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D er Schwanen lag bei den Arkaden direkt am Fluss, mit Blick auf Großmünster und Berge. Das gleiche Panorama wie auf den Postkarten, die von hier aus jeden Tag in die Welt verschickt wurden. Mit seinen rot-weiß gestreif‌ten Markisen atmete das Hotel auch jetzt im Winter einen Hauch von Venedig, allerdings nur für Gutbetuchte. Gegenüber am Limmatquai ratterten die Trambahnen, unterwegs zum Bellevue, zum Wasser und den Schiffen. Martin setzte den Blinker und bog auf die Rathausbrücke ein. Sie hatten Glück, das reservierte Parkfeld neben der Wache stand leer. Rosa blickte sehnsüchtig die schmale Gasse hinauf, die beinahe direkt bis zum Rindermarkt und zu ihrem Haus führte.

»Brandstiftung ist schon ein seltsames Verbrechen«, sagte Martin und schaute sich nach Fußgängern um. »Der Täter wird nicht reicher. Jedenfalls nicht so, wie wenn er einen Einbruch begeht oder mit Drogen handelt. Dafür hat er gute Chancen davonzukommen.«

»Vielleicht war es aber auch ein Unfall, eine unglückliche Verkettung von Umständen«, erwiderte Rosa. »Ich meine das Todesopfer. Selbst wenn tatsächlich etwas am Motor gemacht wurde. Vielleicht wusste der Täter nicht, dass da jemand ist? Am gefährlichsten sind Brände nachts, wenn die Menschen schlafen. Besonders, wenn noch Drogen oder Alkohol im Spiel sind …«

»Du hast schon recht, man kann nicht gleich von einem Mord ausgehen«, sagte Martin und ließ eine Reisegruppe mit bunten Regenschirmen passieren, die wohl die gedeckte Handwerkergasse an der Schipfe ansteuerte. Er beugte sich zu ihr hinüber. »Obwohl ich nichts dagegen hätte, mit dir noch ein wenig länger zu ermitteln.«

Sie spürte seine warme Hand ihre Halsbeuge hinaufgleiten. Vor einigen Tagen hätte sie wohl innerlich überschlagen, wie lange sie bis hinauf ins Waschhaus brauchen würden, doch jetzt streif‌te sie nur flüchtig seine Handfläche. Und suchte im Fußraum nach ihrem Tablet, da sie Protokoll führen würde. Woraufhin Martin noch einmal zurücksetzte, bis der Dienstwagen das weiß umrandete Parkfeld exakt ausfüllte.

»Warum bestellt er uns eigentlich in den Schwanen ?«, fragte er.

»Die Verbindung war nicht so gut, aber ich glaube, er hat dort übernachtet.«

»Gehört das Hotel nicht seiner Familie?«

»Doch. Unter anderem. Er ist vor ein paar Jahren in die Direktion eingestiegen.«

Martin schnaubte und prüf‌te den Sitz seines Waffengurtes.

Rosa schaute ihn warnend an. »Zum jetzigen Zeitpunkt ist Manfred Engler mal primär eine geschädigte Auskunftsperson. Zuerst versucht sich deine depressive Gattin umzubringen, dann brennt noch dein Segelboot ab …« Sie knackste ihren verspannten Nacken durch und löste den Sicherheitsgurt. »Wahrscheinlich waren die letzten Wochen nicht gerade eitel Sonnenschein für ihn.«

In der Lobby saßen die Gäste gerade beim Af‌ternoon Tea, beruhigende Harfenklänge drangen aus gut versteckten Lautsprechern. Es duftete nach Schwarztee, und auf Etageren aus Porzellan stapelten sich dreieckige Gurkensandwiches, Scones, sehr kleine Marmeladengläschen, Macarons mit Goldstaub und safrangelbe Sandkuchen. Den krönenden Abschluss bildeten kleine Zitronentartelettes, mit einer Himbeere drauf, die weiß der Kuckuck wo herkommen mochte, aber schön anzusehen war, das musste Rosa zugeben. Sie machte innerlich eine Notiz, bald eine richtige Tarte au citron zu backen. Ein nachmittagfüllender Zeitvertreib, wenn man die Zubereitung wirklich ernst nahm. Rosa merkte auf einmal, dass sie bis auf ein paar Nüsse heute nichts gegessen hatte. Hinter der verspiegelten Rezeption erhaschte sie einen Blick auf ihr fahles Gesicht mit den Augenschatten. Geschwächte Gefäße und zu wenig Sauerstoff im Blut, die bekannten Nachwehen des Schlafmangels. Prompt erkundigte sich Martin, ob es ihr gut ging.

