»W ir können uns mithilfe der Zeugenaussagen zwar ein Bild machen …« Martin erhob sich und blickte aus dem hohen Fenster der Cafeteria. Draußen auf dem Bahnviadukt ratterte ein Zug durch. »Aber es ist ein sehr wackliges Bild.« Zudem habe der Verdächtige, ein stadtbekannter Obdachloser, auf einen Anwalt verzichtet.
»Kann er das überhaupt?«, erkundigte sich Rosa, froh darüber, dass sie gleich in die Arbeit eingestiegen waren und das Treffen mit Leo dadurch in den Hintergrund rückte.
»Kommt drauf an, was der Tatvorwurf ist.« Martin setzte sich wieder und übermalte mit einem Kugelschreiber die Wörter auf seinem Notizblock. »Bei vorsätzlicher Tötung braucht er zwingend eine Verteidigung, wenn die Staatsanwaltschaft ihn befragt. Für eine erste polizeiliche Vernehmung aber nicht.«
Dann erzählte er, wie eine Streife in der Nähe des Hafens bei dem Verdächtigen verschiedene Gegenstände beschlagnahmt und ihn daraufhin festgenommen hatte. Einigen Bootshaltern war der Mann schon früher aufgefallen, der regelmäßig auf der Parkbank am Hafenbecken schlief, insbesondere, nachdem wiederholt Dinge von den Booten verschwunden waren. Ob sich ein Tatverdacht wegen Brandstiftung gegen Karl Jost erhärten ließe, das mussten sie erst herausfinden. »Sehr interessant aber«, sagte Martin, »die Parabellum war voll mit seinen Fingerabdrücken.«
»Du denkst, er könnte mit dem Vierfachmord in Frankreich in Verbindung stehen?«, fragte Rosa verblüfft.
»Nicht zwingend, aber wir müssen in alle Richtungen denken.«
»Wurde denn mit der Waffe auch geschossen?«
»Nein, das nicht. Zumindest schon lange nicht mehr.«
Karl Jost saß in der Arrestzelle am Mühleweg. Überall frischer Sichtbeton, wie in einer Neubau-Genossenschaft, selbst die schmale Pritsche hatte etwas von einem Designsofa, darüber ein hohes, schmales Fenster. Er blickte müde auf, als Rosa und Martin ihn baten, sie zu begleiten. Handschellen klickten, und dann schlurfte der Clochard an ihrer Seite durch die weitläufigen Flure, wobei er den Geruch der Straße verströmte, nach Alkohol und Ammoniak und vor Dreck steifen Kleidern. Sie führten ihn ins Vernehmungszimmer, wo er sogleich nach einer Zigarette fragte.
»Ist leider verboten hier«, sagte Martin.
»Kann ich wenigstens eine haben für nachher?«, ließ Jost, dem sichtlich unwohl in seiner Haut war, nicht locker.
Unter Rosas fragendem Blick kramte Martin ein zerknittertes Päckchen seiner Menthol-Zigaretten hervor und legte es vor den Clochard auf den Tisch. Als dieser danach greifen wollte, zog er es wieder zurück. »Was ist am Hafen passiert am Freitagabend?«
»Ich weiß es nicht, ich, ich …« Jost geriet ins Stottern. Er habe sich wie gewöhnlich so gegen 21 Uhr für die Nacht eingerichtet, leere Flaschen mit heißem Wasser gefüllt. »Die lege ich mir in den Schlafsack, wenn es gegen null geht«, sagte er nicht ohne Stolz. »Dann hab ich ein Gute-Nacht-Bierchen getrunken und bin eingeschlafen. Ich bin erst mit dem Feuer aufgewacht, der Lärm der Einsatzfahrzeuge war brutal.« Er fasste sich an die Ohren. »Nirgends auf der Welt sind die Sirenen so laut wie in der Schweiz. Ist doch seltsam, in so einem kleinen Land, oder? Als ob der Staat seine Bürger taub machen will. Um zu zeigen, dass er ihnen überlegen ist.«
»Das hat Ihnen früher auch nichts ausgemacht«, entgegnete Martin. »Waren Sie nicht bei der freiwilligen Feuerwehr?«
Jost machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist schon so lange her, fast nicht mehr wahr.«
»Und die hier?« Martin nahm verschiedene Fotos aus einer Mappe. Auf einem war eine brennende Scheune zu erkennen, dahinter ein nächtliches Kornfeld irgendwo auf dem Land. Die nächsten zeigten verschiedene Perspektiven eines bis auf die Karosserie ausgebrannten Lastwagens. Dann weitere verkohlte Fahrzeuge.
