R osa schloss die schwere Haustür am Rindermarkt auf. Ihr Magen knurrte seit dem Dreiseenland. Im Grunde reagierte sie auf Beerdigungen immer mit demselben Reflex: dem Wunsch nach Essen, das dem Tod etwas entgegensetzte. Ein Glück, dass sie heute nicht selbst kochen musste, auch wenn sie mit einer halben Stunde Verspätung zu Richis Fondueabend dazustieß. Auf der Mauer unter der Esche brannten Windlichter, und um den gelben Stahltisch saßen der Antikschreiner und seine Frau sowie Richi und sein Partner Erik. Mit um die Bäuche gewickelten Wolldecken stocherten sie vergnügt in flüssigem Käse.
Sie setzte sich gleich dazu, bekam ein Glas Weißwein in die Hand gedrückt und prostete in die Runde. Dann stellte sie sich eine Auswahl an sauer eingelegtem Gemüse, Champignons und gekochten Kartoffeln zusammen – Brot war ihr zum Fondue immer zu schwer – und nahm die erste Gabel.
»Hier, für dich«, sagte Richi und reichte ihr die Holzmühlen mit Piment und Muskat. Die Tischrunde plauderte über Festtagspläne, und Rosa war erleichtert, dass niemand sie etwas fragte und sie einfach essen und zuhören konnte. Auf einmal begannen die Kerzen auf der Mauer, im aufkommenden Wind zu flackern.
»Kürzlich habe ich einen Tisch in Kilchberg ausgeliefert …«, sagte der Antikschreiner und spießte eine geschnittene Birne auf.
»Ich dachte, du hast aufgehört?«, fragte Rosa erfreut dazwischen.
»Bei alten Kundinnen mache ich eine Ausnahme. Auf jeden Fall, die hat mir erzählt, es gibt dort ein verlassenes Haus, da soll es spuken. Unerklärliche Lichter und Geräusche und so was. Mittlerweile haben ein paar Nachbarn eine Art Bürgerwehr gebildet, die sich nachts auf die Lauer legt. Weil sie das Gefühl haben, die Polizei unternehme zu wenig.«
»Das finde ich ehrlich gesagt viel beängstigender«, sagte Erik, der als leitender Arzt im Universitätsspital arbeitete und die Grenzen der Vernunft eher eng steckte. »Wenn Menschen das Gesetz selbst in die Hand nehmen und behaupten, es ginge darum, die eigenen Leute zu schützen. Als Nächstes wenden sie sich dann gegen alle, die ihrer Ansicht nach nicht dazugehören …«
»Und vor allem, was wollen sie denn machen, wenn sie ein Gespenst finden? Es in ein Astloch des Dachbalkens sperren und mit einem Weinkorken verstopfen?«, fragte die Frau des Antikschreiners. »Die Ghostbusters von Kilchberg …«
Im allgemeinen Gelächter steckte Richi das Telefon weg, auf dem er gerade noch eine Nachricht getippt hatte, und sagte: »Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick für ein kleines Spiel?« Er drehte den Flammen unter dem Caquelon die Luft ab und kam mit einem schmalen Büchlein zurück. Die Fragebögen von Max Frisch, vermutete Rosa. Sie hingen viele Jahre lang als Poster über seinem Bett, und es gehörte bei Richi nach einem gemeinsamen Essen schon fast dazu, sich die eine oder andere Frage daraus zu stellen.
»Also, Rosa, zuerst eine für dich: Was macht Sie an Kindern traurig? «, las Richi vor. »Ähnlichkeiten mit der Mutter?« Er machte eine Kunstpause. »Oder Ähnlichkeiten mit Ihnen?«
Rosa zuckte verlegen zusammen. »Solange es keine Ähnlichkeiten mit meiner Mutter sind.« Es war immer dasselbe mit diesen Fragen. Keine war unverfänglich. Und diese traf bei Rosa wieder einmal einen wunden Punkt.
Der Antikschreiner hatte ihre Reaktion beobachtet. So müde, wie sie war, musste ihr Gesicht wie ein offenes Buch sein. »Magst du deine Mutter nicht besonders?«
»Natürlich mag ich sie. Sie ist meine Mutter! Aber es ist nicht ganz einfach mit ihr.« Rosa nippte am Glas. »Doch vielleicht ist zu Hause bei uns Zambranos da, wo es nicht ganz einfach ist.«
»Ist das nicht in jeder Familie so?«
Sie lachten. Und stürzten sich in eine angeregte Diskussion darüber, ob Heimat nun ein Dorf, eine Stadt oder ein Quartier, ein Sprachraum, ein Erdteil oder eine Wohnung sei. Da klingelte es auf einmal an der vorderen Tür.
