D ie Auslage des Antikschreiners war über Nacht geschrumpft: Unter einer winzigen blau-weiß-gestreiften Markise lagen im Innern einer Streichholzschachtel Kistchen, nicht größer als ein Kleinfingernagel, mit Apfelsinen und Datteln, mit Baguettes, kleiner als Reiskörner. Es gab Tischchen und Stühlchen aus Papierschnitzeln, an denen höchstens Sorgenpüppchen Platz gehabt hätten. Jede Schachtel im Schaufenster erzählte eine andere Geschichte aus dem Niederdorf. Rosa rückte näher an die Scheibe, bis diese unter ihrem Atem beschlug, dann ging sie hinein. Der Antikschreiner saß an einem langen Nussbaumtisch, der fast den ganzen hinteren Bereich des Ladens einnahm, wo er sonst die frisch restaurierten Möbel ausstellte. Eine Lupe vors rechte Auge geklemmt arbeitete er mit feinen Pinzetten und Pinseln und unterhielt sich nebenbei mit einer Kundin, die sich für die Leuchtbuchstaben an der Wand interessierte. Die fröhlichen Belle-Époque-Lettern hingen schon so lange im Laden, Rosa hatte den Verdacht, dass sie eigentlich unverkäuflich waren, der Antikschreiner es aber mit geschickter Preispolitik umging, dies einzugestehen. Die Kundin, altersmäßig irgendwo zwischen Rosa und ihrer Mutter, hob gerade entschuldigend die Achseln.
»Ich bin erst seit neunzehn Jahren hier im Dörfli.« Ein scheues Lächeln flog über ihr Gesicht. »Lange genug, um zu wissen, dass das nichts ist für wirklich Alteingesessene.«
»Das ist doch schon fast eine Generation«, erwiderte der Antikschreiner und zog die Industriewandleuchte näher zur Tischplatte. Vor ihm lagen unzählige Utensilien verstreut, Stoffreste, Papierreste, bunte Wolle, schimmernde Knöpfe und Perlen, Lackdöschen und Pinsel mit feinen Borsten. Seine gezielten Handgriffe verrieten, dass sich hinter dem Durcheinander eine genaue Ordnung verbarg. Er wandte den Kopf und fragte Rosa, ob die Schachteln ihr gefielen.
»Sie sind fantastisch!«, sagte Rosa und betrachtete fasziniert diejenigen, die noch im Entstehen begriffen waren, eigene Welten auf winzigste Fläche gebannt. »Und was ist mit den richtigen Möbeln?«
»Die Kraft lässt nach«, gab er beinahe entschuldigend zurück. »Wer so alt ist wie ich, sollte lieber ans Verkleinern denken.«
»Das Große im Kleinen zu zeigen ist ja mindestens so schwierig«, erwiderte Rosa, die schon den Geruch nach Bienenwachs und Möbelpolitur zu vermissen begann, der zum Haus gehörte wie die in Stein gemeißelte Jahreszahl über dem Eingang.
»Es bimmelt schon den ganzen Morgen über der Tür. Die Leute scheinen sich mehr für die überblickbaren Dinge zu interessieren.« Es klang fast etwas beleidigt. »Manchmal denke ich, die alten Stühle und die alten Tische interessieren eh keinen mehr.«
»So ein Quatsch«, sagte Rosa mit gespielter Empörung.
»Warst du da mit dabei, beim Brand am Hafen?«
Sie nickte nur.
»Eine üble Sache …« Er wechselte die Lupe gegen eine Brille mit kleinen kreisrunden Gläsern aus. Dann reichte er ihr die Streichholzschachtel, an der er gerade arbeitete. Flammende Dächer, ein münzgroßes Brot und rennende Beine, die aus dem Bild liefen. »Bäckermeister Wackerbold?«, fragte Rosa.
»Bravo!« Er suchte eine neue Schachtel aus dem Korb. »Schenk ich dir.« Er rührte in einem Eierbecher einen Klecks frischen Kleister an, um ein winziges Stückchen Tapete anzubringen.
»Was hat es mit dem Bäckermeister auf sich?« Die Dame mit den Leuchtbuchstaben war zu ihnen getreten und inspizierte die Streichholzschachtel.
»Willst du, Rosa?«, fragte der Antikschreiner.
»Du erzählst viel besser.«
»So ein Quatsch!«
»Na gut.« Rosa räusperte sich, und der Antikschreiner rollte zur Bestätigung mit dem Hocker zur Wand. Erwartung knisterte in der Stille des Ladens …
»Es war zu einer Zeit, als die Abwässer der Limmat noch ihre eigenen Sümpfe bildeten, aus denen müde Inseln hervorlugten. Braune Kanäle schossen aus den Hinterhöfen in den Fluss und spülten weg, was fortsollte: faulige Ausflüsse, Menstruationsblut, Fäkalien und sonstigen Unrat, manchmal auch ein missgebildetes Neugeborenes. Bestialischer Gestank gehörte zum täglichen Leben dazu, ebenso wie sämtliche Gedanken zerfressender Hunger. Um davon abzulenken, wie viel sie selbst besaßen und wie wenig der ganze Rest, bestraften die Mächtigen in Zürich schon nichtige Vergehen drakonisch und veranstalteten dazu regelrechte Volksfeste. Gestrecktes Bier, gepanschter Wein, falscher Fisch, wer sich bei unlauteren Geschäften erwischen ließ, kam an den Hochkran zwischen Rathaus und Wasserkirche, zuerst in den Käfig und später mithilfe eines Flaschenzuges ins Abwasser. Dort landete auch Bäckermeister Wackerbold, nachdem er seine Brote, runde Fladen mit eingeritzten Strichen, zu leicht gebacken hatte. Der Hunger verwandelte sich beim Volk in einen Taumel aus bösem Spott und Zorn. Die pöbelnde Menge bewarf ihn mit Steinen und verdorbenen Eiern und all dem, was in den Kloaken sonst noch so obenauf schwamm. Dazu sangen sie Lieder, aus voller Kehle. Am Ende blieb dem fehlbaren Bäckermeister nur noch, sich mit einem verzweifelten Sprung in die Exkremente zu retten und durch den Sumpf an Land zu kriechen. Der Geruch der Erniedrigung klebte in jeder Pore seines Körpers und bis in die Haarspitzen. Zwar verflog er irgendwann, doch die johlende Menge war in Wackerbolds Kopf eingezogen. Seine Backstube hielt er geschlossen, die Welt wurde ihm fremd und fremder. Wochenlang verschanzte er sich in seinem Haus, gedemütigt und mit schwarz verfärbter Seele. Nur im Schutz der Dunkelheit traute er sich hinaus, um heimlich Reisig und Stroh zu sammeln. Unbemerkt füllte er sein Haus bis unter das mit Holzschindeln bedeckte Dach. Dann wartete er ab. Als der nächste Föhnsturm über die Stadt fegte, war der Tag seiner Rache gekommen: Ein brennendes Streichholz in finsterer Nacht – und das halbe Niederdorf brannte lichterloh.«
»Und seit diesem Tag werden die Häuser hier aus Stein gebaut«, fügte der Antikschreiner hinzu, als Rosa geendet hatte und sich an die glühenden Ohren fasste.