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M orgenlicht fiel ins Zimmer. Rosa hörte, wie Leo sich behutsam bewegte, und versuchte, weiter so zu atmen, als würde sie tief schlafen. Auch noch, als sie sein Gewicht auf der Bettkante spürte, seinen Blick und die Wärme seiner Hände. Er ging zum Stuhl, nahm leise seine Kleider und verschwand in der Küche. Das Geräusch von plätscherndem Wasser drang die Treppe hinauf und bald darauf der Duft von frisch aufgebrühtem Darjeeling.

»Ich weiß, dass du längst wach bist«, sagte Leo und stellte kurz darauf klappernd das Tablett ab. Er war gekämmt und hatte ein frisches Hemd angezogen, das er vom selben Ort hergezaubert haben musste wie den milchweißen Berg, der auf dem Teller wackelte: Petit-suisse aus der Normandie, dazu filetierte Mandarinen, Zimtpulver, weißer Sesam, Blütenhonig und dunkle Brombeermarmelade.

»Wo hast du denn die gefunden?« Rosa blinzelte den Schlaf aus den Augen und zog das feuchte Papierchen weg, wie sie das schon als Kind bei ihrer Yaya gemacht hatte, während der großen Ferien in Südfrankreich.

»Das ist mein Geheimnis. Aber schau –« Er schlug die Vorhänge zurück. »Wintersonnenwendlicht. Jetzt fällt es jeden Tag leichter, morgens aufzustehen.«

Rosa versteckte den Kopf unter dem Kissen, wodurch das Tablett ins Wackeln geriet. »Weiße-Neonröhre-am-Himmel-Licht trifft es schon eher.«

»Ein Kaffee bei Manon hilft.« Er zog die Decke ein paar Handbreit zurück. »Oder auch zwei.«

Als sie sich eine knappe Stunde später vor der Predigerkirche verabschiedeten, schlugen die Glocken gerade elf Uhr. Und wie immer am Sonntag standen danach die Gespräche eine Viertelstunde lang still, weil das Geläut der Altstadtkirchen so ohrenbetäubend war. Doch statt zu sprechen, küsste Leo sie einfach unter den Platanen und den nistenden Saatkrähen. Mit geröteten Wangen löste Rosa sich von ihm. Sie musste zur Arbeit.

Auf dem Weg zu ihrem Rad, das vor dem Buchladen am Rindermarkt stand, sah sie eine dunkle Lederjacke in einer Gasse verschwinden. Im ersten Moment war sie sicher, dass es Martin gewesen war. Doch er wohnte am anderen Ende der Stadt, und sie waren ja – sie sah auf die Uhr – in zwanzig Minuten auf der Wache verabredet. Sie versuchte dennoch, ihn kurz anzurufen. Aber er nahm nicht ab.

»Nein, warum denn?« Martin tat überrascht, als sie ihn fragte, ob er heute einen Spaziergang in der Altstadt gemacht habe. Doch sein Fuß wippte ungeduldig unter dem Schreibtisch.

»Ich hab dich gesehen, das war keine Fata Morgana.«

»Hier, der Rapport von der Trauerfeier. Hab ich eben fertiggeschrieben«, sagte Martin.

»Du weichst vom Thema ab.« Rosa gab noch nicht auf.

»Es gibt im Moment nur ein Thema. Nämlich: Warum musste Iva Schwarz sterben? Ryser findet das Gespräch sehr interessant, das du auf der Toilette belauscht hast. Sie will wissen, warum Rochat ihren Geschäftspartner für einen Mörder hält.«

»Weil ihre Trauer so eine Richtung erhält? Einen Schuldigen, der vom eigenen Schmerz ablenkt?«, mutmaßte Rosa.

»Was auch immer der Grund ist, wir sollen es herausfinden. Übrigens gibt es Neuigkeiten von den Brandermittlern: Die Kraftstoff‌leitung auf der Amethyst ist definitiv manipuliert worden. Die Kollegen haben wirklich eine Glanzleistung vollbracht. Unter all dem Schrott, der im Hafen gefunden wurde, konnten sie nun doch ein abgeschnittenes Teil davon identifizieren.«

»Irre.« Rosa schüttelte staunend den Kopf. »Also tatsächlich Brandstiftung …«

»Brandstiftung mit Todesfolge, wenn nicht gar vorsätzliche Tötung«, führte Martin ihren Gedanken zu Ende. Er habe jetzt vor, sich mit ein paar Kollegen nochmals die Kommunikation und sämtliche Datenspuren auf dem Rechner von Iva Schwarz vorzunehmen. »Ryser meinte, du sollst in der Zwischenzeit die Aufzeichnungen unserer Vernehmungen sichten. Die von der letzten Woche, als du nicht da warst.« Er sah ihr in die Augen, sein Gesichtsausdruck war mürrisch. »Anscheinend ist es ihr doch wichtig, dass du mit an Bord bleibst. Nicht nur bei diesem Fall.« Dann stand er auf und schnappte sich seine Lederjacke vom Haken. Ein knapper Abschiedsgruß, und weg war er.

Rosa blieb in Martins Büro zurück. Sie zerknüllte mit glühenden Wangen ein Blatt Papier und warf es durch den Ring des Basketballkorbs an der Tür. Was für ein heilloses Durcheinander – und das drei Tage vor Weihnachten.