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D as Gebäude wachte auf einem Hügel am Stadtrand. Es war nach klaren, einfachen Gedanken gebaut, strebte nach Symmetrie, nach einer geometrischen Unveränderlichkeit, die in Widerspruch zum Chaos in den Köpfen derer stand, die hier auf Heilung hofften. Horden kleiner Spatzen zwitscherten munter in den dichten Hecken und Büschen, die das weitläufige Areal umschlossen und von einem feinen Gespinst aus Raufrost überzogen waren. Elenor Engler saß allein am Frühstückstisch, jemand brachte ihr ein lauwarmes Kännchen Kräutertee und schenkte ein. Sie wusste nicht, wie sie die Scheibe Brot mit Butter und einem Klecks Honig herunterbekommen sollte, die sie sowieso nur genommen hatte, weil er das immer zum Frühstück aß. Tränen tropf‌ten in den Tee, doch das schien niemanden zu stören, wie auch, wenn sich zwei Tische weiter eine Frau, in Bettlaken eingewickelt, die Haare einzeln aus dem Kopf riss und dabei schrille Laute von sich gab.

Zurück in der Kammer. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, eine Zelle, die kleinste mögliche Einheit. Wie sie selbst, dachte Elenor. Sie kippte das Fenster, das sich natürlich nicht vollständig öffnen ließ, und atmete die hereinströmende Luft ein. Sie stand sowieso unter permanenter Beobachtung, daher war der Termin bei der Psychiaterin besser, als den gedämpf‌ten Schritten in den langen Fluren zu lauschen.

»Wie sorgen Sie dafür, dass jemand sicher in Sie verliebt ist?«

»Keine Ahnung«, sagte Elenor, ohne von dem feuchten Taschentuch aufzuschauen, das sie in immer feiner werdenden Fitzelchen auf ihre purpurfarbenen Jeans rieseln ließ.

»Sie sperren ihn bei Wasser und Brot in einen Keller und warten ab, bis das Stockholmsyndrom einsetzt.«

»Versteh ich nicht.«

»Sympathie für den Teufel. Es gibt Opfer, die entwickeln bei einer Geiselnahme nicht etwa Wut oder Angst, sondern Liebe zu ihrem Peiniger.« Die Therapeutin reichte Elenor die Schachtel Papiertücher herüber. »Manchmal glauben sie sogar, nicht mehr ohne ihn leben zu können.«

»Ich wurde ja nicht entführt, nur verlassen«, sagte Elenor, wobei sich ihre Augen mit neuen Tränen füllten. »So banal ist es.«

Bevor die Therapeutin widersprechen konnte, klopf‌te es zweimal kurz hintereinander.