»War wohl etwas viel«, murmelte sie und stieß Luft aus.

»Steht eigentlich unsere Verabredung heute Abend?«, fragte er.

Bevor sich Rosa eine Ausrede ausdenken konnte, da sie ja Leo am nächsten Morgen im Bistro noch irgendwie abschütteln musste, trat Manfred Engler aus dem Lift. Seine ganze Erscheinung passte so gut in diese Fünf-Sterne-Lobby, er hätte zur Innenausstattung gehören können. Bis auf ein paar winzige Details. Rosa bemerkte einen Fleck an der Spitze des rosaroten Taschentuchs, das aus der Brusttasche seines Jacketts schaute. Vielleicht hatte er den Anzug einmal ausgefüllt, aber jetzt knitterte er unter den zu langen Ärmeln. Die Haut unter seinen Augen war aufgedunsen, was die zu glatte Rasur noch unterstrich. Engler orderte Kaffee mit Brandy und bot ihnen das Gleiche an. Dann deutete er auf eine Sitzecke am Fenster, dahinter das schimmernde Grün der Limmat und der Holzsteg der Schiffhaltestelle.

»Leitungswasser reicht vollkommen«, sagte Martin, während Rosa einer Tasse Kaffee nicht widerstehen konnte. Brandy und Gebäck lehnte sie jedoch ab.

»Hier ist der Fluss am schmalsten«, sagte Engler, ihrem Blick folgend. »Darum wurde im Mittelalter die Brücke samt Gasthaus an dieser Stelle gebaut. Man kann sagen, Zürich ist rund um die Rathausbrücke entstanden.«

»Sieht man dem Gebäude gar nicht an, das Alter«, sagte Martin. »Wirkt eher, als hätten Sie richtig viel Geld in die Hand genommen.«

»Tatsächlich wurde der jüngste Umbau in verblüffend kurzer Zeit realisiert. Und wir haben den fünf‌ten Stern erhalten.« Engler gab dem Kellner ein Zeichen, der sich sogleich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. »Die alten Räume wurden im Vorfeld digitalisiert und aufgrund der Schablonen nachgestellt, millimetergenau. Leider existiert von der Amethyst keine solche Schablone.«

Der Kaffee wurde serviert, und Martin nutzte die Gelegenheit, um Manfred Engler über die Rechte und Pflichten als Auskunftsperson aufzuklären. Rosa legte ihr Tablet für das Protokoll bereit.

Er habe schlecht geschlafen, sagte Manfred Engler und kippte den Rest des Brandys in den Kaffee. »Ich bin wirklich erschüttert.« Seine Stimme war belegt, er räusperte sich. »Das Boot war in einem vollendeten Zustand.«

»Wann waren Sie zuletzt dort?«, wollte Martin wissen.

Engler fixierte die Tischplatte, seine Hände waren unaufhörlich in Bewegung. »Vor einigen Tagen erst …«

»Die letzte technische Kontrolle bei der Schifffahrtsbehörde ist aber schon einige Zeit her«, schaltete sich Rosa ein. »Wie ich sehe, haben Sie den Termin verschoben.«

»Ich hatte leider zu viel zu tun.«

Rosa warf Martin einen Blick zu, worauf dieser sich nach der Versicherung für das Boot erkundigte.

»Was ist denn das für eine Frage? Ich bin doch nicht so blöd, ein Objekt in dieser Preisklasse nicht zu versichern.« Engler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Doch mir geht es nicht ums Geld.«

Martin stützte die Ellenbogen auf seine angespannten Oberschenkel und beugte sich nach vorne. »In den Trümmern Ihres Bootes wurde eine Leiche gefunden.«

Englers Gesicht blieb ausdruckslos. »Auf der Amethyst ? Du meine Güte. Wer ist es denn?« Er schnaubte. »Bestimmt hat einer im Suff den ganzen Hafen angezündet. Ich dachte immer, dass das irgendwann passiert. Die feiern permanent auf dem Steg. Es ist eine Schweinerei.« Er redete sich in Rage. »Den ganzen Sommer schon sammle ich Zigarettenstummel auf dem Deck zusammen, leere Bierdosen, Flaschen und so weiter. Und geklaut wird auch, es sind schon mehrmals Wertsachen verschwunden.«

»Wir können noch nicht viel über die Identität des Opfers sagen. Aber war die Amethyst denn nicht verriegelt?«, fragte Rosa.