»Man kann nicht für dasselbe Verbrechen zweimal bestraft werden«, sagte Jost, und seine Augenbrauen schoben sich zusammen, bis sie beinahe einen geraden Balken bildeten.
»Der Feuerteufel vom Tösstal.« Martin reichte dem Clochard das Zigarettenpäckchen. »Damals haben Sie auch erst spät gestanden – und erst unter erdrückender Beweislast.«
»Haben Sie denn etwas gegen mich in der Hand?« Josts Ton wurde angriffiger.
Martin erhob sich und trat näher an ihn heran. Dann machte er eine ausladende Geste. »Sie sind jetzt seit ein paar Minuten hier. Schon ist die Luft durchsetzt von Ihrem Atem, Ihre Zellen schweben unsichtbar umher, Ihre Fingerabdrücke kleben auf der Tischplatte und unter der Sitzfläche des Stuhls, die Sie umklammern.« Er ließ den Arm wieder sinken. »Wenn Sie an dem Abend auf dem Steg waren, dann werden wir das rausfinden. Da können Sie Gift drauf nehmen.«
Der Clochard inspizierte die dunklen Ringe unter seinen Daumennägeln, als Martin fortfuhr. »Vielleicht haben Sie auf den Booten wieder einmal nach etwas Wertvollem gesucht. Und dabei versehentlich den Brand ausgelöst, muss ja nicht mal Absicht gewesen sein. Und dann haben Sie es mit der Angst zu tun bekommen.« Er tippte auf die Tatortbilder der Brandserie im Oberland. »Mit Ihrer Vergangenheit, kein Wunder. Haben Sie sich lieber aus dem Staub gemacht, statt die Feuerwehr zu alarmieren. Das hat nämlich erst das Personal vom Seebad gemacht, als denen der Geruch beim Aufräumen aufgefallen ist, noch vor der Explosion. Dumm nur, dass sich noch jemand auf dem Boot befunden hat. Vielleicht haben Sie die junge Frau im Schlaf überrascht. Noch eine Versuchung mehr? Und dann ein Feuer, das alle Spuren frisst?«
Unter seinem zotteligen Bart wurde Jost immer bleicher. »Sie wollen mir das in die Schuhe schieben? Tatsächlich? Einen Mord? Warum sollte ich das tun? Ich bin doch kein Vergewaltiger, nur weil ich auf der Straße lebe. Noch nie habe ich mir so was zuschulden kommen lassen«, sagte Jost lauter werdend, wobei sich einige Tröpfchen Spucke in seinem Bart verfingen.
»Hilft Ihnen das auf die Sprünge?« Martin zog weitere Fotografien aus der Mappe. Sie zeigten allesamt Gegenstände aus dem Einkaufswagen des Clochards. Tüten mit Marshmallows und Lakritze, eine Taschenlampe, zerlesene Bücher, eine Flasche braunen Rum, noch eine Flasche braunen Rum. Ein paar Dosen mit Süßgetränken. Und zwei Benzinkanister.
