, so zu tun, als wäre ich im Urlaub, wenn ich zu Hause bin! Selbst wenn ich freihabe, verbringe ich gerne Zeit in meiner Wohnung, tagelang, ja wochenlang! Und das werde ich nicht mit irgendwelchen seltsamen Kunstwörtern rechtfertigen!«
Es gibt natürlich eine Grauzone. Nicht jeder, der ein Mal im Jahr verreist, qualifiziert sich als Reisesüchtiger – aber disqualifiziert sich eindeutig als Stubenhocker! Nun sind die Reisesüchtigen erwiesenermaßen die aktiveren und lauteren Menschen. Daher ziehen sie mehr Aufmerksamkeit auf sich, während die ruhigen Couch-Potatoes in der Unterzahl sind.
Manchmal überkommt es allerdings sogar einen Stubenhocker. Dann möchten Sie unter Leute kommen und mal etwas anderes sehen. Wenn das passiert, dann tun Sie es einfach. Sie selbst wissen am besten, was Ihnen bekommt. Steuern Sie frühzeitig in die andere Richtung, sobald es Ihnen zu viel wird. Wenn Sie verreisen, tun Sie es bewusst und haben immer alles in Kontrolle.
Vielleicht sind Sie jemand, der pflichtbewusst regelmäßig in Urlaub fährt, doch in Ihrem Inneren steckt ein Stubenhocker, der sich seine Neigung noch nicht eingestanden hat. Führen Sie ein Doppelleben und geben sich reiselustig, während Sie doch in Wirklichkeit einfach nur Ihren Frieden haben wollen?
Oder sind Sie schon ein Stubenhocker und haben genug davon, deswegen doofe Kommentare zu hören? Vielmehr möchten Sie lieber Ihre Mitmenschen mit sarkastischen Bemerkungen übers Verreisen beglücken? Das lässt sich einrichten.
Die Freuden des Nichtreisens
Ihr Leben ist ausgefüllt, Sie haben kaum Zeit zum Atmen. Sie kommen im Alltag nicht hinterher, sich neben Beruf und familiären Verpflichtungen um die Dinge zu kümmern, die Sie wirklich interessieren. Groß ist die Verlockung, sich aus allem herauszuziehen und einfach mal komplett abzuschalten. Wegfahren. Das Handy ausgeschaltet lassen. In eine andere Umgebung kommen und noch nie gesehene Eindrücke sammeln. Den Akku aufladen. Ganz so, wie Ihnen Ihre reisesüchtigen Bekannten vorschwärmen, die Illustrierten versprechen und die Spartensender anpreisen.
Fallen Sie nicht darauf herein! Sie fahren vielleicht in den Urlaub, sind eine Zeit lang aus Ihrem Umfeld heraus, aber dann …
… dann werden Ihre schlimmsten Befürchtungen über das Verreisen wahr. Die Organisation versagt, das Wetter spielt nicht mit, und Sie sitzen nur missmutig die Zeit ab.
… und dann kommen Sie nach Hause und stellen fest, dass sich nichts geändert hat. Alles ist beim Alten. Vielleicht ist Ihre Haut nicht mehr ganz so blass, und Sie konnten das eine oder andere Mal ausschlafen, aber Sie haben noch immer den gleichen Beruf, die gleichen Nachbarn, die gleichen Lebensumstände. Was Sie vor dem Urlaub genervt hat, nervt Sie immer noch. Urlaub ist nur ein kurzfristiger Schleier, der sich über Ihr Leben legt – genauer gesagt eine Nebelkerze, die Ihnen kurzfristig die Orientierung nimmt und Sie danach verwirrt und hustend zurücklässt.
Vielleicht sagen Sie jetzt: Na, ein bisschen Erholung nimmt man aber auf alle Fälle aus dem Urlaub mit. Das mag sein – zumindest kurzfristig. Aber klinische Tests haben erwiesen, dass der Erholungseffekt durch Urlaub nach 23 Sekunden bis 37 Stunden verpufft (je nach Länge der Abwesenheit, Charakterstärke, Belastbarkeit, Reisedistanz und Steuerklasse). Da gibt es nur einen logischen Schluss: Besser ist es, wenn man gleich zu Hause bleibt und sein Leben in den Griff bekommt, anstatt davor zu fliehen.
Überlegen Sie, was Sie alles erledigen können, wenn Sie nicht wegfahren! Endlich können Sie sich all den Dingen widmen, die Sie die ganze Zeit aufgeschoben haben! Sie können Ihre Träume verwirklichen! … Solange diese nichts mit dem Besuch exotischer Länder, fremden Sitten und Gebräuchen sowie Gerichten ohne Kartoffeln zu tun haben.
Hier einige Beispiele:
• Die Steuererklärung. Die schieben Sie immer auf, weil Sie Angst davor haben. Geben Sie das Zaudern auf, und stürzen Sie sich mit Begeisterung auf Zahlen, Tabellen und Rechnungen. Erfreuen Sie sich am Jauchzen der Finanzbeamten, und trösten Sie Ihren Geldbeutel damit, dass Sie wenigstens kein Geld für den Urlaub verplempern müssen.