»Doch, eigentlich schon.« Er tippte an sein Brandyglas, worauf der Kellner eine Schublade aufzog. »Aber manchmal vergisst mein Sohn Ruben abzuschließen.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Es ist doch nicht er, den Sie …« Enger sah schockiert drein.

»Nein, es handelt sich um eine weibliche Person.«

»Gott sei Dank«, sagte der Hotelier und wischte sich mit dem verfleckten Taschentuch die Stirn. »Ruben wollte gestern ausgehen, was sie halt so tun, in Zürich, am Wochenende, in seinem Alter. Aber ich habe hier im Hotel übernachtet und ihn noch gar nicht gesprochen.«

»Könnte er zuvor noch auf dem Boot gewesen sein?«, bohrte Martin weiter. Als Engler die Achseln zuckte, schob er seine Visitenkarte am Wasserglas vorbei, das er nicht angerührt hatte. »Ihr Sohn soll sich bei uns melden.« Dann fixierte er Engler. »Und wo waren Sie selbst in der vergangenen Nacht?«

»Ich bin nach dem Dinner direkt hierhergekommen, das wird Ihnen das Personal sicherlich bestätigen.« Dann erzählte er, wie er den Abend verbracht hatte. Im Restaurant des Seebads Enge, Muscheln und anschließend Fondue, ein geschäftlicher Anlass. Spätestens am nächsten Tag, versprach er, habe Rosa alle Namen und Telefonnummern der entsprechenden Zeugen in ihrem Postfach.

Sie blickte auf Englers leicht zittrige Hand, die mit dem Löffel in der sich auf‌lösenden Crema des zweiten Espressos rührte. Und war irritiert: Das Seebad Enge befand sich in unmittelbarer Nähe zum Hafen. »Geht es Ihrer Frau schon besser?«, erkundigte sie sich dann.

Sein Mund erstarrte, aber nur kurz.

»Wir hatten sie ja halb erfroren aus dem See gezogen.«

»Sie ist … sie erholt sich noch.« Eine Schiffsglocke schellte auf dem Fluss. »Aber das ist eine andere Geschichte.«

»Was hältst du von ihm?«, fragte Martin, als sie wieder vor dem Hotel standen, auf der Brücke von zuvor, die breit war wie ein Platz. Die Marktstände, denen sie ihren inoffiziellen Namen Gemüsebrücke verdankte, waren bereits abgebaut.

Rosa zuckte die Achseln und blickte zum Schwanen zurück. »Komm, wir gehen ein bisschen weiter weg.« Sie liefen zum entgegengesetzten Brückenrand. »Engler scheint mir einerseits ziemlich überheblich, andererseits hat er auch etwas Labiles an sich.« Sie blickte auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche und dann weiter zu der nächsten, schmaleren Brücke flussabwärts, schwer beladen mit Erwartungen in Form von unzähligen Liebesschlössern. »Aber ich kann verstehen, dass er wütend und traurig ist, nachdem er sein Boot verloren hat.« Ihr fiel ein, dass beinahe unanständig viele Schaulustige am Hafen gewesen waren. »Was denkst du, würde es eigentlich Sinn ergeben, die privaten Videos der Passanten auszuwerten?«

»Zu aufwendig.« Martin bückte sich und warf ein paar Steinchen über das Geländer. Sogleich zogen die größer werdenden Kreise die Aufmerksamkeit einiger gründelnder Blesshühner auf sich. »Bis die gesichtet sind – dafür fehlt uns das Personal und die Zeit. Zu schade, dass es die Überwachungskameras am Seebecken nur in den Sommernächten gibt. Sowieso, für uns ist viel relevanter, was geschah, bevor das Feuer ausbrach. Den Rest werden die Brandermittler schon herausfinden.«

»Ich kippe gleich um vor Hunger«, sagte Rosa und zeigte auf den Imbissstand in der Mitte der Brücke, ein gläserner Würfel wie ein Aquarium, aus dem es verführerisch duftete. »Wollen wir uns kurz was holen?«

