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Z wei Stunden später öffnete sich die Tür zur Arrestzelle surrend. Karl Jost lag zur Seite gerollt auf der Betonpritsche und rieb sich die Augen. Bei der Auswertung der Zeugenaussagen war die Sonderkommission auf drei jugendliche Zeugen gestoßen, die ihn in der Brandnacht schlafend auf der Bank beobachtet hatten. Es gab keinen Grund mehr, ihn weiter festzuhalten.

»Sie können gehen«, sagte Martin.

Zuerst schien der Clochard nicht zu verstehen, dann richtete er sich ruckartig auf. »Und meine Sachen?«

»Die müssen wir in der Asservatenkammer behalten«, sagte Rosa. »Nur, bis wir den Fall abgeschlossen haben«, fügte sie besänftigend hinzu, als sie merkte, wie sich Josts Gesicht unter dem zotteligen Bart verdunkelte.

»Wie soll ich denn ohne meinen Schlafsack die Nächte überstehen? Ohne alles?«, fragte er zutiefst schockiert. »Das können Sie doch nicht machen.«

»Hier werden Sie solange Unterstützung finden.« Sie überreichte ihm eine Liste mit Adressen von Hilfsorganisationen, die sie extra rausgesucht hatte.

Jost warf die Papiere wütend auf den Boden. »Kenn ich.« Er erhob sich schnaufend. »Aber ich will meine Sachen haben.«

Im Gefängnis zu bleiben, schoss es Rosa durch den Kopf, wo es warme Mahlzeiten gab und Heizung, wäre für ihn vermutlich komfortabler. Nicht nur wegen der Temperaturen unter null. Im Obdachlosen-Milieu waren Gewaltdelikte an der Tagesordnung, immer wieder gab es Übergriffe nachts im Schlaf, auf den Bänken, in leeren Parks. Aber Menschen wie Jost schienen erst unter unwirtlichsten Bedingungen aufzuatmen.

Kurz darauf schlurf‌te der Clochard mit eingezogenem Kopf davon, in Richtung Innenstadt. Rosa stand am Rand der Treppe und blickte ihm hinterher, sie dachte an das Löwendenkmal im Hafen, an die hervorspringenden Knochen am Rücken des Steintiers. Ob der Löwe so mager war, weil Bildhauer Eggenschwyler selbst oft auf sein Essen verzichtet hatte, um das Futter für seinen Zoo bezahlen zu können? Sie sah der Gestalt nach, die sich langsam entfernte. Unter der verdreckten Kleidung und den vielen Schichten war auch an Jost nicht viel dran.

Da schnellten plötzlich Gestalten mit Kameras hinter dem Autobahnpfeiler hervor – und schossen Bilder von Karl Jost. Rosa stockte eine Schrecksekunde lang der Atem.

Die medialen Hungerspiele hatten soeben begonnen.