• Gestalten Sie Ihren Garten. Endlich haben Sie die Zeit, ein paar Bäume zu pflanzen, das Unkraut zu jäten, die Maulwurfshügel mit Beton zu verplomben, die Erdbeeren vom letzten Jahr zu ernten und den Steingarten nach Feng-Shui-Regeln zu arrangieren. Danach werden Sie sich besser fühlen und haben vor allem wieder einige Zeit Ruhe vor diesen lästigen Arbeiten. Kein Problem, wenn Sie gar keinen Garten haben – auch die Stadtverwaltung freut sich, wenn Sie öffentliche Grünflächen optimieren. Pflanzen Sie Hibiskushecken, wo Sie die vielen Leerflächen stören, schneiden Sie lustige Formen ins Gebüsch, und erziehen Sie die Enten im Teich, bestimmte Territorien nicht zu betreten (z.B. Ihre neuen Hibiskushecken).
• Die Abstellkammer. Damals, als Sie in Ihr Haus oder Ihre Wohnung gezogen sind, haben Sie alles, was Sie nicht direkt verstauen konnten, in der Abstellkammer gestapelt. Seitdem gammelt es dort rum. Immer wieder fallen Ihnen Dinge ein, die Sie GANZ SICHER dort eingelagert haben und eigentlich gerade brauchen könnten – aber die Sie in diesem Wust sicher nicht finden werden. Das können Sie nun ändern! Wer muss schon einen südamerikanischen Dschungel haben, wenn er sich in die Wildnis der eigenen Vergangenheit begeben kann? Bewaffnen Sie sich mit einer Machete, und nehmen Sie Wasser mit. Durchforsten Sie Ihren Besitz, und Sie werden ungeheure Reichtümer entdecken! Da – endlich haben Sie den Christbaumständer wiedergefunden und müssen nächstes Weihnachten nicht mit einem Eimer voll Sand improvisieren. Dort – das Druckerkabel für Ihren Homecomputer aus Kindheitstagen! Endlich haben Sie die Gewissheit, dass Sie Ihre alten Dateien ausdrucken können, falls Sie bei Ihren Eltern den dazugehörigen Commodore auf dem Dachboden aufstöbern.
• Die Eltern. Überhaupt – die Eltern. Kümmern Sie sich mal wieder um die. Fahren Sie unangemeldet hin, und erklären Sie strahlend, dass Sie ein wenig länger zu Besuch kommen wollen! Sie machen sie schon allein damit endlos glücklich, dass Sie sie mit Ihrer Anwesenheit beehren, und bekommen ein paar Wellnesstage (all-inclusive). Wenn der Zimmerservice und das Frühstück nichts taugen, beschweren Sie sich.
• Widmen Sie sich der Kakteenzucht. Dies sind die perfekten Pflanzen: brauchen wenig Wasser, sind nicht beleidigt, wenn man sie ignoriert, und können wirkungsvoll auf Einbrecher, pampige Handwerker und ungebetene Religionsverkäufer geworfen werden. Suchen Sie sich die Sorte aus, deren Nadeln Sie zudem ernten und online als folkloristische Zahnstocher verkaufen können. Beeindrucken Sie Ihre Freunde mit Ihrem Wissen über die Welt der Stachelgewächse. Optimieren Sie die vielen Wikipedia-Einträge über Kakteen.
• Gründen Sie »Stubenhocker TV«. Jemand muss schließlich anfangen, ein Gegenstück zu der ganzen Reisepropaganda auszustrahlen, die Sie irgendwo im dreistelligen Bereich Ihrer Senderliste finden. Machen Sie sich über den Offenen Kanal in Ihrer Region kundig, und finden Sie einen Sendeplatz für echtes Stubenhocker-Fernsehen. Testen Sie in Ihrer Sendung die Qualität aktueller Couchmodelle und Anrufbeantworter. Veranstalten Sie eine Anti-Talkshow, in der niemand streitet, sondern in der Leute entspannt rumsitzen, was lesen, Musik hören. Zeigen Sie die schönsten Häuser in Ihrer Gegend. Oder lassen Sie einfach eine Webcam den Blick aus Ihrem Fenster übertragen. Stundenlang.
• Setzen Sie sich einfach hin. Ganz still. Schließen Sie Ihre Augen. Sie haben einen leeren Kalender und keinerlei Verpflichtungen. Niemand verlangt Ihre Anwesenheit. Nichts muss gerade erledigt werden. Sie leben in dem Moment und horchen in sich hinein, wonach Ihnen der Sinn steht. Und Sie wundern sich, warum andere so verzweifelt ihr Leben entschleunigen wollen und es nicht hinbekommen – für Sie ist es das Leichteste, was es gibt. Es heißt, niemand bereue auf seinem Sterbebett, zu wenig ereignislose, gemütliche Abende erlebt zu haben. Das könnte eine urbane Legende sein. Lassen Sie es lieber nicht darauf ankommen, und sorgen Sie für möglichst viele geruhsame Abende.