Während sie bestellte, Gözleme mit Spinat und Hirtenkäse, rief Martin vor der Tür in der Zentrale an, die ihn schon mehrmals zu erreichen versucht hatte. Aus einem Radio auf dem Regal über der Küchenzeile kamen orientalische Klänge. Die Verkäuferin stellte Rosa wortlos, aber mit einladender Geste ein Gläschen Tee hin – um die Wartezeit zu verkürzen. Er schmeckte stark und süß. Dann hob sie das feuchte Tuch an, das die silberne Ofenform bedeckte. Ihre runzeligen Hände formten die Kugeln, zogen den elastischen Teig mit sicheren, lange schon perfektionierten Bewegungen auseinander.

»Es gibt Neuigkeiten«, sagte Martin, der unbemerkt hinter sie getreten war. Seine Stimme klang elektrisiert.

»Schieß los«, antwortete Rosa und umschloss das Teeglas, um ihre kalten Fingerspitzen zu wärmen.

»Die Pistole, die ihr im Hafenbecken gefunden habt. Wir haben Hinweise, dass sie in Verbindung zu einem alten Fall stehen könnte, er wurde nie gelöst.« Martin wischte über sein Tablet. »Erinnerst du dich? Der Mord an einer iranisch-britischen Familie, auf einem Waldplatz bei Annecy, in den französischen Alpen, nahe Genf. Eine mysteriöse Geschichte.«

Bilder stiegen in Rosa auf. Dunkler Wald und eine zerklüftete Straße den Hang hinauf, ohne Gelegenheit zur Umkehr. Ein abgelegener Parkplatz an der Baumgrenze, eine tödliche Sackgasse. »Haben nicht die beiden Kinder überlebt?«

»Lass mich nachsehen … Eines nur sehr knapp. Dem einen Mädchen wurde zuerst in die Schulter geschossen und dann der Kolben der Pistole in den Schädel geschlagen. Das andere versteckte sich im Fußraum unter dem Rock der toten Mutter, einer iranischen Zahnärztin. Es hat nur Schreie gehört, aber nichts gesehen.« Er vergrößerte die Akte. »Am Tatort wurden die Leichen der Eltern, der Großmutter und eines weiteren Mannes gefunden, der mit dem Fahrrad unterwegs war. Alle vier mit derselben Waffe ermordet, 25 Patronenhülsen konnten sichergestellt werden. Sie scheinen ziemlich genau zu der Parabellum aus dem See zu passen. Eine alte Schweizer Armeepistole. Doch Vorsicht, es ranken sich zig Verschwörungstheorien um das Massaker. Der Vater war in einem Atomkraftwerk beschäftigt.«

»Madame?«, winkte die Verkäuferin.

Rosa nahm einen dampfenden Pappteller entgegen, darauf ein halbmondförmiger Teigfladen, in schmale Stücke geschnitten. »Du bedienst dich«, sagte sie und kostete. Pinienkerne knackten in der Füllung aus gedünstetem Blattspinat mit Knoblauch, Zwiebeln und zerbröseltem Hirtenkäse. Dazu ein Hauch von geriebener Zitronenschale, die den Geschmack abrundete. »Und was bedeutet das für unseren Fall?«, fragte Rosa. Zum Glück schlugen ihr Tatortbilder und morbide Themen nicht auf den Magen. Oder zumindest nicht sofort.

»Die Motive«, fuhr Martin fort, »blieben damals ebenso im Dunkeln wie der Verbleib der Pistole.« Er griff nach dem letzten Stück Teigfladen, das Rosa ihm rübergeschoben hatte. »Die französischen Kollegen werden eine Patronenhülse zum Abgleich ins forensische Institut schicken.« Martin wischte sich die Finger an einer Serviette trocken und entsperrte sein Telefon. »Wir kümmern uns zuerst um die Identität der Toten vom Hafen.« Die Art, wie sich seine Stirn in Falten legte, kannte Rosa schon. So sah er aus, wenn er sich sorgte – oder etwas Unangenehmes erledigen musste. »Die Forensik hat ein verkohltes Telefon in den Trümmern sichergestellt. Es gehört einer gewissen Iva Schwarz. Ihre Mutter erwartet uns.«