N achdem die Polizisten gegangen waren, lag Fleur Rochat lange auf dem Sofa, wie festgefroren, und starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke. Irgendwann trat Boris Keller zu ihr, zwei Gläser Williams in den Händen, und fragte, ob er sonst etwas tun könne.
»Du musst nichts tun, es reicht schon, dass jemand da ist.«
Boris setzte sich mit überschlagenen Beinen neben sie. Mit dem Bauchansatz, der sich unter dem Schlupfhemd abzeichnete, und der Glatze machte er schon fast einen buddhistischen Eindruck, was seinem Machtstreben in beruflichen Angelegenheiten diametral entgegengesetzt war. »Jemand oder ich?«, wollte er wissen.
Sie hob müde den Kopf. »Darüber sind wir doch hinweg, oder, Boris?« Doch ihre leichte Verärgerung gab ihr die Energie, sich aufzurichten. Das war jetzt wirklich nicht der Moment für diese verblichenen Obsessionen von ihm. »Würdest du mir die Fotoalben aus dem Regal holen, bitte?«, lenkte sie ab.
Boris erhob sich und brachte mehrere in Leder gebundene Bücher zum Sofa. Und Fleur Rochat begann, durch das Leben ihrer Tochter zu blättern. Die Jahre, nur von feinem Pergamentpapier getrennt. Der Morgen, an dem Iva ihren ersten Milchzahn verlor. Die Ferien, in denen sie schwimmen lernte und von sommerwarmen Felsen in die Tiefe sprang. Ihr erster Schultag, an einem blauen Augustmorgen. Iva mochte keine hochgekrempelten Ärmel und liebte zu lange Pullis. Sie sammelte die knisternde Folie der Weihnachtsschokolade, die sie mit ihren Fingerspitzen bügelte, bis sie glatt war wie ein Spiegel.
Auf einmal brach die Trauer hervor. Roh und unvermittelt. Weinkrämpfe schüttelten sie, bis sie kaum mehr atmen konnte. »Wie kann es sein, dass ich an diesem verfluchten Abend so nahe bei meinem Kind war und es nicht retten konnte?« Rochat putzte sich die Nase und steckte das Taschentuch in ihren Ärmel.
Keller küsste tröstend ihre Stirn. Seine Lippen fühlten sich warm an. Schuldgefühle krochen in ihr hoch. Sie war viel zu hart gewesen mit Iva, als sie das Interesse am Kunstgeschichtsstudium verlor. Weil sie dort angeblich nicht das lerne, was sie wirklich interessiere.
»Mach dir keine Vorwürfe«, beruhigte Boris sie, als sie ihm davon erzählte. »So wie ich sie kenne, war deine Tochter kein zartes Pflänzchen.« Dabei traten die Grübchen an seinem Kinn hervor, wie sie das auch taten, kurz bevor er lächelte. »Und ich glaube, sie wollte sich an dir reiben.«
Fleur Rochat sank auf dem Sofa zurück. Keine Ahnung hatte er, noch nie gehabt. Aber vielleicht wollte er auch nur verhindern, dass sie gleich wieder losheulte. Denn nichts, nichts war mehr richtig.
Obwohl sie nichts essen mochte, bestellte Boris zwei scharfe Hühnersuppen beim Lieferdienst. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er zu ihr: »Du wirst Kraft brauchen. Jetzt, für die nächsten Tage. Und in zwei Monaten ist die Abstimmung.«
Fleur unterdrückte den Reflex, ihn augenblicklich aus dem Haus zu jagen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie egal mir das ist …«, gab sie zurück. Zu lange hatte sie sich selbst geopfert. Und was war dabei herausgekommen? Urban Utopia war ihr Traum gewesen, ja, aber es würde ihr Iva nicht zurückbringen.
Boris sah sie abwartend an, dann sagte er: »Ich weiß nicht, ob jetzt der Moment dafür ist … Aber es ist schon seltsam, wie Manfred sich verhält.«
»Du meinst, weil er das Telefon nicht mehr abnimmt und sich in diesem Haus voller abstruser Gegenstände verbunkert?«, fragte Fleur Rochat vom Sofa aus.
»Das ist ja nicht wirklich was Neues.« Er setzte sich wieder zu ihr und sah kurz auf sein eigenes Telefon. »Nein, ich meine im Seebad …« Boris ging nochmals alle Gesprächsthemen des Abends durch: die letzten Absprachen zum Finanzierungsplan, der Kredit für Urban Utopia bei der Bank, der Text für die Abstimmungsunterlagen zum Bauvorhaben, die in Kürze verschickt werden würden.
»Stimmt schon, er wirkte noch fahriger als sonst«, sagte Fleur nachdenklich. »Kanntest du die Leute am Nebentisch, die er noch auf einen Digestif eingeladen hat?«
Boris schüttelte den Kopf. »Auf mich wirkte es eher so, als hätte er einen Vorwand gesucht, um Zeit zu schinden.« Außerdem hege er den Verdacht, dass Manfred in gröberen finanziellen Schwierigkeiten stecke. »Ich fand es von Anfang an suspekt, dass er Geld aus dem Family Office abgezogen und diesen Trader engagiert hat. Warum alle Sicherheiten aufgeben und derartige Risiken eingehen? Elenor deutete so was an, er hat sich wohl übel verspekuliert.«
»Du denkst, er hatte einen Plan mit der Yacht?«
»Bestimmt wusste er nicht, dass Iva an Bord war. Vielleicht war er auch nur betrunken oder hatte sonst was intus«, sagte Boris und ging zum Adventskranz auf der Kücheninsel. »Klar ist, die Versicherungssumme kann er gut gebrauchen.« Dann zündete er am Adventskranz eine Kerze an, die zischend aufflammte.