»Erwartest du noch jemanden?«, fragte Rosa Richi. Ihr bester Freund fasste sich ans Ohrläppchen. Eine leise Vorahnung beschlich sie, die gleich darauf von wohlbekannten Schritten bestätigt wurde. Leo stellte eine Flasche italienischen Wein auf den Tisch. Rosas Lieblingswein, ein Lambrusco aus der Emilia-Romagna.
»Na dann«, sagte Rosa, was einer Kapitulation gleichkam, »will ich mal ein Glas holen.«
»Nein, ich geh …«, warf Richi ein.
Doch sie war schon unterwegs. »Ich bin froh, kurz Ruhe von euch zu haben«, gab Rosa zurück.
Die Tischrunde lachte wieder.
Dabei hatte sie es ernst gemeint.
Durch das angelehnte Küchenfenster lauschte Rosa hinaus, während sie nach etwas Essbarem suchte, das zum Wein passte. Sie gab Oliven aus der eisernen Reserve in die eine Schale, ein paar Pistazien, Walnüsse und Mandeln mit Rauchsalz in die andere, dann streute sie getrocknete Sauerkirschen darüber und fächerte Apfelringe am Rand auf, bis sie aussahen wie Blüten. Das Gespräch verlief angeregt. »Tatsächlich? Interessant …« Leo animierte sein Gegenüber mit kurzen, prägnanten Bestätigungen zum Erzählen. Ein rhetorisches Mittel, das sie selbst häufig verwendete. Warum suchte sie auch nach siebzehn Jahren noch immer die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen? Und warum fiel es ihr nun so schwer, sich auf Martin einzulassen? Sie nahm sich vor, weniger zu grübeln und mehr zu handeln. Und begann gleich damit, indem sie die Schälchen auf einem Tablett verteilte, ein Untertellerchen für die Oliven dazustellte – und hinausging.
Später an diesem Abend saß sie allein mit Leo in der Küche. Sie sprachen über dies und das, leichtfüßig und dennoch verdichtet, mit kleinen Einwürfen und Klangfarben, die sich aufeinander bezogen, eine eigene Sprache, in der sie gemeinsam zu Hause waren. Als sie merkte, wie er versuchte, das Gespräch auf ein gemeinsames Leben in Italien zu bringen, ließ sie es geschehen. Und die Möglichkeiten wurden plötzlich zu Bildern.
»Sind wir es unserer Geschichte nicht schuldig, es wenigstens zu versuchen, Rosa?«, fragte er irgendwann.
Sie dachte an das Liebesschloss auf dem Grund der Limmat. Es musste ja nicht gleich per sempre sein, aber vielleicht wenigstens für heute Nacht? Eine wohlige Schwere breitete sich in ihrem Kopf aus, die vom Wein herrührte und von den großen Fragen, die im Raum standen, aber nicht nur. Leo verteilte den letzten Rest aus der Bialetti und beugte sich an ihr vorbei, um nach der Zuckerdose zu greifen. Sein Geruch strömte ihr in die Nase. Die vertraute Mischung aus Kaffeebohnen und Frühlingswald, unterlegt von einer feinen, kaum wahrnehmbaren Schweißnote … Sein Blick blieb an ihrem hängen. Und während er sie küsste, schien das Licht der Küchenlampe in warmen Farbtönen durch Rosas geschlossene Lider. Nach ein paar Minuten, oder war es eine Stunde, hob er sie hoch. Trug sie die knarrende Treppe nach oben, bei seiner Körpergröße gar nicht so einfach, ohne sich den Kopf an den tiefen Türrahmen anzustoßen. Ihr Atem beschleunigte sich, und was zuvor unendlich langsam geschah, ging plötzlich ganz schnell. Seine Mimik veränderte sich, verborgene Gesichter huschten vorüber wie Wolken im Wind. Sie sah den Jungen, der er einmal war. Sie sah den Greis, der er einst sein würde. Und das eine Gesicht, in dem alle anderen aufgingen.
Rosa wusste nicht, was die Zeit noch bringen würde, aber jetzt war da bloß warme, prickelnde Haut. Und als es in ihrem Körperinneren zuckte, gab es nur noch eine dahinströmende Ewigkeit, die keine Richtung mehr kannte.