Reiselügen
Das Verreisen ist der Bereich des Lebens, über den die zweitmeisten Lügen verbreitet werden (auf Platz 1 steht unverändert Sex). Wer nicht verreisen will, sieht sich Schmähungen und Witzen ausgesetzt, nicht wenigen Stubenhockern wird gar der Besuch des Psychiaters nahegelegt. Bei genauer Betrachtung verlieren die Vorwürfe allerdings an Kraft, und es wird offensichtlich, dass Reisefanatiker und Reiseunternehmer hier eine unheilige Allianz eingegangen sind. Sie bestätigen sich gegenseitig in ihrem Wahn und wollen jedem Menschen einreden, er sei nur vollständig, wenn er regelmäßig an die exotischsten Orte der Welt fährt (z.B. Ecuador oder das Saarland). Wenn Sie ein glücklicher Stubenhocker sein wollen, müssen Sie Argumente an der Hand haben, mit denen Sie die bröckelige Beweiskette der Reisesüchtigen entkräften können:
»Reisen bildet«
Die Mutter aller Lügen. Kaum jemand fährt in den Urlaub, um wirklich etwas zu lernen. Die Reisenden, die so was behaupten, nehmen in Wirklichkeit nicht mal Bücher mit, weil die zu schwer sind (höchstens Illustrierte). Das sind dann auch die Leute, die an ihrem Urlaubsort als Erstes Ausschau nach einem Stückchen Heimat halten: Das ist auf den Balearen der Kiosk, der deutsche Boulevardzeitungen führt, und das ist auch in Feuerland der gleiche Kiosk, nur mit kleinerem Sortiment. Diese Urlauber wollen sich in erster Linie überzeugen, dass in der Welt alles ein wenig so ist wie daheim. Bietet sich ihnen am Urlaubsort keine Möglichkeit, deutsche Boulevardzeitungen zu lesen, fangen sie an, übers Essen im Hotel und das Wetter zu grummeln. Kehren sie schließlich in die Heimat zurück, fragen sie sich, was für eine Sprache diese Einheimischen dort eigentlich gesprochen haben – schließlich haben sie an der Hotelbar keine getroffen. Man könnte auch sagen: Das sind verkappte Stubenhocker, die es sich selbst nicht eingestehen wollen und denen Ihr Mut fehlt.
»Reisen erweitert den Horizont«
Die hässliche kleine Schwester der ersten Lüge, es sei denn, man bezieht Horizont auf die Kenntnis unfreundlicher Menschen. Fallen Sie nicht auf Klischees rein! Auf Reisen werden Sie nichts lernen, was Sie nicht längst durch Lebenserfahrung oder aus Büchern wissen. Dazu müssen Sie nicht die Weltgeschichte abklappern. Letzten Endes werden Sie die Rückreise mit dem gleichen Horizont antreten, mit dem Sie losgefahren sind – schlimmstenfalls bringen Sie die gleichen Vorurteile verstärkt wieder mit nach Hause, weil sie sich bewahrheitet haben.
»Der Weg ist das Ziel«
Romantisierende Vorstellung, wenn ein Flug abgesagt wird, Stau auf der Autobahn herrscht oder der halbe Zug vergessen wurde. Reisen ist primär der Prozess, von Punkt A nach Punkt B zu kommen, und der Weg ist dabei die Notwendigkeit, nicht der Zweck des Ganzen. Sonst könnten Sie auch den Vormittag damit verbringen, im Kreisverkehr am Industriegebiet eine Runde nach der anderen zu drehen und dann behaupten, Sie hätten zu sich selbst gefunden.
»Reisen veredelt den Geist und räumt
mit unseren Vorurteilen auf«
Meinte Oscar Wilde. Er hatte gut reden, denn er selbst war frei von Vorurteilen. Aber die Umwelt, die von seinem Lebenswandel nicht ganz so angetan war, hatte einige Vorbehalte über ihn. Wilde verreiste gern, endete in Zuchthaus und Einzelhaft und starb früh. Das sollte Ihnen eine Lehre sein.
»Auch eine Reise von tausend Meilen
beginnt mit einem Schritt«
Meinte Lao-Tse. Und recht hatte er. Denn er erwähnte nicht, in welche Richtung Sie diesen Schritt vollführen sollen. Wo steht Ihre Couch? Dort? Vielleicht reicht sogar der eine Schritt … und schon sind Sie da!
Warum Stubenhocker bessere Menschen sind
Wir leben in einer Welt, in der Stubenhocker belächelt und erniedrigt werden, während Vielreisende einfordern, bewundert werden zu wollen. »Schaut, wo ich schon überall war! Was für tolle Erlebnisse ich hatte, während ihr nur zu Hause wart – WIE LANGWEILIG!«
Es ist an der Zeit, dieses schiefe Weltbild geradezurücken und die Reisesüchtigen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Niemand will verallgemeinern, aber Stubenhocker SIND die besseren Menschen!
