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D as Architekturbüro lag in einer Gegend der Stadt, in der es im Frühling Kirschblüten schneite und die Straßen nach Frauen benannt waren: Bertastraße, Hildastraße, Martastraße, Erikastraße, Gertrudstraße. Am Ende einer Allee erhob sich das Eingangsportal zum Friedhof Sihlfeld, der sich über mehrere Blöcke zog. Letzte Ruhestätte und Rückzugsort, nicht nur für Füchse und Rehe, die nachts zwischen den Grabmälern umherstreif‌ten, sondern tagsüber auch für menschliche Flaneure.

An diesem frühen Samstagabend aber gingen die Menschen eiligen Schritts vorbei, beladen mit Einkäufen fürs Wochenende. Kälte glitzerte auf dem Asphalt. »Hier müsste es sein«, sagte Martin und deutete auf den auf‌fälligen Neubau, der auf dem Gelände einer ehemaligen Autowerkstatt entstanden war. Ein Turm aus weiß strahlendem Beton, der sich erst seit Kurzem in den Himmel schraubte. Zu den Zeiten, als der große Verbrennungsofen im alten Krematorium noch in Gebrauch war, wäre er undenkbar gewesen. An manchen Tagen regnete es früher so viel Asche aus den Kaminen, dass am Albisriederplatz die Wäsche nicht im Freien getrocknet werden konnte und die Kinder zum Spielen drinnen bleiben mussten.

Die obersten beiden Etagen des Turms leuchteten taghell, obwohl eigentlich kein Arbeitstag war. Auf ihr Klingeln hin öffneten sich die beiden Flügel der gläsernen Tür automatisch, und Rosa und Martin betraten den geräumigen Lift. In der komplett verspiegelten Innenkabine betrachtete Rosa das Bild, das sie beide abgaben. Martin wirkte wie ein Fahnder im Sonntagskrimi, mit dem Dreitagebart, den engen Jeans und der Aura von jemandem, der immer auf dem Sprung war. Er roch nach einer Mischung aus Leder, Menthol-Zigaretten und, Rosa kam kein besserer Vergleich in den Sinn, Babypuder … Die Anzeige über dem Ausgang sprang auf die Sieben, sie waren angekommen.

War der Turm schon von außen ein Blickfang, so im Innern erst recht. Schlichte Designermöbel, wie sie im Fall des Falles auch nach vielen Jahren Gebrauch jedem Liquidator ein gutes Geschäft bescheren würden. Noch mehr Sichtbeton, und statt mit Treppen waren die beiden Etagen des Penthouses über eine sich windende Rampe mit geringer Neigung verbunden.

»Fleur Rochat ist noch in einer Besprechung«, sagte eine der Architektinnen, die sich um ein Modell versammelt hatten. »Aber sie hat angekündigt, dass Sie kommen. Darf ich Ihnen schon mal etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Tee? Wasser?«

»Keine Umstände, wir warten«, sagte Rosa und nahm in einem der Sessel Platz, die im Empfangsbereich arrangiert waren. Doch Martin blieb bei dem Modell stehen, das die Gegend um den Hauptbahnhof im Kleinformat nachstellte. Die Bahnhofshalle war zu erkennen und etwas nordwestlich davon das historistische Landesmuseum. Neu waren aber eine große Überbauung auf dem Gelände des Busbahnhofs sowie zwei schmale Hochbahnen, die beim Sihlquai zu einem Ypsilon zusammenkamen und ein Stück dem Fluss folgten, um dann am Hauptbahnhof in einem Tunnel unter den Gleisen zu verschwinden.

»Wir nennen es Urban Utopia«, sagte die Architektin zu Martin, die sich als Anne vorstellte und ihm damit nahtlos das Du anbot. Die Arbeitsgruppe löste sich auf, die zumeist jungen Leute verteilten sich wieder auf ihre Plätze im warmen Schein der Artemide-Lampen. Rosa fragte sich, ob das wohl an ihnen lag.

»Und, Anne, was ist das – eine Autobahn für Fahrräder?« Martin beugte sich über die weiße Landschaft. Rosa musste an die Modelleisenbahn denken, die ihr Vater über Jahre hingebungsvoll gepflegt hatte, vielleicht hingebungsvoller als seine Ehefrau.