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Die Sachen hat doch niemand vermisst«, verteidigte sich Jost. »Ich habe immer nur genommen, was ich gebraucht habe, um nicht zu frieren. Zucker und Alkohol, damit kommst du durch den Winter, gibt nichts Besseres, um zuzunehmen. Die haben doch alle genug.«
»Und ich soll Ihnen wirklich glauben, dass Sie mit dem Brand nichts zu tun haben?«, antwortete Martin. »Das Unschuldslamm nehme ich Ihnen nicht ab. Ich stelle mir das so vor: Sie verschaffen sich Zutritt zu einem der Boote. Die Benzinkanister stehen da, verführerisch und randvoll. Der alte Reflex erwacht, nicht wahr? Es allen mal zu zeigen! So richtig! Eine deutliche Reaktion erhalten. Für jemanden, der im Schatten lebt, muss das faszinierend sein. Wenn Sie nur nicht die schlafende Frau übersehen hätten.«
»Ich – war – das – nicht«, sagte der Clochard mit Nachdruck. Dann sackte er zusammen, als laste plötzlich das ganze Gewicht der Welt auf ihm.
»Und was ist damit?«, hakte sich Rosa ein und legte den Beutel mit der Pistole auf den Tisch. Sogar der Griff aus Elfenbein war nach den Untersuchungen wieder trocken und glänzend. »Kommt die Ihnen bekannt vor?«
»Na so was, Sie haben die also.« Ein kurzer Ausdruck der Erleichterung huschte über Josts Gesicht. Er habe sie am Hafen in einer der Mülltonnen gefunden. Der Besitzer, der müsste ihm eigentlich einen Finderlohn geben.
»Ah ja. Woher wissen Sie, wem sie gehört, wenn sie in der Mülltonne lag?«, fragte Martin nach.
»Vielleicht war die Mülltonne auch auf einem der Boote«, sagte Jost und rutschte auf dem Stuhl umher.
»Auf welchem Boot?«, wollte Martin wissen.
»Kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Und wofür haben Sie die Pistole gebraucht?« Martin schob die umgedrehten Fotografien vor sich her, als würde er Memory spielen. »Die hilft ja nicht gegen die Kälte …«
»Na doch«, widersprach Jost. »Wissen Sie denn nicht, was so eine Parabellum wert ist?«
»Doch. Hab davon gehört«, brummte Martin, ohne aufzublicken. »Wem gehört die Waffe? War sie auf der Amethyst ?«
Jost machte dicht. Sagte nur noch, er habe keine Ahnung, was sie meinten. Er könne sich an keine Namen erinnern. Auch nicht von Schiffen. Die nächste Viertelstunde über versuchte Rosa, etwas Brauchbares aus ihm herauszubekommen. Sanfter, aber doch gezielt. Jost wurde zugänglicher, allerdings waren seine Schilderungen des Abends vor dem Brand nicht nur undeutlich, sondern widersprachen sich auch. Mal kam etwas Neues hinzu, mal fiel etwas anderes raus. Er habe noch Essen vom Imbiss geschenkt bekommen, von einem jungen Mann mit Strickmütze, meinte Jost sich etwa zu erinnern. Dann sei ein weiterer Mann vom Steg hergekommen. Und noch ein zweiter, vielleicht sei es aber auch derselbe gewesen. Je genauer Rosa nachfragte, ob er denn nicht geschlafen habe, wie zuvor ausgesagt, und versuchte, das Gehörte zusammenzufassen, umso weniger stimmte die zeitliche Abfolge mit seinen Beschreibungen überein.
»Na ja, eben, einen Finderlohn hätte ich schon genommen«, sagte der Clochard, als sie wieder bei der Pistole angelangt waren. »So was darf man ja nicht einfach rumliegen lassen.« Doch als es in der Brandnacht plötzlich von Polizisten wimmelte, habe er es mit der Angst zu tun bekommen … »Einen wie mich würde man auf der Stelle festnehmen. Da habe ich sie ins Wasser geworfen.« Seine Augen wurden wässrig. »Aber das Feuer, das lasse ich mir nicht anhängen.«
»Dann sind Sie bestimmt bereit, uns eine Probe hierzulassen«, antwortete Martin und zog ein Plastikröhrchen hervor.
Jost sperrte ohne Weiteres den Mund auf, um sich eine Speichelprobe abnehmen zu lassen. »Ein Schnaps wäre jetzt gut«, murmelte er dann und hielt ihnen seine ausgestreckten Finger hin. Sie zitterten. Rosa hätte ihm gerne einen ausgegeben. Doch mehr als Kaffee aus dem Automaten gab es nicht.