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D ie Stimme hinter der Gegensprechanlage verstand nichts. Rosa Zambrano wartete, bis die Trambahn vorbeigerauscht war. Und erklärte erneut, warum sie hier war. Schließlich ging der Schlagbaum doch hoch. Im unterirdischen Parkhaus des Medienkonzerns stieg sie aus dem Wagen und sah sich sorgfältig um, wie sie es versprochen hatte, sicherheitshalber. Doch es war niemand sonst auf der Etage. Rasch nahm sie den Lift und fuhr ohne Halt hinauf ins siebte Stockwerk des hölzernen Skelettbaus.

Ein paar Minuten später stand Rosa mit Clara Caduf‌f auf einer leeren Terrasse. Graublaue Rauchfahnen wehten aus den Kaminen, Schnee tropf‌te von der Dachrinne. Die Journalistin hatte sich überraschend bei Rosa gemeldet. Stellas Worte hatten ihre Wirkung offenbar nicht verfehlt.

»Stefan Balz?« Rosa schüttelte ungläubig den Kopf. Der mit der Fischaugenbrille, wer hätte das gedacht.

»Werde ich aussagen müssen?«, fragte Caduf‌f. Milchiges Licht schien auf ihr blasses Gesicht mit den feinen Muttermalen.

»Wenn wirklich er es war, der Ihnen vertrauliche Informationen durchgestochen hat …«

»Ich habe Dokumente, die das beweisen.«

»Denken Sie, die Staatsanwältin war darüber im Bild?«

»Nein. Er hat wohl auf eigene Faust gehandelt. Und ich war froh über die Titelseite. Wissen Sie, hier werden im Quartalstakt Leute entlassen.«

»Verstehe.« Rosa wusste, dass der Medienkonzern, zu dem auch der Stadt-Anzeiger gehörte, in den letzten Jahren geschluckt hatte, was es im Zeitungsgeschäft zu schlucken gab. Eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Wäre da nicht eine Leiche im Keller: der Journalismus. Die Verlegerfamilie wuchs mit jeder Generation an. Und könne, hieß es hinter vorgehaltener Hand, den Lebensstil der immer zahlreicheren Erben nur mit einer kompromisslosen Reduktion der Kosten aufrechterhalten. So war die Arbeit zu einem regelrechten Stuhltanz verkommen: Jeder wollte einen freien Platz ergattern, wenn die Musik stoppte.

»Was mit Karl Jost passiert ist, hat mich ziemlich mitgenommen. Ich war zuerst felsenfest überzeugt, dass er den Brand gelegt hatte. Der Feuerteufel aus dem Tösstal, es passte alles so gut zusammen. Aber letzten Endes passte nur, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war.« Caduf‌f zog ein zerknülltes Taschentuch aus der Innentasche ihres Trenchcoats. »Ich habe die letzten Tage recherchiert. Er wollte weg aus Zürich, nach Südamerika. Hatte offenbar schon ziemlich konkrete Reisepläne. Das weiß ich von einem Freund von Jost, er kocht in der Spanischen Bodega

»Tatsächlich?« Rosa hob eine Augenbraue. »Vor ein paar Wochen war Jost noch komplett mittellos. Sein Hab und Gut befindet sich immer noch bei uns in der Asservatenkammer.«

Die Journalistin schnäuzte sich. »Im Stadtparlament gibt es seit seinem Tod Gerüchte, in den Gängen wird getuschelt.« Es begann damit, erklärte Caduf‌f, dass der Clochard in ein Weihnachtsessen von Parlamentsmitgliedern reingeplatzt sei und sich gebrüstet habe, er wisse, was in der Brandnacht am Hafen passiert sei. Er behauptete, in der Zeitung zwei Männer wiedererkannt zu haben, die bei der Städtebaupolitik groß mitmischten. »Der eine ist Manfred Engler, der mit dem Boot, auf dem die Leiche gefunden wurde. Und der andere heißt Boris Keller. Die beiden Mit-Initianten von Urban Utopia, da ist ja in ein paar Wochen Abstimmung.« Daraufhin hätten einige Parlamentarier begonnen, Erkundigungen einzuziehen. Leute am rechten Rand des Gemeinderats, die schon immer gegen das Projekt waren, weil sie den alten Tunnel viel lieber wieder für den Autoverkehr nutzen würden als für Fahrräder – wie übrigens auch große Teile des Kantonsparlaments, da gebe es zwischen Stadt und Kanton Meinungsverschiedenheiten. Auf jeden Fall stießen sie bei ihren Recherchen offenbar auf Ungereimtheiten bei der Finanzierung von Urban Utopia. Nun forderten sie eine politische Untersuchungskommission, um das Vergabeverfahren zu durchleuchten. Die Journalistin blickte auf die schlammbraune Sihl hinab, die weiter vorne beim Hauptbahnhof unter den Gleisen verschwand. »Und mittendrin die Nachricht, dass derjenige, der den Stein ins Rollen gebracht hat, auf offener Straße erschlagen wurde. Ich schreibe gerade ein Porträt über Lisa Sulzer.« Caduf‌f verschränkte die Arme. »Sie ist nervös.«

Rosa löste ihren Blick von dem an den Rändern gefrorenen Fluss. »Das wäre ich an ihrer Stelle auch.«