D ie Bise peitschte über den Léman, geisterhafte Schaumkronen vor sich herjagend. Tief hängende Wolken zogen unter einem bleichen Mond zu den Jurahängen auf der anderen Seeseite, die sich vom Dunkel des Nachthimmels abhoben. Fleur fühlte den Sturm, der anders war als in Zürich, der See hatte hier etwas von einem Meer, tosend und wild und lebendig. Seit Iva tot war, hielt sie nachts Wache für ihre Tochter, deren Verlust jede Sekunde und jede Stunde des Tages in ihr brannte. Wenn sie dennoch einschlief, starb ihre Tochter beim Aufwachen ein weiteres Mal. Jedes Mal, wenn sie die Augen aufschlug und die Erinnerung zurückkam. Sie lehnte sich am Hang in den Wind, bis sie durchnässt war von den kalten Graupelschauern. Dann betrat sie die Villa durch den Dienstboteneingang.
Schatten huschten über die blauvioletten Blüten auf der Tapete in der Bibliothek. Sie schob einige Bücher zur Seite und griff hinter das Regal. Die Totenmaske hatte nicht viel gemein mit dem Antlitz ihrer Tochter, wie sie es kannte. Normalerweise war so eine Maske als Erinnerungsstück gedacht, um den letzten Moment vor der Auflösung festzuhalten. Damit auch dann noch etwas blieb, wenn sich der Körper verflüchtigt hatte. Heute hatten sie Ivas Asche in den See gestreut. Rochat fuhr mit den Fingerkuppen die Gesichtszüge ihrer Tochter nach, gezeichnet von der Zerstörungskraft der Flammen. Sie hatte einiges mehr zahlen müssen, um die Skepsis des Bestatters zu überwinden. Doch am Ende hatte er getan, worum sie ihn gebeten hatte, und die Gipsabdrücke angefertigt. Sie spürte, wie erneut kalte Wut in ihr zu schwelen begann. Nach dem Theater auf der Toilette heute würde Elenor nicht auf die Idee kommen, dass es eine Kopie des Schlüssels gab. Und sie würde es auch nicht merken, dort oben bei den Irren auf dem Hügel vor der Stadt. Das Gehirn rekonstruierte seine eigene Wahrnehmung, so wie es die Rückseite einer Hohlmaske trotzdem als ein hervorstehendes Gesicht sieht. Weil es sich bei zweideutigen Darstellungen bekannter Gegenstände immer für die vertrautere Version entscheidet. Und das wahnhafte Denken war bei Manfred sowieso schon angelegt.
Bald schon, bald würde sie ihn wieder heimsuchen.