In ein und derselben Situation reagiert ein Stubenhocker gänzlich anders als jemand, der an nicht therapierbarem Reisefieber leidet, und kommt damit wesentlich gelassener durchs Leben. Besonders in einer Alltagssituation zeigt sich das wahre Gemüt eines Menschen:
Es klingelt
Ein Stubenhocker denkt:
Wer ist das? Wer will etwas von mir? Erwarte ich jemanden? Habe ich eine Verabredung vergessen? Muss ich vielleicht vor die Tür treten, um es herauszufinden? Aber welches Wetter haben wir? Brauche ich einen Mantel? Wo ist der Schlüssel? Ich darf mich auf keinen Fall aussperren!
Bis ein Stubenhocker schließlich die Tür öffnet, ist dort niemand mehr anzutreffen.
Wer war das? Vielleicht die Post? Habe ich eine Nachricht im Briefkasten? Nein. Vielleicht der Hausverwalter? Was wollte er wohl? Oder der Nachbar? Schnell die Tür schließen, bevor er zurückkommt!
Ein Reisesüchtiger denkt:
HA! ES KLINGELT! Welche Abenteuer warten wohl auf mich? Ist das vielleicht mein Freund Klaus, der mich zu einem spontanen Abstecher nach Italien abholt? Oder die Bergsteigerausrüstung, die ich bestellt habe? Vielleicht ist es auch Matze, der das Wochenende schon früher beginnen will, und wir ziehen dann tagelang um die Häuser!
Der Reisesüchtige hüpft minutenlang erwartungsfroh und adrenalingepeitscht im Zimmer herum. Schließlich öffnet er die Tür. Niemand ist mehr anzutreffen.
Wer war das? Ist da jemand im Flur? Mal nachsehen. Niemand. Vielleicht vor der Tür? Hm, nur Passanten. Warum schauen die alle so? Oh – ich hab keine Hose an. UND WO IST DER VERDAMMTE SCHLÜSSEL?
Man wird zu einer großen
Geburtstagsfeier eingeladen
Ein Stubenhocker wägt in den folgenden Tagen Pro und Kontra der Veranstaltung ab:
Wie stehe ich zu der Person, die da Geburtstag feiert? Sind wir blutsverwandt? Wer ist das vermutlich geladene Publikum? Kann ich mich da unauffällig druntermischen? Sind da Leute, mit denen ich halbwegs auf einer Wellenlänge liege, oder laufe ich Gefahr, nach 30 Minuten schlimme Kopfschmerzen vortäuschen zu müssen? Bis wann muss ich mich endgültig festlegen? Welche Konsequenzen hätte es, wenn ich später absage? Schulde ich dem Geburtstagskind einen Gefallen? Wie würde ich es psychologisch verkraften, es zu meinem eigenen Geburtstag einladen zu müssen?
Ein Reisesüchtiger sagt SOFORT zu. Und verbringt die folgenden Tage damit, sich innerlich und äußerlich auf die Feier vorzubereiten:
Ich muss mein Repertoire an Witzen auffrischen. Und einen Berg lustiger Fotos auf mein Smartphone laden! Auch die Bilder vom Geburtstagskind, die so dämlich sind, dass sie JEDEN zum Lachen bringen! Es wird wohl freie Platzwahl geben. Also muss ich früh genug dort sein, um bei den richtigen Leuten zu landen. Ein paar bringe ich am besten mit. Gleich mal nachfragen, wie viel Begleitung o.k. ist.
Man gewinnt eine Reise
Ein Stubenhocker schaut erst mal in seinen Kalender und findet zum Reisetermin schon viele unaufschiebbare Verpflichtungen, beispielsweise einen Termin beim Zahnarzt. Also macht er eine Liste mit Leuten, denen er die Reise schenken könnte. Diese Liste priorisiert er auf einem Blatt Papier in einem zweidimensionalen Raster nach Sympathiegrad und Wahrscheinlichkeit, dass die Person zu diesem Reiseziel passt. Die so entstandene Rangliste wird abgearbeitet, bis jemand zusagt. Der Stubenhocker ärgert sich zwar, dass im Kleingedruckten stand: Eine Auszahlung des Reisewerts ist leider nicht möglich. Aber er ist mindestens genauso glücklich, einem anderen eine Freude gemacht zu haben.