»Das trifft es eigentlich ziemlich gut«, antwortete Anne mit einem Lächeln und zog einen filigranen Zeigestock auseinander. Sie fuhr die Strecke des Ypsilons damit ab, die eine Achse vom Escher-Wyss-Platz herkommend und die andere von der anderen Seite der Limmat, wo bereits heute ein Fahrradweg am Oberen Letten entlangführte. Dann erzählte sie, dass es in den Sechzigerjahren – auf dem Höhepunkt der Automobileuphorie – tatsächlich schon mal ein ähnliches Projekt gegeben habe. Mehrspurig befahrbare Hochbahnen, pulsierende Fließbänder für Autos, die in die Innenstadt führten, ein wenig wie in Fritz Langs Film Metropolis . Es war die Zeit, als sich die großen Zentren einen Wettlauf um den Ausbau des Nationalstraßennetzes lieferten und man in Zürich eine komplette Überdachung der Flüsse mit Expressstraßen vorsah. Denn Mobilität bedeutete in einem zerklüfteten Alpenland, in dem nur ein kleiner Teil der Fläche überhaupt zu besiedeln war, eben auch Macht. Aber noch mächtiger sei die Bürgerbewegung gewesen, die das Projekt Ypsilon am Ende verhinderte, auch wenn Teile davon bereits umgesetzt worden waren, etwa die Sihlhochstraße. Sie führte die sechsspurige Autobahn vom Stadtrand bei der Brunau über die Sihl in den Stadtteil Wiedikon hinein.

»Die innenstädtische Fortsetzung der Expressstraßen wurde aber nie fertiggestellt. Stellen Sie sich vor, wenn die beiden Flüsse komplett mit Beton überdacht worden wären. Ein städtebauliches Verbrechen«, schloss die Architektin, und ihre Wangen überzog ein roter Hauch.

Idealismus gehörte hier wohl ins Pflichtenheft, dachte Rosa bei sich, musste er vielleicht auch, wenn man freiwillig das ganze Wochenende arbeitete. Wobei die Vorstellung schon traurig war, man hätte den Flüssen den Himmel genommen, der sich in ihnen spiegelte.

»Und was ist jetzt beim neuen Projekt anders?« Martin räusperte sich. »Ob für Auto oder Fahrrad, Sie bauen auch über den Fluss.«

Sein Ton war zwar zurückhaltend, aber Rosa wusste, dass er als passionierter Radfahrer bestimmt Sympathien für das Projekt hegte. Und sie beschlich ein leises Gefühl, dass es ihm auch mit Anne so erging.

»Ja, schon«, sagte diese gerade in Martins Richtung. »Aber das ist doch kein Vergleich – der Fahrradweg ist viel graziler, braucht wenig Platz und macht keinen Lärm. Außerdem bekommen Sie die Stadt der Zukunft obendrein.« Die Architektin wandte sich wieder dem Modell zu. In druckreifen Sätzen beschrieb sie die geplante Blockrandbebauung: gemischtes Wohnen und Arbeiten, lokales Gewerbe sowie Räume, die sich den Menschen anpassten. Nicht in Beton gegossene Vorstellungen eines Ideals der Kleinfamilie, sondern lebendige Gebilde, die mit ihren Bewohnern wachsen würden und irgendwann auch wieder schrumpfen.

»Wo führt der Tunnel hin?« Rosa war nun doch neugierig geworden. »Direkt zur Bahnhofstraße? Das würde einige Probleme lösen, zumindest mit dem Fahrrad.«

Anne antwortete, dass es für die Räder zwar auch Platz gäbe, aber dort primär der wichtigste Hub für das erste unterirdische Gütersystem der Schweiz geplant sei: Cargoloads. Unbemannte, selbstfahrende Transportfahrzeuge, die rund um die Uhr verkehrten.

»Ich dachte immer, das Land sei gebaut«, sagte Rosa. Sie meinte den Siedlungsbrei, der sich in den letzten Jahrzehnten auf den freien Flächen ausgebreitet und das Mittelland überzogen hatte.

»Über der Erde stimmt das.« Die Architektin deutete auf eine Visualisierung an der Wand. Die Karte zeigte im Querschnitt die Stadt und den Untergrund darunter, durch den sich ein System von Gängen und Tunneln zog. »Doch Cargoloads braucht viel weniger Platz. Außerdem werden sowieso nur die Metropolitanregionen auf der Achse Genf, Bern, Basel und Zürich miteinander verbunden. Dort lässt sich gut graben. Alles andere ist komplett unrentabel.«

»Danke, Anne, ich übernehme jetzt«, meldete sich eine Stimme in anschmiegsamen Klangfarben, die die entschiedenen Worte abmilderte, untermalt von einem leicht französischen Akzent. Fleur Rochat trat aus ihrem Sitzungszimmer, gefolgt von einem Mann, den sie als Boris Keller vorstellte, ihren Partner von Cargoloads, und außerdem Immobilienmanager. »Bekannt für seine innovativen Nutzungskonzepte in Stadtteilen, die sich seit dem Rückzug der Industrie im Wandel befinden«, schloss sie.

