10

»D u siehst ganz schön zerknittert aus«, stellte Fred, Rosas Chef, fest, als sie die übervolle Garderobe nach ihrer Strickjacke absuchte. Sie versuchte, ihre Nachtschicht, die schon zur Tagschicht geworden war, endlich zu beenden.

»Es gibt wieder kein warmes Wasser in den Duschen unten«, erwiderte sie.

»Ich weiß«, seufzte Fred und zog seinen Mantel an. »Nächste Woche habe ich endlich die Sitzung mit dem Hochbauamt zur Sanierung der Wache. Übrigens, soll ich dich in der Innenstadt absetzen? Liegt sowieso auf meinem Heimweg. Nach der Höllennacht …«

Rosa rieb sich die vor Müdigkeit schweren Oberarme und musste an die Ergebnisse einer israelischen Studie denken: Angeblich entschieden Gerichte eher zuungunsten von Angeklagten, wenn das Personal stark übermüdet war. Zumindest heute konnte sie das sehr gut nachvollziehen. Sie nickte dankbar. Am Nachmittag musste sie schon wieder zum Rapport antreten und zuvor noch den Stand der Abklärungen zu den Bootshaltern erfragen. Mit einem erfreuten Laut zog sie unter einem Regenponcho ihre Strickjacke hervor.

»Ihr seid noch da? Sehr gut!«, rief Karim, der gerade angelaufen kam. Er schwenkte ein zusammengerolltes Blatt Papier auf und ab wie die Stablampe bei einer Verkehrskontrolle. »Hast du die Namen der Bootshalter schon durchgesehen, Rosa?«

»Wann auch?«, gab sie leicht gereizt zurück und unterdrückte ein Gähnen. »Können wir uns das nicht später anschauen? Ich bin fix und fertig, und Fred und ich wollten gerade los.«

»Mir ist da was aufgefallen«, fuhr Karim unbeirrt fort, der anscheinend keine Eile hatte, Feierabend zu machen. »Erinnerst du dich an die suizidale Frau von vor ein paar Wochen?«

Natürlich erinnerte sich Rosa. Sie waren gerade dabei gewesen, die Principessa auszuräumen und die Ausrüstung in den Trocknungsraum zu bringen, als der Notruf des Muscheltauchers einging. Sie waren mit heulenden Sirenen losgefahren. Kurz darauf hatten sie den Mann in der Uferzone mit einer ohnmächtigen Frau im Rettungsgriff entdeckt. Die Frau atmete nur noch ganz flach, Muskelstarre hatte das Kältezittern abgelöst. Der Sanitäter vom Rettungswagen, der Minuten später eintraf, sprach überdeutlich und langsam mit der Frau, die sie schon in Wärmedecken gehüllt hatten, wie mit einem schwerhörigen Kind. Als ihr Gesicht etwas an Farbe gewann, erklärte er, dass sie sie nun ins Universitätsspital bringen würden. Und danach direkt ins Burghölzli, hatte sich Rosa gedacht, in die Psychiatrische Klinik auf dem bewaldeten Hügel im Südosten der Stadt. Suizidversuche – das Thema gehörte zu den tragischen Seiten ihres Berufs. Immerhin war die Frau rechtzeitig gefunden worden. Aber immer wieder kam es vor, dass der Versuch dann einige Wochen später wiederholt wurde. Manche blieben so lange beharrlich, bis es klappte.

Als der Rettungswagen mit ihr davongefahren war, hatte Karim ein nasses, durchscheinendes Stück Stoff von der Reling der Principessa gepflückt. »Das gehörte wohl zu ihrem Kleid.«

»Ja«, sagte Rosa. »Ein Cape oder so was.«

»Denkst du, das war ihr Brautkleid?«, fragte Karim.

Sie zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Kann sein. Zumindest ist es festlich.«

»Ist das nicht etwas melodramatisch?«

»Wohl noch nie unglücklich verliebt gewesen.«

»Ich muss ja auch nicht alles verstehen«, hatte er gebrummt und den Motor gestartet. In den zwei Wochen, die seither vergangen waren, hatte sich Rosa gehütet, ihn nochmals allzu Persönliches zu fragen.

Jetzt sagte Karim vor der Garderobe zu Fred und Rosa: »Ihr Name war Elenor Engler – und schaut mal hier.« Er reichte ihnen die Liste. Widerwillig warf Rosa einen Blick darauf, dann sprang auch ihr der Name ins Auge. Der Besitzer der Yacht Amethyst, auf der nicht nur die Leiche gefunden worden war, sondern auch das Feuer mutmaßlich seinen Ausgang genommen hatte, hieß Manfred Engler. Rosas Lebensgeister kehrten zurück. »Ihr Ehemann?«

Und Fred fragte fast gleichzeitig: »Ist sie etwa die Tote vom Hafen?«

Doch das hatte sich Karim auch schon gedacht und bereits in der Psychiatrischen Klinik angerufen. »Fehlanzeige«, sagte er. »Sie war gerade in der Atemgruppe und laut Aussage der Pflegerin quicklebendig.«

»Hatten wir nicht etwas von ihr auf der Principessa ?« Rosa machte kehrt und ging zu einem großen Wandschrank, in dem sie Beweismittel und Fundgegenstände aufbewahrten. Sie zog einen Beutel hervor und strich über den irisierenden Stoff des Capes, das auf dem Boot liegen geblieben war, grünlich vom getrockneten Seewasser und winzigen Algenschlieren.

»Bring es ihr doch vorbei«, sagte Karim.

»Weißt du was?«, sagte Rosa stirnrunzelnd. »Das mache ich. Doch zuerst muss ich schlafen, richtig lange schlafen.« Sie sah auf die Uhr. »Oder wenigstens tief.«