Ein Reisesüchtiger springt 20 Minuten in der Wohnung auf und ab, ruft dann seine Eltern und engsten Freunde an, um mit seinem Gewinn anzugeben, und füllt anschließend sein Facebook-Profil mit Werbefotos vom Urlaubsziel, gepaart mit Kommentaren wie: »Schaut mal, wo ich bald bin und ihr nicht!« Diese Kommentare löscht er allerdings umgehend, als ihm klar wird, dass er eine Begleitung mitbringen darf. Ihm fallen verschiedene Namen ein, und er macht schnell eine Liste, welche Frau/welcher Mann ihm aktuell am ehesten zuspricht und bei der/dem sich damit Eindruck schinden lässt. Dann ruft er diese Person an und verlangt eine sofortige Zusage. Er will nach dem Telefonat mit dem Packen beginnen, doch da wird ihm bewusst, dass er sowieso immer auf gepackten Koffern sitzt, für den Fall, dass ihn die Reisesucht überkommt. Nun beginnt für ihn die Wartezeit auf den Urlaub. Er ist in dieser Zeit mürrisch und unleidlich, weil er immer noch in seinem Alltagsleben feststeckt. Seine Reisebegleitung, die er am Telefon überrumpelt hat, muss urplötzlich wegen eines Zahnarzttermins absagen, weswegen er die nächste Person auf der Liste anruft und eine sofortige Zusage einfordert. Am Tag, an dem er endlich abreist, atmet sein ganzes Umfeld gewaltig auf und blendet ihn auf Facebook für die Dauer der Reise aus.
Man muss zu einem Termin
am anderen Ende der Stadt
Ein Stubenhocker sammelt sich erst mal. Dann geht er an seinen Rechner und sucht die EXAKTE Adresse heraus. Außerdem schaut er sich das Kartenmaterial im Detail an und speichert es auch auf seinem Smartphone, genauso wie alle Kontaktadressen der Zielperson. Die Route wird geplant: Lohnt es sich, extra das Auto dafür herauszuholen? Sind Parkmöglichkeiten möglichst nah am Zielort vorhanden? Wie sieht es alternativ mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus? Sind diese potenziell um diese Uhrzeit überfüllt? Wie oft muss ich umsteigen?
Ein Stubenhocker hat den perfekten Überblick, wie eine nötige Reise möglichst reibungslos vonstattengeht – selbst wenn sie nur in einen anderen Stadtteil führt. Alle Eventualitäten sind durchdacht, und durch diese Effizienz wird die Zeit, die man draußen verbringen muss, möglichst gering gehalten.
Ein Reisesüchtiger vergisst erst mal den Termin, weil er an seinen nächsten Urlaub denkt. Er fällt ihm wieder ein, als es fast zu spät ist. Also rennt er runter zu seinem Auto und rast los. Als er in der Stadt versehentlich falsch in eine Einbahnstraße abbiegt und sich über die Leute ärgert, die dauernd Lichthupe geben, fällt ihm ein, dass er die genaue Adresse gar nicht parat hat. Er hält auf dem Bürgersteig und schaut auf seinem Smartphone nach, wie die Zielstraße heißt. Dann weiß er schon mal ungefähr, wie er fahren muss. Dennoch verfährt er sich, vergisst zu tanken und bleibt in einem Industriegebiet liegen, das er nie zuvor gesehen hat. Das Smartphone piept alle 10 Sekunden, weil der Akku fast leer ist. Er fragt Passanten nach dem Weg zur nächsten U-Bahn-Haltestelle, aber plaudert so nett weiter, dass er nicht mehr weiß, welche Richtung er einschlagen muss, nachdem er sich verabschiedet (und Handynummern ausgetauscht) hat. Er findet die U-Bahn, orientiert sich am Sonnenstand und dem Verlauf der Schienen (hat er in Indien gelernt), und fährt los. So kommt er in ein weiteres Industriegebiet, das er nie zuvor gesehen hat. Als es dunkel wird, erhält er einen Anruf, warum er nicht zum Termin gekommen ist. Bevor er antworten kann, stirbt der Akku. Er hält ein Taxi an, lässt sich nach Hause fahren und schreibt einen ausführlichen Facebook-Kommentar, was für ein abgefahrenes Abenteuer er heute erlebt hat.
Eine E-Mail mit der Bitte um Hilfe
bei einem Computerproblem kommt an
Ein Stubenhocker liest die Mail und beantwortet sie in einer leicht verständlichen Sprache. Im Falle von Problemen, bei denen er nicht helfen kann, entschuldigt er sich höflich.
Ein Reisesüchtiger war überall und kann alles. Daher schreckt ihn auch nicht das Problem eines Rechners, den er noch nie gesehen hat. Er ruft den Absender der E-Mail an und erzählt von dem Computer in der Jugendherberge in Amsterdam, auf dem er mal Windows 3.11 reparierte, indem er die Festplatte formatiert und das System neu aufgespielt hat. Er rät, die Festplatte zu formatieren und das System neu aufzuspielen. Dann legt er eilig auf, noch bevor sein Gesprächspartner antworten kann, und bucht einen Kurztrip nach Amsterdam.
Wie man zum Stubenhocker wird
Sie sehen also: Stubenhocker sind ohne jeden Zweifel die besseren und weitaus verträglicheren Menschen. Wenn Sie einer sind, wissen Sie das längst. Aber was, wenn Sie noch zu den Leuten gehören, die einer Reise gegenüber nicht abgeneigt sind? Wenn sich bei Ihnen gelegentlich Fernweh meldet? Sie werden sich fragen, ob auch aus Ihnen ein ordentlicher Stubenhocker werden kann oder alles verloren ist. Sie müssen nur fest dran glauben! JEDER kann zum Stubenhocker werden. Fernweh ist heilbar. Selbst Reisesüchtige des höchsten Grades können geheilt werden!
