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D er Löwe wachte schon lange über die Hafenanlage. Er hätte bezeugen können, dass der See im letzten Jahrhundert dreimal komplett zugefroren war. Er hatte gesehen, wie sich das Stadtleben aufs Eis verlagert hatte, mit Pferdeschlitten und Marktständen, die gebrannte Mandeln und Edelkastanien feilboten. Wie später Flugzeuge auf der gefrorenen Seedecke gelandet waren und die Polizei ihre Patrouillen-Runden auf Kufen drehte. Jetzt starrte er ins Dunkel. Aufkommender Wind rüttelte an den für den Winter festgemachten Segelbooten und Yachten. Wellen schwappten an die Mauer des Quais im Hafen Enge. Die Leute gingen mit eingezogenen Köpfen ihres Weges. Nur im Restaurant des benachbarten Seebads klirrten Gläser. Auf einer Parkbank gegenüber dem Landungssteg saß ein Mann. Er trug mehrere Schichten Kleider, die seitlichen Taschen seiner Arbeitshose waren ausgebeult von den Plastikflaschen, die er zuvor in einer öffentlichen Toilette mit heißem Wasser gefüllt hatte. Darüber nur ein verdreckter Schlafsack. In einem Ziehwagen befand sich sein ganzes Hab und Gut, mit Zeitungen, Kleidern und Pfandflaschen vollgestopf‌te Taschen und einige Kanister. Zischend öffnete er eine Dose Bier und überlegte kurz, ob er nicht doch das Angebot eines Freundes annehmen sollte, auf dem Sofa zu übernachten. Doch er befürchtete, dass ihm dann jemand den Schlafplatz am Hafen streitig machen könnte. Licht flackerte in einem der Boote auf, kurz darauf schallte Musik herüber, begleitet von krautigem Marihuanageruch.

»Finito«, sagte Iva und steckte die Flasche Franciacorta umgekehrt in den Eiskühler. Dann lehnte sie sich wieder an die Wand und schob das Handtuch ein wenig zurück, mit dem sie das Bullauge abgedeckt hatten. Das Feuerzeug schnippte, als sie den erloschenen Joint aus dem Aschenbecher nahm und nochmals anzündete. »Hat dein Vater nicht noch was anderes gebunkert?«, fragte sie und stieß Rauch in kleinen Ringen aus.

»Was meinst du?«, wollte Ruben wissen. Er schob gerade am Eingang der Koje ein paar Benzinkanister zur Seite und rüttelte an den Weinkisten dahinter.

»Du weißt schon. Hast du nicht neulich erzählt, dass er manchmal Opium raucht?« Sie schlug den pinken Wollschal enger um die Schultern.

»Ja. Aber er versteckt das Zeug im Tresor.« Ruben rieb die Handflächen aneinander und fischte Mütze und Schal aus dem Ärmel seiner Jacke. »Außerdem, schon ein bisschen kaputt, so was in der Pfeife seines Großvaters zu rauchen, der irre geworden ist … Aber ich hab vielleicht eine Idee, wo es hiervon noch mehr gibt.« Er zeigte in Richtung der Kiste mit den leeren Flaschen. »Bin gleich wieder da. Und dann erzählst du mir alles über den neuen Klub, ja? Mascha war ganz begeistert, aber sie wollte mir nix verraten.«

»Du triffst dich heimlich mit meinen Freundinnen?«, fragte Iva mit gespielter Entrüstung.

Sie hielt den Kopf ein wenig schief, und er fand, dass sie gerade sehr schön aussah, mit dem runden Gesicht über den angewinkelten Beinen in den schimmernden Strümpfen. Er wusste aber auch, dass er ihr das nicht sagen durf‌te, da sie auf einer strikten Trennung zwischen Sex und Freundschaft bestand. Und er befand sich nun einmal leider in der Freundeszone. Das ging so weit, dass Iva ihn wie eine beste Freundin über ihre wechselnden amourösen Abenteuer auf dem Laufenden hielt. Für seinen Geschmack viel zu detailliert. Doch heute Abend, das hatte sie ihm versprochen, würden nur sie zwei zusammen ausgehen. Da schadeten ein paar weitere Flaschen aus dem Weinkeller des Hotels bestimmt nicht.

