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Z ur gleichen Zeit zog Karl Jost, gut dreihundert Kilometer weiter nordöstlich, einen fast neuen Handwagen über die Kreuzung am Hirschengraben. Die Ampel für die Fußgänger schaltete viel zu schnell wieder auf Rot. Der Fahrer des vordersten Wagens ließ schon den Motor aufheulen, woraufhin Jost wetternd die Faust hob. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen, nicht wegen der Kälte, an die hatte er sich gewöhnt. Aber die Blicke waren kaum auszuhalten. Früher hatten die Leute durch ihn hindurchgesehen, nun wurde er immer wieder angefeindet, vor allem abends, wenn der Alkoholspiegel in der Innenstadt stieg. Wobei der eine oder die andere ihm auch ihr Mitgefühl ausgedrückt hatte. Wenn ihm alles zu viel wurde, setzte er sich ein paar Stunden ins Großmünster. Von der hintersten Bankreihe aus blickte er auf den mit Edelsteinen verzierten Sündenbock im Kirchenfenster, der beladen mit Schuld in die Wüste getrieben wurde. In der Kirche ließ man ihn wenigstens in Ruhe. Dort war er vor zehn Tagen mit einem Koch ins Gespräch gekommen, der ganz in der Nähe arbeitete. Seither stellte er für Jost regelmäßig zur Seite, was die Gäste übrig ließen. Manchmal deckte er ihm auch einen kleinen Tisch, in der hintersten Ecke des Lokals, einmal gab es auch ein Viertelchen Roten dazu. Da wollte er jetzt hin.

Der Clochard versteckte den Ziehwagen hinter einer Mülltonne beim Park, der an den Neumarkt anschloss. Dann zog er seine Kapuze tief in die Stirn und ging die breite, mit Lichtgirlanden und Sternen erleuchtete Gasse hinunter, vorbei am steinernen Kind. Jost mochte den grimmigen Ausdruck, mit dem es von der Fassade herunterblickte, in der einen Hand ein Stundenglas, in der anderen einen Totenschädel. Vor der Tür lag ein Stapel Zeitungen, die jemand für die Abfuhr rausgestellt hatte. Da es in den Blättern um die Jahreszeit oft Gutscheine gab, sah er sie kurz durch. Zum Glück stand zur Abwechslung mal nichts über ihn drin, dafür fiel ihm ein zerfledderter Artikel über eine anstehende Volksabstimmung in die Hand. Selbst ging er seit Jahren nicht mehr zur Urne, brachte ja eh nichts. Die machten sowieso, wie sie wollten. Er war gerade im Begriff, die Zeitung zurückzulegen, als sein Blick an einer Fotografie hängen blieb. Schnell riss er die Seite heraus und steckte sie ein.

Sprachengewirr füllte den Raum, ein fröhliches Babel. »Luft ist von Gott – und Wasser ist von die Stadt«, sagte der Koch. Er setzte das Glas an die Lippen, trank es in einem Zug aus und griff gleich nochmals zur Karaffe. Von der Decke in der Schankstube der Bodega baumelten ganze Schinken, geflochtene Zöpfe mit Chilis und roten Zwiebeln, und aus der moosgrün gekachelten Küche hörte man es brutzeln. Die Zeitungen, die auf Halterungen gespannt an der Wand hingen, hatten um diese Uhrzeit schon Fettflecken.

»Vino Tinto! Salud!«, gab Jost zurück, mehr als ein paar Brocken Spanisch konnte er nicht. Noch nicht. Der Rote schmeckte heute anders als sonst – kräftig und nach Veränderung. Von dem Conejo mit Knoblauch und Olivenöl waren auf seinem Teller nur noch ein paar abgenagte Knochen übrig.

»Ich muss jetzt wieder an die Arbeit«, sagte der Koch und stellte Jost eine Korbflasche mit Wein auf den Tisch im hintersten Winkel der Schankstube. »Wichtige Gesellschaft aus Stadthaus.«

Eine Gruppe in Wintermänteln, rund fünfzehn Männer und Frauen, war eingetreten. Sie entledigten sich ihrer Cashmere- und Seidenschals und hängten sie an goldene Haken.

Zwei Stunden später war ihm der Wein schon ordentlich zu Kopf gestiegen. Von seiner stillen Ecke aus beobachtete Jost die »wichtigen Leute« beim Kaffee, der Kellner ging herum und goss Schnaps in geschliffene Gläser. Dann erhob sich der Clochard und suchte die offene Küche nach seinem Freund ab, doch der schien schon Feierabend zu haben.

Er trat an die lange Tafel. »Die feinen Herrschaften haben sicher ein Gläschen übrig«, sagte er lallend. Als niemand reagierte, fragte er erneut, dieses Mal lauter, woraufhin der Kellner ihn bat zu gehen. Je lauter Jost sprach, umso stiller wurde es an den Tischen.

Dann erhob sich ein jüngerer Mann aus der Gruppe, er hob beschwichtigend die Hände. »Jetzt wollen wir uns alle mal beruhigen. Wo ist das Problem?«

»Sie haben ja keine Probleme, schon klar. Arschloch.« Alle Augenpaare in der Schankstube verfolgten, wie der Clochard wild gestikulierte.

Da wurde es dem Kellner zu viel, er baute sich vor ihm auf. Vielleicht war es etwas in seinen Augen, das Jost kurz zur Besinnung brachte, vielleicht war es auch die Flasche, die er ihm in die Tasche steckte. Schweigegeld, quasi.

Doch bevor er sich zum Ausgang wandte, knallte Jost die zerknitterte Zeitungsseite auf die Tischplatte, so heftig, dass die Espressotässchen auf ihren Untertellerchen erzitterten. »Ihr seid doch alle korrupt. Urban Utopia, dass ich nicht lache. Alles Verbrecher! Warum deckt ihr dieses Pack?« Und dann geigte er den Herrschaften so richtig die Meinung.