Wenn Sie unvermittelt von Reiselust gepackt werden, rufen Sie sich folgende Dinge ins Gedächtnis:
Da draußen ist es auch nicht besser!
Sicher, Sie wollen dem Alltag entfliehen. Aber Alltag ist ÜBERALL! Auch an anderen Orten müssen Sie essen, trinken und aufs Klo gehen. Sie sind zwangsweise mit fremden Menschen in Kontakt. Wenn Sie nach Brasilien fliegen und sich dann wundern, dass dort nicht alle Leute den ganzen Tag Samba tanzen, sondern lieber Bandenkriminalität als Hobby pflegen, rücken Sie ein Stück näher an die Realität. Und lassen Sie sich nicht von etwas täuschen, was nach einheimischer Folklore und Lebensfreude aussieht. Da hat der Reiseveranstalter seine Finger drin, und es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach nur um eine bezahlte Showeinlage.
Wer die Welt bereist, muss trotzdem wieder heim!
Ja, irgendwann kommt immer der Tag, an dem Sie die Rückreise antreten müssen. Natürlich können Sie Ihren Urlaub ins Unendliche verlängern und sich »Globetrotter« oder »Aussteiger« nennen. Aber das ist nichts anderes als ein Leben auf der Flucht: Sie werden es an keinem Ort länger als drei Tage aushalten. Sobald Sie Heimatgefühle entwickeln, fliehen Sie panisch. Und der Ort, von dem Sie aufgebrochen sind, wird trotzdem immer Ihre Heimat bleiben. Dann, irgendwann, müssen Sie sich bei der Rentenkasse melden und brauchen wieder einen festen Wohnsitz, weil Sie Verhungern für eine schlechte Zukunftsperspektive halten. Reden Sie sich also gar nicht erst ein, dass Urlaub etwas Tolles ist oder ewig anhält.
Was auf Reisen alles schiefgehen kann …
Man weiß ja gar nicht, wo man anfangen soll. Defekte Klimaanlagen, hochtourig laufende Klimaanlagen, keine Klimaanlagen, Magenverstimmung, englische Touristen, Doppelbuchungen, Überbuchungen, Nichtbuchungen, defekte Fahrstühle, hysterische Servicekräfte, Regen, Sonne, Wirbelstürme, Sonnenbrände, Wundbrände, Salmonellen … Ist Ihnen die Lust vergangen? Gut.
Wenn diese Gedankenarbeit nicht hilft, müssen Sie aktiv Gegenmaßnahmen einleiten. Mit vier einfachen Schritten können auch Reisesüchtige im fortgeschrittenen Stadium zum Stubenhocker werden:
1. Schauen Sie Nachrichten. Sie werden sehen, dass überall in der Welt Krieg, Hunger, Not und Naturkatastrophen herrschen. Wer will da noch wegfahren?
2. Duschen Sie kalt. Und stellen Sie sich dabei vor, dass in dem Hotel, das Sie gern buchen möchten, auch gerade die Heizung ausgefallen ist. Die Wahrscheinlichkeit ist groß.
3. Lesen Sie Hotelrezensionen im Internet. Sie werden zu JEDEM Hotel mindestens eine negative Stimme finden, sogar zu Etablissements mit 5 oder mehr Sternen. Irgendwer hat immer etwas zu bemängeln – sei es, dass jemand am Gullideckel vor dem Hotel kurz eine Kakerlake gesehen hat, das Frühstücksei nicht exakt temperiert war oder der Page nicht gut genug Deutsch sprach, um schwäbische Stammesdialekte zu entwirren. Sie werden nicht viel Zeit auf den Hotelportalen verbringen müssen, um sich jede Ecke dieser Welt so unattraktiv, verdreckt und übel riechend wie möglich vorzustellen. Was der Realität nahekommt, wie ein erfahrener Stubenhocker weiß.
4. Rechnen Sie hoch, was die Reise kostet. Vergessen Sie dabei auch nicht Kleinigkeiten wie Trinkgeld, Nahverkehrstickets, Überfälle. Machen Sie danach eine Liste, was Sie von dem Geld sonst alles anschaffen könnten. Priorisieren Sie die Sachen nach Wichtigkeit. Stellen Sie sich vor, wie Sie alles gekauft haben, was Sie sich wünschen – und dann löschen Sie es wieder aus Ihren Gedanken. Stattdessen werden Sie das Geld in einen Urlaub versenken. Klingt der nun immer noch einladend?
