I n der Dunkelheit wirkten die Häuser am Idaplatz wie überdimensionale Puppenstuben, im Vorbeigehen konnte man in die Intimität der hell erleuchteten Küchen schlüpfen, in denen Menschen beim Abendbrot saßen. Ein moderner Bau stach mit seinen anthrazitfarbenen Kacheln aus den Jahrhundertwende-Fassaden heraus. Zumindest auf der Vorderseite, denn hinten, etwas versetzt, war der Block mit einem Altbau verbunden. In Fleur Rochats Wohnzimmer schien gedämpftes Licht hinter den bodentiefen Fenstern, als würde sie Wache halten. Die Gegensprechanlage rauschte, und das Schloss sprang auf, dann stiegen Rosa und Martin hinauf in das fünfte Stockwerk. Vor der Wohnung angekommen, klopften sie leise an. Fleur Rochat riss die Tür auf. »Sagen Sie jetzt nichts.« Es war, als ob ihre Gesichtszüge in sich zusammenfallen würden, bei gleichzeitigem Befehl zur Erhaltung der Systeme.
»Leider haben sich unsere Befürchtungen bestätigt«, erwiderte Martin und hielt ihrem Blick stand.
Rosa wusste, dass man sich an diese Situation nie gewöhnen würde, egal, wie lange man schon diesen Job machte.
Mit leerem Blick trat Rochat zur Seite und ließ sie in die weitläufige Wohnung. An einer Kücheninsel aus gebürstetem Metall saß Boris Keller, der Mann von Cargoloads, dem sie schon im Architekturbüro begegnet waren. Vor ihm stand ein Adventskranz mit vier Kerzen, von denen keine brannte. Er stellte sich nochmals vor und reichte ihnen die Hand, sie fühlte sich an wie warmer Hefeteig vor dem Gehen. Keller legte einen Arm um Rochat, die sich auf einen Barhocker gesetzt hatte.
Rosa und Martin kondolierten und zeigten ihre Ausweise, wie es auch in diesem Fall Vorschrift war. Anschließend skizzierte Martin, was sie bislang wussten: der Brand im Hafen Enge und die übereinstimmende DNA -Probe, die leider die Identität von Iva Schwarz zweifelsfrei bestätigt hatte. Und was sie nicht wussten: die Ursache des Feuers, warum sich Iva nicht aus dem brennenden Boot hatte retten können, und mit wem sie den Abend verbracht hatte. Als er die Amethyst erwähnte, zuckte Rochat zusammen.
Martin und Rosa hatten vorbesprochen, Englers Zeugenliste vorerst nicht zu erwähnen, um zu prüfen, ob seine Angaben auch ohne Nachfrage bestätigt würden.
Tatsächlich begann die Architektin mit belegter Stimme zu erzählen: »Wir haben nur wenige Meter entfernt zu Abend gegessen … Im Restaurant des Seebad Enge. Boris, Manfred, ich.«
Rosa wechselte einen Blick mit Martin, dann fragte sie: »Woher kennen Sie Manfred Engler?«
Da Rochat stumm blieb, strich Keller ihr über den Rücken und ergriff dann das Wort. Er erzählte, dass sie drei sich seit Studientagen immer wieder begegnet waren und nun gemeinsam den Zuschlag für Urban Utopia erhalten hatten.
»Welche Rolle spielt Manfred Engler dabei?«
»Er hat sich um das Funding für das Vorprojekt gekümmert. Für die Pläne, Entwürfe und Machbarkeitsstudien, das kostet alles. Außerdem ist Manfred hervorragend vernetzt, und er wird auf dem Areal neben dem Hauptbahnhof ein neues Hotel eröffnen.«
»Er kannte auch Ihre Tochter Iva?«, wollte Rosa wissen.
Fleur Rochat nickte, fügte aber gleich hinzu, dass vor allem Manfred Englers Sohn Ruben mit Iva Kontakt habe. Die beiden hätten sich schon als Kinder gekannt, aber durch die Zusammenarbeit für Urban Utopia seien die Verbindungen zwischen den beiden Familien wieder enger geworden. »Ruben und Iva, sie … feierten manchmal zusammen, gingen auf Partys. Aber wer denkt denn an so was …« Sie verstummte.
»Könnte es sein, dass die beiden an dem Abend zusammen waren?«, fragte Rosa.