Keller musste in ihrem Alter sein, also irgendwo in den Fünfzigern. Mit einem entschuldigenden Blick auf die Uhr lächelte er in ihre Richtung, zog eine Schiebermütze über seinen schimmernden Schädel und klappte den Ohrenschutz nach unten. Ein knappes Wir-hören-uns-später in Rochats Richtung, dann verabschiedete er sich.

»Nach Ihnen«, sagte Fleur Rochat und machte eine einladende Armbewegung. Auf dem Tisch des Sitzungszimmers standen eine Karaffe mit Wasser und frische Gläser bereit, doch anders als Anne verzichtete sie darauf, ihnen etwas anzubieten. Stattdessen setzte Rochat sich ans Kopfende des Besprechungstisches, die Wand im Rücken und die Tür im Blick, und wies ihnen einen Platz im Mittelfeld zu. »Es ist gerade eine intensive Zeit«, sagte sie entschuldigend, aber ohne Bedauern. »Im Februar kommt Urban Utopia vor das Stimmvolk. Wir haben Jahre in das Projekt investiert. Es ist ein Filetgrundstück, auf das Bauherren seit Jahren warten.« Sie fuhr fort, nicht ohne Stolz. »Es ist äußerst selten, dass die Stadt so zentral gelegene Flächen für Wohnbauprojekte vergibt, aber wir konnten den Gemeinderat mit einer breiten Investoren-Beteiligung überzeugen, und nicht zuletzt dank der Kooperation mit Cargoloads. Aber deswegen sind Sie nicht hier. Was kann ich für Sie tun?«

Rosa entschied, schnell und klar auf den Punkt zu kommen. Sie schilderte Rochat, was sich in der Nacht zuvor am Hafen abgespielt hatte, dabei gab sie sich Mühe, möglichst neutrales Vokabular zu verwenden, auch in Zusammenhang mit der toten weiblichen Person. »Wissen Sie, wo sich Ihre Tochter derzeit aufhält? Wir müssen dringend mit ihr sprechen.«

»Iva?« Fleur Rochat lachte trocken. »Wahrscheinlich überbrückt sie irgendwo die Zeit, bis die Klubs wieder aufmachen.« Sie stützte betont entspannt das Kinn auf die Hand. »Warum?«

»Wir haben Hinweise darauf, dass Ihre Tochter sich gestern Abend am Hafen Enge aufgehalten haben könnte«, sagte Rosa. »Ihr Telefon wurde dort gefunden.«

»Ach so.« Rochat blickte zu Boden, als müsse sie sich sammeln. »Ich hab mich schon gewundert, warum es ausgeschaltet ist. Gestern am frühen Abend war Iva jedenfalls noch zu Hause. Sie hat ihren Plattenkoffer mitgenommen. Ich glaube, sie wollte zu einem Auf‌tritt.« Rochat knetete sich die Nackenmuskulatur. »Ist ihr etwas zugestoßen? Muss ich mir Sorgen machen?«

Rosa erklärte Fleur Rochat ruhig und bestimmt die Vorgehensweise in einem solchen Fall. So wie sie es immer tat, wenn sie bei der Seepolizei nach Ertrunkenen suchen mussten. Damit die Angehörigen sich gedanklich wenigstens an festen Abläufen festhalten konnten, damit sie wussten, dass etwas unternommen wurde. Und sich weniger alleingelassen fühlten. »Wären Sie bereit, uns eine DNA -Probe Ihrer Tochter mitzugeben für den genetischen Abgleich mit der toten Person?«, fragte Rosa.

Rochats ebenmäßige Gesichtszüge entgleisten. Ihre Ängste mussten zwangsläufig in die Richtung gehen, die keine Mutter sich vorstellen wollte.

»Die Zahnbürste Ihrer Tochter, ein paar Haare, das reicht schon«, erklärte Martin leise. »Dann haben wir morgen Gewissheit.«

»Selbstverständlich«, sagte Rochat und stand auf. Sie war gerade im Begriff, den Raum zu verlassen, als sie plötzlich zur Wand kippte. »Mir ist nur etwas schwindelig«, wehrte sie aber sogleich ab, als Martin zu ihr trat, wobei ihre Stimme die Tonart wechselte.

Vor der Tür meldete sie sich kurz bei ihren Mitarbeitern ab, und wäre nicht der leicht verlangsamte Gang gewesen, alles hätte normal gewirkt. Martin bot an, sie zu ihrer Wohnung am Idaplatz zu fahren. Ein paar Minuten später nahm die Architektin im Fond des Dienstwagens Platz und lehnte den Kopf an die Scheibe. Die Straßenlaternen warfen zerschnittenes Licht auf ihr Gesicht. Rosa überlegte, ob es hilfreich wäre, die Erwartungen von Fleur Rochat an die mögliche Realität anzupassen. Oder doch besser zu hoffen, dass sich alles zum Guten wendete. Doch selbst wenn, dann wäre die Frau von der Amethyst noch immer tot – sie wäre einfach die Tochter einer anderen Mutter.