Wenn Sie schließlich gedanklich bereit sind, ein Stubenhocker zu werden, haben Sie das Schlimmste überstanden und den Schritt in eine friedlichere Welt gemacht. Sie haben eine große psychologische Hürde genommen, der Rest ist ein Kinderspiel: Sie müssen fortan nur noch in Ihrer Stube hocken. Die Belohnungen, die Sie im Gegenzug erwarten, sind immens. Sie werden eine ganz neue Dimension der Ausgeglichenheit erreichen. Suchen Sie bevorzugt Kontakt zu Menschen, deren Anwesenheit Sie keine Energie, Nerven oder eine übermäßige Menge Fruchtgummi kostet. Durch den eingeschränkten Kontakt zu bestimmten Leuten wissen Sie eine angenehme Gesellschaft erst richtig zu schätzen. Sie leben im Hier und Jetzt statt im Weit weg und am Arsch der Welt.
Wenn Sie so weit sind, sich Stubenhocker zu nennen – gut gemacht! Aber es kann gerade am Anfang passieren, dass Sie das Gefühl haben, von Fernweh übermannt zu werden. Das sollten Sie nicht vollständig unterdrücken. So etwas macht nur krank. Aber Sie sollten auch nicht verreisen, nicht mal einen Nachmittagsausflug anpeilen – Sie würden nur in alte Muster verfallen. Ein Wochenendtrip zum Baggersee ist doch nichts, sagen Sie sich vielleicht. Doch kaum haben Sie damit wieder angefangen, brauchen Sie einen größeren Kick – und finden sich in Nullkommanichts auf einem Liegestuhl unter südlicher Sonne wieder. Und verzweifeln, weil Sie so schwach waren.
Eine gute Heilmethode ist es, eine dieser kommerziellen Reise-Diashows von irgendwelchen Angebern anzuschauen, die sich angewöhnt haben, bei ihrer Gondelei durch die Weltgeschichte einen riesigen Fotoapparat mit sich rumzuschleppen. Da das potenzielle Publikum beim Vortrag nicht vollständig wegdämmern soll, reisen diese Leute natürlich in schwer zugängliches Gebiet, um den Eindruck zu erwecken, sie seien die erste zivilisierte Person, die an diesen Ort gekommen ist. Da solche Events in jeder deutschen Kleinstadt an jedem zweiten Tag stattfinden, muss an diesen fernen Orten offenbar ein ziemliches Gedrängel herrschen.
In Großstädten werden solche Vorträge übrigens nicht gehalten. Es gibt dort genügend ehemalige Bewohner jeder ach so exotischen Region, und die sind alle heilfroh, nun von dort weg und Stubenhocker geworden zu sein.
Stubenhocken für Fortgeschrittene
Wenn Sie sich schließlich als Stubenhocker etabliert haben und nicht mehr von dauernder Unruhe geplagt werden, können Sie die nächste Stufe zünden. Sie sind nicht mehr weit vom Stubenhocker-Nirwana entfernt! Doch neben den äußeren Dingen, denen wir uns im nächsten Kapitel widmen, gilt es zunächst, Ihre Einstellung zu justieren.
Anfangs werden Sie den Drang verspüren, sich für das Stubenhocken zu rechtfertigen. Sie werden beobachten, dass Ihre Freunde hinter Ihrem Rücken lästern und Verständnis heucheln, während sie in Wirklichkeit am liebsten die Weißkittel mit dem großen Käscher rufen würden. Sie können beteuern, dass es Ihnen gut geht, sooft Sie wollen – es wird Ihnen niemand abkaufen, dass Sie freiwillig zum Stubenhocker mutiert sind.
Umso wichtiger ist es, dass Sie aus Ihrer Gesinnung kein Geheimnis machen. Konfrontieren Sie Ihre Freunde mit ihren ausgesprochenen oder heimlichen Vorwürfen. Weisen Sie darauf hin, dass die größten Denker aller Zeiten ausgesprochene Stubenhocker waren und dass Stubenhocker nicht in den Krieg ziehen (sie müssten dazu schließlich ihre Wohnung verlassen). Ja, eine Welt voller Couch-Potatoes wäre eine friedliche Welt. Von ihrer Ökobilanz ganz zu schweigen!
Bleiben Sie stark. Ihre Freunde werden sagen, dass das bei Ihnen nur eine vorübergehende Phase ist. Sie werden mutmaßen, dass Sie unter Depressionen leiden. Beweisen Sie ihnen, dass es nicht so ist. Führen Sie ein erfülltes Leben mit der neu gewonnenen Freiheit, nicht mehr mit Urlaubserlebnissen um Aufmerksamkeit buhlen zu müssen.
Ihre Freunde könnten versuchen, harte Maßnahmen zu ergreifen und Sie zu einem Ausflug mitnehmen zu wollen. Kaufen Sie im Baumarkt verschiedene Fahrradschlösser, und ketten Sie sich an Ihre Couch.
Sport für Stubenhocker
Stubenhocken ist nicht für jedermann. Es ist vor allem eine Art von Tätigkeit, die man nicht untrainiert versuchen sollte. Durch langfristiges Stubenhocken wird Ihr Körper aufs Äußerste beansprucht. Es besteht die Gefahr, dass Ihre Muskeln verkümmern, wie bei den Astronauten auf der ISS, diesen beneidenswerten Weltall-Stubenhockern. Daher sollten Sie darauf achten, dass Sie auch als Stubenhocker fit bleiben. Doch welche Möglichkeiten kommen da infrage?