»Es könnte sein, ich weiß es nicht.« Die Architektin wirkte erstaunlich gefasst. Was aber nichts bedeuten musste, der Schock konnte zeitversetzt auftreten. Sollte Rosa eine Polizeipsychologin aufbieten? Sie suchte nach Hinweisen in Rochats Gesicht. Betrachtete die Fältchen um die dezent nachgezeichneten Lippen. Vertiefungen an den richtigen Stellen, die schön machten, weil sie den Abdruck von Freude enthielten, und auch von gelebtem Schmerz und nicht von unterdrücktem. Dennoch lag hinter dem schwarzen Lidstrich eine Eigenwelt, die verschlossen blieb.
»Wann haben Sie denn Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?«, erkundigte sich Rosa.
»Sie ist zum Umziehen nach Hause gekommen, am Freitagabend.«
»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Iva, erzählte Fleur Rochat, sei fröhlich gewesen, fast euphorisch. Wie so oft am Wochenende, bevor sie sich dann am Montag wieder verkrochen habe.
»Bis wann hat Ihr Abendessen im Seebad Enge gedauert?«, fragte Martin, der den Verlauf des Gesprächs mitnotierte.
»Ich bin gegen 22 Uhr aufgebrochen, Boris ebenfalls. Wir haben uns vor dem Seebad verabschiedet, und ich habe mir ein Taxi bestellt.«
»Und Manfred Engler?«
»Hat noch mit einem Bekannten am Nebentisch geplaudert und eine Runde Digestifs spendiert«, sagte Keller.
»Könnte er danach noch die Amethyst aufgesucht haben?«
»Das wäre möglich. Aber warum? Er setzt doch nicht sein eigenes Boot in Flammen. Besonders nicht, wenn …« Fleur Rochats Augen wurden feucht, doch keine Träne löste sich. »Ich muss sie sehen!«, sagte sie kaum hörbar.
»Das geht erst nach der rechtsmedizinischen Untersuchung«, sagte Martin. »Tut mir leid.«
So lauteten die Vorschriften. Wenn es sich tatsächlich nicht bloß um einen sogenannten »außergewöhnlichen Todesfall« handelte, sondern um einen Mord, wäre eine Identifizierung durch Angehörige zu diesem Zeitpunkt eine kriminalistische Katastrophe. Es würden zwangsläufig Spuren, Fasern oder gar Fingerabdrücke auf dem Leichnam zurückbleiben. Und da es sich bei der Hälfte aller Morde um Beziehungstaten handelte, war jeder potenziell verdächtig, der mit dem Opfer in einer näheren Beziehung stand. Ganz abgesehen davon, dass man der Mutter diesen Anblick am liebsten ganz ersparen würde.
»Dürften wir uns denn vielleicht im Zimmer Ihrer Tochter umsehen?«, fragte Rosa.
»Wenn Ihnen das hilft.« Die Architektin deutete auf eine geschlossene Tür am Ende des Flurs und erhob sich, was auch gleich eine Bewegung bei ihrem Begleiter auslöste. »Danke, Boris, schon gut«, wehrte sie ab. Worauf er sich wieder auf den Barhocker setzte, aber die Füße am Boden behielt, bereit zum Sprung.
Im Flur blieb Rochat stehen, vor einem stilisierten schwarzen Schwan, der direkt auf die nackte Wand gemalt war. »Der soll mich daran erinnern, dass sich außerordentliche Dinge nicht voraussehen lassen. Sie liegen jenseits dessen, was sich berechnen lässt. Und sind doch auf einmal, völlig überraschend, da.«
Rosa trat näher heran, um die Signatur zu entziffern. Unter dem gewundenen Hals des Vogels mit dem leuchtend roten Schnabel konnte sie ein F und ein R ausmachen. »Haben Sie ihn gezeichnet?«
»Kurz nach Ivas Geburt, als wir hier eingezogen sind«, erzählte Fleur Rochat. Früher habe sie viel gezeichnet, auch eine Weile mit Aktionskunst experimentiert und auf Fabrikwände oder mit weißem Gips überzogene Farbbeutel geschossen. Was man halt so gemacht habe, in den besetzten Häusern und leer stehenden Fabriken. »Ivas Vater hatte sich diesen Schwan gewünscht.« Sie fuhr mit den Fingerspitzen die Umrisse der Flügel auf dem rauen Beton entlang.