»Stell dir vor …« Ihre Augen blitzten träumerisch. »Stell dir vor, wie wir tanzen, die ganze Nacht nur tanzen. Und wenn die anderen frühmorgens an der Hardbrücke zu ihren beschissenen Jobs hasten und sich billigen Kaffee aus billigen Pappbechern reinschütten, dann tanzen wir noch immer. Ein eigener Klub – das wäre schon eine andere Nummer, als ab und zu in einem Anhänger auf der Fahrraddemo ein paar Platten aufzulegen.«

Ruben griff nach dem Joint, den sie zu ihm hochstreckte. Ihre Fingerspitzen berührten sich, seine Haut begann zu kribbeln. »Ein verstecktes System von Konsum und Exzess auf der Tanzfläche, ermöglicht durch ein gigantisches System von Überkonsum in einer der reichsten Städte der Welt«, setzte er ihren Gedanken fort. »Vielleicht die einzige Rebellion, die uns übrig bleibt.« Er zwinkerte ihr zu. »Oder wenigstens die spaßigste.« Dann suchte er den Schlüssel und stieg die Leiter hoch. »Gleich wieder da.«

Die Außentür schlug hinter ihm zu. Iva drehte die Musik leiser und streckte sich auf dem Bett aus, das für seine Größe erstaunlich bequem war. Sanftes Schaukeln der Wellen, dann döste sie weg.

Sie hörte nicht, wie sich erneut Schritte näherten. Die Luke an Deck wurde aufgeschoben. Licht fiel auf eine hochgezogene Kapuze, darunter tiefe Augenhöhlen und eine verschwommene Kinnpartie. Mit einem Ruck schreckte Iva hoch. »Du?« Sie atmete ruckartig.

»Wen hast du erwartet?«, fragte die Stimme zurück.

Iva blickte auf die schwarzen Lederhandschuhe, wie sie nach dem Klebeband griffen, das auf der Anrichte der Bordküche lag. Sie wollte zurückweichen, ihre Muskeln verkrampf‌ten sich. Doch mit der Wand im Rücken blieb ihr nur die Flucht nach vorne. »Du hast bekommen, was du von mir wolltest. Und jetzt bekomme ich etwas«, sagte sie einiges selbstbewusster, als sie sich fühlte, und tastete nach ihrem Telefon, ohne hinzusehen. »Glaubst du im Ernst, ich lass mich von so einer Show einschüchtern? Ich bin gespannt, was Fleur …«

Weiter kam sie nicht. Noch ehe Iva begriff, wie ihr geschah, hatte er sie auf die Matratze gepresst. Sie wand sich unter dem erdrückenden Gewicht, wollte schreien. Aber da hatte er schon das Handtuch vom Bullauge gerissen und drückte es auf ihr Gesicht. Es schmeckte nach Fäulnis und nach Moder. Brechreiz stieg in ihr auf. Verzweifelt versuchte sie, ihr Telefon zu entsperren. Schaffte es aber nur, die Musik auf der damit verbundenen Anlage aufzudrehen. Vielleicht hörte jemand den Lärm. Ein greller Blitz durchzuckte ihre Schulter, sie konnte nicht anders, als dem Schmerz zu folgen. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wandte sich wimmernd unter dem harten Griff, bis sie auf dem Bauch lag. Ekel erfasste Iva, als sie seinen feuchten Atem im Nacken spürte. Er zog ihren Kopf an dem langen Zopf nach hinten und klebte ihr den Mund zu. Dann fesselte er die Handgelenke mit ihrem eigenen Schal aneinander. Ivas Gedanken rasten. Rein körperlich war er ihr überlegen. Je mehr sie sich wehrte, desto fester hielt er sie im Griff. Klirrend rutschte seine Gürtelschnalle mitsamt Hose zu Boden, ein paar Münzen kullerten davon. »So magst du es doch …«, keuchte er und riss mit den Zähnen ein Kondom auf. Dann beugte er sich über sie, sie fühlte, wie seine Hand ihre Brust knetete. Und suchte verzweifelt nach einem friedlichen Ort, tief in ihr drin, an den sie sich zurückziehen konnte. Betete, dass es schnell vorbeiging. Dann legte sich eine Schlinge um ihren Hals.