»Ich bring die noch kurz bei Fisler vorbei«, sagte Martin eine Viertelstunde später und verstaute den Plastikbeutel mit der Zahnbürste im Handschuhfach. »Und anschließend Pizza, nicht?« Er streichelte dabei über Rosas Wange. Seine Finger hinterließen eine unsichtbare Spur. Ein mulmiges Gefühl beschlich Rosa, sie dachte an das Treffen am nächsten Tag im Bistro. Und daran, dass sich automatisch die Frage stellen würde, ob sie auch die Nacht zusammen verbrachten, wenn sie jetzt mit Martin essen ging. Keine Ahnung, wie sie ihm erklären sollte, was mit ihr los war. Sie wusste selbst nicht, warum sie Leos Rückkehr so durcheinanderbrachte. Eigentlich war das Kapitel in ihrem Leben abgeschlossen. Und dann dachte sie an duftenden Teig, der im Steinofen knusprige Blasen warf …

»Ja, gut«, gab sie sich einen Ruck. »Aber ich muss dich warnen –« Sie griff nach Martins Hand, die sich nun schon wieder vertrauter anfühlte. »Für viel mehr bin ich heute nicht zu gebrauchen.«

»Buon appetito«, sagte der Kellner, als er die Vorspeise brachte. Draußen fuhr gerade ein Zug mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof ein, der über lange Treppen und Aufzüge mit der darüber liegenden Hardbrücke verbunden war. Rosa genoss das Gefühl, im Kerzenschein zu sitzen, während die Leute auf den Bahnsteigen warteten, mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen.

»Schmeckt wie am Meer«, sagte Martin. Der pulpo war nicht zu gummig und nicht zu weich. Er war perfekt.

»Ja, nicht?« Rosa schenkte Rotwein nach. Sie hatte ihm die Vorspeise auch ans Herz gelegt. Obwohl er eigentlich darauf verzichten wollte. Ebenso wie auf den Hauswein, der in der Flasche kam und von dem nur so viel bezahlt werden musste, wie auch getrunken wurde. Er passte zum vollen Geschmack des Tintenfisches und den filetierten Orangen mit Fenchel.

»Hat Ryser schon mit dir gesprochen?« Martins Frage kam unerwartet.

»Du meinst, über uns?« Rosa ließ die Gabel sinken.

»Warum das denn?« Martin lachte. »Nein, wegen der vakanten Stelle, meine ich. Stefan Balz, der mit der komischen Brille, erinnerst du dich? Ich habe am Hafen für ihn Protokoll geführt. Er war immer wieder krankgeschrieben und wechselt nun bald die Abteilung. Sie sucht nun einen neuen Assistenten. Oder eine Assistentin.«

»Nein, sagt mir nichts. Außerdem bin ich rundum glücklich auf dem See.« Das war vielleicht ein wenig geschwindelt. Seit dem vergangenen Sommer war ihre gewohnte Ordnung aus dem Lot geraten, nicht nur privat. Und doch scheute sie sich, es sich wirklich einzugestehen.

»Ganz, wie du meinst«, sagte er, ohne vom Teller aufzusehen, von dem er die Reste der Sauce mit Weißbrot auf‌tunkte. »Ich fände es jedenfalls schön, wenn wir uns öfters bei der Arbeit sehen würden.«

Sie griff nach dem Weinglas, hielt es vor die Kerze und sah in den rubinroten Schimmer. Auch sie schätzte die Nähe zwischen ihnen, die sich durch die beruf‌liche Verbindung ergab. Und war froh, dass Martin ein Leben nach Dienstplan ebenso kannte wie die Stille, die sich ausbreitete, wenn die Schweigepflicht zwischen einem Paar stand. Vielleicht war es diese Vertrautheit, das gegenseitige Mitwissen, das sie anzog. »Was hältst du davon, wenn wir den Wagen stehen lassen?«, fragte Rosa mit vielsagendem Augenaufschlag. Dann schenkte sie Wein ein und bestellte den warmen Schokoladenkuchen mit flüssiger Füllung und einem Hauch Chili im Innern.

Kurz vor Mitternacht verließen sie beschwingt das Lokal, Arm in Arm, und als sie die Flaniermeile am Eisenbahnviadukt entlangspazierten, zog Rosa Martin kurz entschlossen an die Bruchsteinmauer. Sie umschloss seinen Kopf mit den Händen und küsste ihn so wie ganz am Anfang: ohne Furcht vor Verletzung – und ohne Furcht vor dem, was kommen würde. Denn sie war sich mit einem Mal sicher, dass es sehr wohl möglich war, mit Sex auch die eigenen Gefühle wieder zu sortieren.