I m Garten war es Winter geworden. Ein paar Schneerosen harrten aus, mit der trotzigen Zähigkeit der Hahnenfußgewächse, und scharlachrot leuchtende Ringelblumen und Kapuzinerkresse. Im Halbschatten der Steinmauer blühte Winterjasmin, nun vom Schein der Laternen beleuchtet. Rosa mischte mit bloßen Händen etwas Kalk unter die Erde und suchte eine Stelle aus. Auch im November behielt sie ihre Gewohnheit bei, nach der Arbeit als erstes kurz in die Beete zu steigen, selbst wenn es um die Jahreszeit bereits dunkel war. Sie zog eine dünne Handschaufel aus dem Werkzeugkorb, den sie zwischen die Beete gestellt hatte, und begann zu graben. Die wurzelnackten Strauchrosen lagen seit dem Morgen in einem Eimer mit Wasser. Die Vorkommnisse des Tages spukten in Rosas Kopf herum. Morgen würden die Zeitungen voll sein mit den Bildern von Karl Jost. Doch selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie den Clochard nicht zurückhalten können, als er sich schimpfend aus dem Staub machte. Rosa ließ den Rosenstock abtropfen und prüfte, ob die Tiefe des Loches stimmte, neben das sie einen Pfahl in den Boden geschlagen hatte, um im nächsten Sommer daran Zweige und schwere Blütenköpfe hochzubinden.
Unwillkürlich stieg Leos Bild in ihr auf. Mit der Regelmäßigkeit eines Kometen tauchte er in ihrer Umlaufbahn auf, wenn sie sich endgültig von ihm lösen wollte. Wie damals, bevor er ins Austauschjahr nach Japan ging und sie ihm dann am Ende doch folgte. All die Male, als sie versucht hatte, ihren eigenen Weg einzuschlagen, weil ihre Lebenspläne nicht zusammenpassten. Früher fühlte sie sich nur schon bei der Vorstellung einer Trennung einsam, hatte Angst, allein in einer gemeinsamen Welt aus Erinnerungen zurückzubleiben. Warum nur hatte sie so lange geglaubt, dass diese nur echt wären, wenn sie mit einem anderen Menschen geteilt wurden? Sie zog mit klammen Fingerspitzen Handschuhe über, um sich nicht an den Dornen des Rosenstocks zu stechen, und schaufelte die Erde zurück. Doch diesmal würde es anders sein. Auch Erinnern und Vergessen hatte etwas von der Arbeit einer Gärtnerin, die entschied, was sie setzte und erntete – und welche Teile auf den Kompost kamen. Zuletzt häufte Rosa einen kleinen Berg Erde um den Pflanzenstock, bis nur noch die Triebe rausschauten. Während andere von einem Dasein stets nah an der Sonne träumten, hatte der Winter für sie schon immer etwas Verzaubertes, Alchemistisches: Die Natur fiel in einen tiefen Schlaf, den sie benötigte, um ihre verborgene Pracht überhaupt erst entfalten zu können. Rosa versuchte, es ihr gleichzutun, und kämpfte nicht gegen die Kälte, sie passte sich ihr an. Wohl wissend, dass die Verwandlung unter der Erde stattfand – und die Kräfte nach der Ruhe zurückkehrten. Überwintern, eine Bewährungsprobe. Nicht nur im Garten. Denn das Leben war kein heller, endloser Sommer.