• Mannschaftssportarten: Fußball, Basketball, Volleyball, Eishockey – alles keine Optionen. Sie müssen sich an feste Zeiten halten, das Haus verlassen, sich mit anderen Leuten arrangieren. Außerdem ist der Leistungsdruck in der Gruppe gleich viel höher. Von der Verletzungsgefahr durch Schläger, Bälle und die Extremitäten der Mitspieler ganz zu schweigen.
• Fitnessstudio: Das genaue Gegenteil eines Ortes, an dem man sich als Stubenhocker wohlfühlt. Auf engstem Raum drängeln sich schwitzende Menschen, die sich im Spiegel bewundern und von Trainern anbrüllen lassen. Außerdem kostet der Monatsbeitrag so viel wie ein Rudel japanischer Zierfische.
• Schwimmen: Siehe Fitnessstudio, nur im Wasser, was die Sache gleich noch unangenehmer macht.
• Golf: Ist an sich kein Sport und sollten Sie schon aus Imagegründen nicht in Betracht ziehen.
• Skifahren: Ist nicht akzeptabel, weil Saisonsport oder i.d.R. nur in Verbindung mit einem Urlaub möglich.
• Joggen: Für Stubenhocker vergleichsweise interessant. Man ist zeitlich unabhängig, muss nicht mit oder gegen andere laufen, kann seinen eigenen Rhythmus finden, und wenn man die Mütze tief ins Gesicht zieht, erkennt einen niemand.
• Fahrradfahren/Mountainbiking: siehe Joggen – durchaus möglich. Allerdings sind hier die Reflexe wichtiger als beim Joggen, und damit haben es Stubenhocker nicht unbedingt so. Das gilt auch für Inlineskating. Alles nur den Stubenhockern zu empfehlen, die eine gewisse Grundform mitbringen.
• Die einfachste Lösung ist, den Sport in die eigene Bude zu verlegen, in Form eines Ergometers, Laufbandes oder Steppers. Sport treiben, ohne sich vom Fleck zu bewegen – was will man mehr?
Stubenhocker und Beziehungen:
Zwischen Seelenverwandtschaft und Kompromiss
Als Single ist die Urlaubsnichtplanung natürlich deutlich einfacher, als wenn Sie die Interessen eines Partners mit in Betracht ziehen müssen oder auch noch Kinder haben, die erstaunlich früh eigene Ansprüche an ein Urlaubsziel anmelden.
Wenn Sie eine mögliche Partnerin/einen möglichen Partner kennenlernen und vielleicht eine sanfte Beziehung beginnen, werden Sie bald Unterschiede in der Denkweise und der Weltsicht feststellen. Das kann die religiöse Einstellung sein, die politische Überzeugung oder die Bevorzugung einer bestimmten Art von Bettwäsche. Doch der größte Test der jungen Liebe ist, ob Sie beide im Hinblick aufs Stubenhocken kompatibel sind:
Die Partnerin/der Partner ist ebenso Stubenhocker
Herzlichen Glückwunsch! Diese Beziehung steht unter einem guten Stern. Sie müssen sich niemals langwierig erklären. In Situationen, in denen Sie eine Reise vermeiden wollen, können Sie sich gegenseitig den Rücken freihalten. Und wenn Sie doch verreisen müssen, lässt sich diese Bürde gemeinsam schultern. Bei erfolgreicher Reisevermeidung sitzen Sie zu zweit auf dem Sofa und genießen jeden Augenblick.
Die Partnerin/der Partner
ist dem Reisen nicht abgeneigt
Hier ist von Ihnen schon ein wenig Toleranz und Opferbereitschaft gefragt. Um gelegentliche Ausflüge kommen Sie wohl nicht herum, doch Sie können Ihrerseits auf genug Verständnis hoffen, dass es dabei nicht zu weit geht. In dieser Beziehung müssen Sie immerzu die individuellen Bedürfnisse kommunizieren und anpassen. Das kann mitunter anstrengend sein, sollte aber kein k.o.-Kriterium darstellen.
Die Partnerin/der Partner ist reisesüchtig
Dies werden Sie vermutlich sehr früh in Ihrer Beziehung feststellen. Wahrscheinlich sind Sie dann versucht, die Flinte ins Korn zu werfen und nach einer Person zu suchen, die eher auf Ihrer Wellenlänge schwimmt. Doch das sollten Sie nicht reflexhaft tun. Sicher, Sie werden Opfer bringen müssen: Entweder Sie gehen mit auf die Reisen der Partnerin/des Partners, oder Sie lassen sie/ihn alleine bzw. mit Freunden verreisen. Versuchen Sie nicht, sie/ihn umzupolen, das würde nur für ein abruptes Ende der Beziehung sorgen. Entweder sie/er merkt selbst irgendwann, dass Stubenhocken das einzig Wahre ist – oder nicht. Immerhin haben Sie dann oft das Sofa für sich alleine.