»Schwarz, kommt von daher Ivas Nachname?«
Fleur Rochat nickte. »Wie rasch der Schwan seine Bedeutung einlösen würde, ahnte mein Mann damals noch nicht. Bald darauf ist er dann einem Krebsleiden erlegen. Nun stehe ich wieder da. Und frage mich, wie viel mir entgangen ist. Ganz besonders in der letzten Zeit … Ich kann Iva keine Frage mehr stellen. Ihr nicht sagen, wie stolz ich auf sie bin.« Ein Tränenschleier legte sich über Fleur Rochats Augen. »Entschuldigung!« Sie öffnete die Tür, ohne in das Zimmer ihrer Tochter hineinzublicken, und ging eilig in die Küche.
Rosa trat ein und machte Licht, Martin folgte ihr. Fast noch ein Teenagerzimmer, mit Lichterkette und einem nostalgischen Prinzessinnenbett in Elfenbeinfarben. Am Rahmen des runden Spiegels steckten Fotografien. Iva, wie sie von unten in die Kamera schaute, schnoddriger Blick und perfekte Beine in dünnen schwarzen Strümpfen, unter denen die Haut schimmerte. In der Hand ein beschlagener Kupferbecher, ein Moscow Mule vermutlich. Ein Schnappschuss, wie er in beinahe jedem von Zürichs Klubs entstanden sein könnte, irgendwann zwischen Mittwochabend und Montagfrüh. Iva Schwarz hatte auf dem Bild dieselbe Präsenz wie ihre Mutter, nur in jünger und ungestümer und vielleicht, da hatte Rosa so ein Gefühl, auch unberechenbarer.
»Was meinst du«, fragte sie Martin, »sollen wir das Bild mitnehmen?«
»Wichtiger wäre ihr Rechner«, erwiderte er. »Aber ja, die Rechtsmedizin wird bestimmt auch ein Foto brauchen morgen.«
Zehn Minuten später standen sie wieder auf dem Platz vor dem Haus. Einer von Rosas Lieblingsorten im Sommer, wenn das Klackern von Boulekugeln die Luft erfüllte, und Kindergeschrei und die Gespräche auf den Sitzbänken im Schatten der Magnolienbäume. Doch auch jetzt sah der Idaplatz schön und friedlich aus. Wie nahe Glück und Unglück doch beieinanderlagen. Rosa machte ein paar Schritte von dem Haus weg und ging zu dem kleinen Brunnen. Eiskaltes Wasser strömte aus dem Rohr, sie ließ es in die hohle Hand laufen und benetzte ihr glühendes Gesicht.
»Alles okay?« Martin war neben sie getreten und blickte sie unverwandt an. »Es fühlt sich an, als wärst du da und doch nicht da.«
»Ich weiß auch nicht. War vielleicht etwas viel.« Sie wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Der Brand, eine Leiche. Eine trauernde Mutter und ihre beiden Geschäftspartner, von denen einer vielleicht ihr Freund ist, und dem anderen gehört das Boot, auf dem das Feuer ausbrach. Und dessen Frau sich ein paar Wochen zuvor umbringen wollte, aber noch lebt. Dafür ist aber die Tochter seiner Geschäftspartnerin plötzlich tot. Ich blick einfach nicht durch.«
Martin zog Rosa an sich. »Komm, wir gehen noch ins Calvados, auf ein Glas«, schlug er vor und zeigte auf die Bar an der Ecke, aus der unverkennbar der Geräuschteppich eines Fußballspiels klang.
»Ich glaub, ich brauch ein bisschen Zeit für mich allein«, sagte Rosa und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Aber wir sehen uns morgen, ja?«
»Die Obduktion, ja«, sagte Martin nun wieder nachdenklich. »Die Frau von Engler … Elenor. Wolltest du die nicht irgendwann in der Klinik besuchen?«
Kaltes Licht erhellte ihr müdes Gesicht, während Rosa in ihrem Terminkalender nachsah. »Morgen vor der Obduktion, das könnte passen.« Sie schaltete das Gerät wieder aus.
»Soll ich dich nach Hause fahren?« Martin klimperte mit dem Schlüsselbund in seiner Lederjacke.
»Danke, nicht nötig, ich will noch ein paar Schritte gehen.« Rosa zwang sich zu einem Lächeln und deutete in Richtung der Straße, die zum Friedhof Sihlfeld führte.
»Wie du willst«, sagte Martin, aber es gelang ihm nicht, seine Enttäuschung zu verbergen.